Befreit vom Glückvorstadt

Komplizierter als Schach: Bridge

In der Reischachstraße 3, wo Wienfluss und Donaukanal aufeinandertreffen, richtet der Wiener Bridge-Club zehn Kartenturniere pro Woche aus. Mareike Boysen (Text) und Nina Strasser (Fotos) haben die denkmalgeschützten Räumlichkeiten besucht.

Achtung, ich schreie gleich», sagt ­Marianne Soukup mit sonorer Stimme, als sie auf dem Fischgrätenparkett im Vorraum der Altbauwohnung zwischen zwei offenen Flügeltüren Stellung bezieht. An einigen der quadratischen Tische in den Räumen dahinter herrscht Aufregung. Wie er, um Himmels willen, auf die Idee gekommen sei, im dritten Zug den Herz-König auszuspielen, obwohl sie doch die Gabel in der Hand gehabt habe, will eine Frau im jüngeren Seniorenalter von ihrem Spielpartner und Ehemann wissen. «Das war kein Bridge», sagt eine andere immer wieder zu ihrer Partnerin und schüttelt dabei den Kopf. Soukup, die als Turnierleiterin bestellt worden ist, brüllt den Beginn der dritten von acht Runden ein.

32 Paare haben sich für das Turnier an diesem Freitagnachmittag beim Wiener Bridge-Club vorangemeldet, schließlich hat man 23 Tische mit jeweils vier Spieler_innen besetzen können. Soukup, deren Hauptaufgabe das Sanktionieren von Regelverstößen ist, tritt dafür selbst als Teil eines Duos an. Gespielt wird auf grünen Tischdecken und vor Wandverkleidungen aus indischem Zitronenholz, gewaltigen Platten aus Carrara-Marmor, unter Kassettendecken und neben gläsernen Messingkästchen. 1913 richtete der Architekt Adolf Loos die Wohnung für den damaligen Eigentümer, den jüdischen Industriellensohn Emil Löwenbach, und dessen Frau Ida ein. In der großen Spiegelanrichte des ehemaligen Speisesaals sind heute Bridge-Pokale ausgestellt. Das Turnier dauert dreieinhalb Stunden, zwischendurch sind nur kurze Pausen eingeplant. Die clubeigene Kantine serviert auf Wunsch Sekt, das Stück Sachertorte gibt es für 2,80 Euro.

Kostenfragen.

«Bridge ist nicht elitär, denn es ist nicht teuer», sagt Clubobmann Josef Paulis. An der Empfangstheke entnimmt er 23 Plastiksackerln die eingesammelten Geldmünzen und dokumentiert die Einnahmen für die Buchhaltung. Zwei Euro beträgt das Nenngeld für jede Turnierteilnahme, 160 Euro der jährliche Mitgliedsbeitrag. «Und auch der ist in Einzelfällen verhandelbar», sagt Paulis. Was der Verein allerdings aufzubringen habe, sei die Miete für die 500 Quadratmeter große Wohnung. «Ab 1968 wurde hier einmal pro Woche in einem Raum gespielt, seit 1999 sind wir Hauptmieter und zahlen an die Wiener Kaufmannschaft 5300 Euro im Monat.» Paulis hat die Akademie für Recht, Steuern und Wirtschaft und eine Freimaurerloge als Untermieter gewonnen, außerdem finden hier immer wieder Geburtstagsfeiern und Hochzeiten statt. «Dass die Räumlichkeiten seit 2012 unter Denkmalschutz stehen, hat sehr zu unserer Bekanntheit beigetragen», sagt er.

Paulis ist seit 1974 Mitglied des Bridge-Clubs und seit mehr als 20 Jahren ehrenamtlich im Vorstand tätig. «Wenn die Kinder groß geworden sind oder wenn mit der Pension der Job wegfällt, stellt sich bei vielen eine gewisse Leere ein», sagt er. «Wer dann mit Bridge beginnt, ist nie wieder allein.» 17 Clubs gibt es in Wien; in allen großen Städten Europas, in den USA, in China und Australien wird gespielt. «Das einzige Problem beim Bridge», räumt Paulis ein, «ist, dass man es lernen muss.» Jedes Jahr im Herbst beginnt daher in der Reischachstraße ein dreiteiliger Kurs für Anfänger_innen, der sich an den Standards des Österreichischen Bridgesportverbands orientiert. «Nach einem Jahr kann man Küchenbridge spielen», sagt Paulis. Wer besser werden will, besucht weiterführende Kurse zu Einzelaspekten, besorgt sich Literatur und tauscht sich aus. «Am besten ist, man lernt mit einem festen Partner.»

