Anti-elitäre KontinuitätArtistin

Verloren geglaubte Kunstschule Wien im Sandleitenhof wiederbelebt

Drei Künstlerinnen wagen das Unmögliche – und sind leidenschaftlich genug, um es in die Möglichkeitswelt zu verschieben. Gerlinde Thum, Barbara Höller und Eliane Huber-Irikawa lassen die traditionsreiche Kunstschule Wien, vor 61 Jahren als eine Art anti-elitäre Gegenakademie gegründet und im Vorjahr durch die Politik der Kultursubventionskürzungen zu Tode gebracht, wiederaufleben. Sandleiten soll der Standort der revitalisierten Einrichtung sein; nichts Besseres könnte dieser ehemaligen Musteranlage des Roten Wien passieren, deren Infrastruktur den Bach hinuntergegangen ist. Von Robert Sommer (Text) und Mehmet Emir (Fotos).Der Sandleitenhof in Wien-Ottakring ist eine der gelungensten Baukomplexe des «Roten Wien». Man wähnt sich in einer Stadt in der Stadt, in einer proletarischen Stadt im Rahmen einer bürgerlichen Stadt. Das logische Zentrum ist der Matteottiplatz, nach einem italienischen Revolutionär benannt. Apropos Italien: Der Platz verfügt über einen mediterranen Touch. Gänzlich unmediterran ist nur das fehlende Leben auf dieser Piazza. Die beiden Kaffeehäuser begnügen sich mit minimalistischen Schanigärten und scheinen in vorauseilendem Gehorsam den Lärm, den das Leben macht, zu vermeiden, indem sie zum Beispiel um 22 Uhr zusperren – zu einer Zeit also, in der in anderen Städten erst die nächste Nacht der permanenten Party beginnt.

Einer der Lokalbesitzer weiß über unglaubliche Metastasen des Lärmschutzwahns zu berichten. Das plätschernde Wasser des Matteotti-Brunnens, der die Assoziation «mediterran» geradezu aufdrängt, werde bei Einbruch der Dunkelheit durch Abschalten der Pumpe ruhiggestellt, denn spätestens ab 22 Uhr ist der Platz ein Friedhof der Visionen, in dem – strenger als in wirklichen Friedhöfen – das Glucksen und Gurgeln und Plätschern als Höllenlärm denunziert wird.

Das Shoppingcenter, das der roten Gemeindebauanlage direkt vor die Nase gesetzt wurde, hat dem Matteottiplatz die tödlichsten Wunden beigefügt: nirgends am Platz ein Geschäft, wo man sein Geld anbringen könnte. In geführten Sandleiten-Spaziergängen, veranstaltet von der soziokulturellen Stadtteilinitiative SOHO in Ottakring, richtet sich der Fokus immer auch auf die 75 Geschäftslokale und 58 Werkstätten, die in den 20er- und 30er-Jahren des vorigen Jahrhunderts die Erdgeschosszonen der Kommunalwohnanlage zu Zonen des Konsums, der Begegnung, des urbanen Lebens machten. Heute sind die Erdgeschosszonen fast aller «Proletarierpaläste» des Roten Wien nicht anziehend, sondern abweisend, auch deshalb, weil die wenigsten wissen, was hinter den oft permanent geschlossenen Rollläden gelagert wird.

Elektropathologisches Museum seit 12 Jahren leer

Unter solchen Verhältnissen kann die Nachricht, die wieder auferstandene Kunstschule Wien habe ihr Headquarter in der in Platznähe befindlichen «Denkwerkstatt» (Rosenackerstraße 14) bezogen, als Hoffnungsbotschaft begrüßt werden. Gemeinsam mit dem Kunst- und Stadtteilprojekt SOHO in Ottakring, dessen Kooperationspartnerin sie ist, will die Kunstschule Wien Neu zur Wachküsserin einer heute nur noch von ihrer rot leuchtenden Vergangenheit lebenden «Stadt in der Stadt» werden. Wer Sandleiten wachküssen will, muss öffentliche Räume besetzen, und davor schrecken Eliane Huber-Irikawa, die Vorsitzende des Trägervereins der Kunstschule, und Gerlinde Thuma, die Direktorin, nicht zurück.

Besonders begehrliche Blicke werfen sie auf den seit mehr als zehn Jahren leerstehenden Gebäudekomplex des Elektropathologischen Museums neben dem Matteottiplatz. Für stadthistorisch Interessierte: Die Gründung der Elektropathologie als eigenständiges Forschungsgebiet ist eng verbunden mit der Person Stefan Jellinek (1878–1968), der als Gerichtsmediziner ab 1898 begann, alle ihm bekannt gewordenen Strom-Unfälle genau zu dokumentieren. Um die Jahrhundertwende gründete er das Museum, das 2000 Ausstellungsobjekte umfasste, darunter Feuchtpräparate von Stromunfallopfern. Diese sind heute in der Pathologisch-Anatomischen Sammlung im Narrenturm zu sehen.

In Zukunft könnten in diesem Haus andere Aspekte des Pathologischen thematisiert werden: etwa die krankhafte Weigerung, bestehende Normen in Frage zu stellen. Wenn die demokratische Selbstverständlichkeit, Normen – etwa die Spaltung der Städte in Reich und Arm – als menschengemacht und ergo veränderbar zu begreifen, von der Politik nicht mehr vermittelt wird, ist die Kunst gefordert, die Idee der Veränderbarkeit der Welt aufrechtzuerhalten. Eliane Huber und Gerlinde Thum stellen sich dieser Herausforderung. «Die Arbeit in der alten Kunstschule hat uns politisiert», konzedieren sie. Direktorin Gerlinde Thum erwähnt im Augustin-Gespräch das Buch von Hanno Rauterberg «Die Kunst und das gute Leben» (Suhrkamp-Taschenbuch 2015), dessen Lektüre sie gerade «packe». Rauterbergs Polemik gilt dem Phänomen, dass in der Kunst nur noch ein Gesetz zu gelten scheint: das des Marktes. Selbst Künstler_innen, die gerne für sich eine kritische Haltung in Anspruch nehmen, finden nichts dabei, einer «neohöfisch auftretenden Geldelite zu Diensten zu sein». Statt Verweigerung sonne man sich in den Insignien der Macht. Die Fragen, die sich der Autor stellt: «Welche Berechtigung hat noch eine Kunst ohne Ethik? Kann sie Denkmuster aufbrechen, Missstände aufzeigen und einen Beitrag zum guten Leben von allen leisten, wenn sie im Auftrag von Großkonzernen, Sammlern und Museumsdirektoren entsteht?»

Die Vorträge zu solchen Themen, die Teil des Lehrangebots der «Kunstschule reloaded» sein könnten, werden öffentlich zugänglich sein. Denn die Kunstschule Wien kann nicht, sie m u s s in Beziehung treten zum urbanen Raum, der sie umgibt, und dessen Bewohner_innen. Das ist ein wichtiger Aspekt des Leitbildes der Einrichtung. Erleichtert wird diese Beziehung durch die feststehenden und sich noch bilden werdenden Kooperationen. «Unser Konzept sieht eine gemeinsame Nutzung dieses riesigen Leerstands durch die Kunstschule, das Projekt SOHO in Ottakring und die Webster University vor», sagt die Vorsitzendes des Trägervereins.

Die Initiatorin wurde kriminalisiert

«Die Kunstschule erfährt eine Renaissance. Der Neustart der Schule legt das ureigene Credo, das des niederschwelligen Zugangs, wieder frei und erweitert es mit einer inhaltlichen Grundhaltung, die sich einer offenen und kritischen Auseinandersetzung mit Kultur und Gesellschaft verschrieben hat (…) Das vierjährige Kunststudium schafft Raum für Experimente, Kommunikation und die gezielte Aneignung der traditionellen und neuen künstlerischen Techniken und Medien. (…) Kooperationen mit wichtigen Organisationen der Kunst- und Kulturvermittlung und öffentliche Veranstaltungsreihen machen die Wiener Kunstschule zu einem lebendigen und kommunikativen Bildungsknotenpunkt innerhalb der Wiener Szene.» So formulierte jüngst die Lehrende des Fachs Design und Raum, Moya Andrea Hoke, die Mission der «Anti-Akademie».

Der «anti-akademische» Anspruch der Kunstschule-Neubegründerinnen ist das eigentliche Erbe der legendären Initiatorin der Kunstschule Wien, der 1901 geborenen Künstlerin Gerda Matejka-Felden. 1946 hatte sie die Leitung einer Meisterklasse an der Akademie am Schillerplatz übernommen und kritisierte, dass diese vor allem von Kindern der führenden Klasse absolviert wurde. Im Keller der ehrwürdigen Anstalt richtete sie die «Künstlerische Volkshochschule» ein, die auf die sozial selektierenden Aufnahmeprüfungen verzichtete und bald einen so großen Zulauf aus den Reihen der Arbeiter_innenklasse hatte, dass die konservative Professorenschaft ein Disziplinarverfahren gegen Matejka-Felden anstrengte. Diese blieb standhaft und gründete 1954 – zunächst immer noch im Keller der Akademie – die Kunstschule.

Gerlinde Thum und Eliane Huber-Irikawa wollen in diesem Punkt die Kontinuitätslinie nicht verlassen, obwohl der Umstand, dass von den Studierenden eine Studiengebühr von 1900 Euro (für das gesamte erste «Orientierungsjahr») verlangt wird, die erwünschte Niederschwelligkeit in Frage zu stellen scheint. Im Rahmen des Familienbeihilfen-Systems sollte der Zugang zur «Kunstschule reloaded» aber auch für die Kinder normalverdienender Eltern gesichert sein.

Info:

Die Kunstschule Wien ist eine Privatschule mit Öffentlichkeitsrecht.

Das «Orientierungsjahr» ist ein Kunst-Grundstudium und für alle ab dem vollendeten 16. Lebensjahr offen. Es bietet eine fundierte Einführung in die Felder der bildenden und angewandten Kunst. Im ersten Semester werden Workshops in den Studienrichtungen Bildhauerei, Design & Raum, Grafik-Design, Interdisziplinär, Keramik, Malerei & Grafik, Animation & Experimentalfilm sowie Comic absolviert.

Der detaillierte Studienplan ist unter www.kunstschule.wien abrufbar.

Studienbeginn ist der 16. November 2015.

Die Kunstschule Wien wird derzeit durch Studiengebühren sowie durch Mittel des Bundeskanzleramts finanziert. Es laufen Verhandlungen mit dem Kulturamt der Stadt Wien für eine projektbezogene Finanzierung.