Turnierregeln.

Streng reglementiert ist beim Turnierbridge bereits die Phase vor der eigentlichen Spieleröffnung. Die 52-teiligen Kartensätze, die ein Computerprogramm durchmischt und auf die gegnerischen Paare Nord und Süd sowie Ost und West aufgeteilt hat, werden Plastikboards entnommen. Die folgende Lizitation, eine Kontraktersteigerung, legt fest, wer als Alleinspieler_in gegen das gegnerische Paar antritt und damit über die eigene und die offen ausgelegte Partner_innenhand verfügt. Außerdem wird entschieden, welche Farbe als Atout, also Trumpf, gilt, und wie viele Stiche von 13 möglichen nötig sind, um das Spiel zu gewinnen. Wer wie hoch steigern darf, gibt die eigene Hand vor: Für Ass, König, Dame und Bube sind absteigend jeweils vier bis ein Punkt zu vergeben. Das ersteigerte Spiel schließlich hat einen bestimmten Wert, der je nach Ausgang Alleinspieler_in und Partner_in gutgeschrieben oder abgezogen wird.

«Das Faszinierende am Turnierbridge ist, dass Kartenglück keine Rolle mehr spielt», sagt Paulis. Nach jeweils drei Partien zögen die Partner_innen Ost und West an den nächsthöheren Tisch um, während Nord und Süd sitzen blieben. Die Kartenboards dagegen wanderten in umgekehrte Richtung. «Am Ende des Turniers haben also alle mit allen Austeilungen gespielt – und dabei unterschiedliche Ergebnisse erzielt. Dann habe ich ein Gewinnerpaar auf Nord und Süd und eines auf Ost und West.» Somit, erklärt Paulis, sei ein Turnier auch mit schlechten Karten zu gewinnen, zumal die eigentlichen Konkurrent_innen mit den gleichen schlechten Karten spielten. «Bridge ist ein Denksport», sagt er, «und es ist komplizierter als Schach.»

Internationales Parkett.

Beim Turnier am Vortag, das Paulis gemeinsam mit seinem Partner auf einem Platz im Mittelfeld abgeschlossen hat, haben beide zwei Meisterpunkte für die österreichische Rangliste erworben. Nach dem ersten Quartal 2018 lag Paulis mit 28.864 Punkten auf Platz 701, der Erste Jan Fucik steht bei knapp 1,6 Millionen. Ein Blick auf diese Rangliste verrät außerdem, dass beinahe 50 Prozent der Top-100-Spieler_innen darin mit akademischem Titel eingetragen sind. – Ein bisschen elitär scheint die Bridge-Szene doch zu sein.

Für professionelle Spieler_innen werden nationale und internationale Turniere veranstaltet. Mediale Aufmerksamkeit erregten zuletzt die Senioren-Team-Weltmeisterschaften 2013, da den Deutschen Entscho Wladow und ­Michael Elinescu vorgeworfen wurde, den Sieg durch einen geheimen Husten-Code errungen zu haben. Nicht nur die beiden Spieler, auch einige Zeitungen sprachen von einer Rufschädigung. Ein Problem, das Paulis nicht tangiert: «Bridge spielt man im Club nicht des Geldes oder Ruhmes wegen, sondern um sein Hirn zu schulen.»

Mit einer Ausnahme allerdings: Besonders geübte Hobbyspieler_innen bieten sich im Club für einen zweistelligen Geldbetrag als Partner_innen für Turniere an. «Das kann sehr sinnvoll sein, wenn man etwas lernen will», sagt eine Spielerin an Tisch 1. «Allerdings wollen viele belehren, ohne sich selbst auszukennen. Gerade die Männer.» Ihre Partnerin sieht sich im ehemaligen Herrenzimmer um. «Mein Sohn hat einmal gesagt, wir Bridge-Spieler seien in Wirklichkeit gar nicht so, wie man sich uns vorstelle. Nämlich weniger nobel und weniger höflich.» Als es vom Nebentisch «Nicht so laut!» herüberzischt, löst das vor allem ungläubiges Gelächter aus.