«Da kann ja jeder kommen!»Artistin

Eva Brenner und Jenny Simanowitz im «Unendlichen Gespräch»

Die Kabarettistin, Autorin und Kommunikationstrainerin Jenny Simanowitz trifft auf die Regisseurin, Theaterleiterin und kulturpolitische Aktivistin Eva Brenner. Was sie eint: Beide sind notorisch kritische Protagonistinnen des «anderen Theater». Ihr «Unendliches Gespräch» erscheint in unregelmäßigen Abständen im Augustin ein Projekt zur Selbstverständigung, das auch offen ist für den Dialog mit Dritten, die zu Themen aktueller Kultur-/Theaterpolitik Stellung nehmen. In der Ausgabe 312 standen Kategorien wie «migrantische» Kunst oder «postmigrantisches» Theater zur Debatte; diesmal geht es um das breitere Thema des politschen Theaters.EB: «Politisches Theater» muss heute komplett neu definiert werden im Kontext neuer sozialer Bewegungen. Ich behaupte: Es gibt in unseren Breiten kein Theater des «Politischen» im zukunftsträchtigen Sinn mehr, nur ein regressives wie die Neo-Klassik repetitiver Theater-Dekonstruktionen, ein in die Jahre gekommenes Regietheater, die modisch-zynische Postmoderne, eine Avantgarde-«Folklore» in den Museumsquartieren Europas, sowie das alles überlagernde Talk-Show-Buzz cum Infotainment als ästhetisches Grundmodell! Dieser traurige Zustand ist u .a. einer fehl geleiteten Kulturpolitik zu verdanken und dem Mangel an Widerstand gegen den neoliberalen Umbau der Gesellschaft auf allen Ebenen. Meine Hauptkritik an Teilen der sozialdemokratischen Kulturpolitik ist, dass sie schon lange ihren ursprünglichen sozialen und demokratischen Anspruch aufgegeben hat. «Kultur von allen für alle» ist out. Auch im Kulturbereich erleben wir eine Umverteilung von unten nach oben, in Richtung der etablierten Institutionen.

JS: Ich möchte auch zum Kapitel Geld was sagen. Ich weiß, dass man am alternativen Theater gerne kritisiert, es spreche nicht genug Leute an. Dieser Vorwurf soll die Streichung oder Reduzierung der Kultursubventionen legitimieren. Ist das große Publikum wirklich an den Orten der Hochkulktur? Ist es nicht vielmehr so, dass es einen Pool von vier-, fünftausend Menschen gibt, die immer ins Burgtheater gehen? Die Standortverlagerung des Theaters in Richtung öffentlicher Raum, die Offenheit für alle Schichten und Generationen das sind die Methoden des «anderen» Theaters, Menschen für Kunst zu interessieren, die nicht in diesem Burgtheaterbesucher_innenpool inkludiert sind. Kürzungen unter dem Vorwand «zu wenig Publikum» sind in Wirklichkeit Sanktionen gegen politisierendes Theater.

EB: Zur Frage, was unter «politischem Theater» zu verstehen sei. Ich gebrauche den Ausdruck «politisch» vielleicht zu inflationär und werde dann entsprechend missverstanden. Für mich ist «politisch» einfach ein Synonym zu gesellschaftlich, also die Gesellschaft betreffend. Mit «politisch» meine ich also nicht, dass wir alle auf die Barrikaden gehen oder die Weltrevolution vorbereiten. «Politisch» sein ist nichts anderes, als sich mit aktuellen Themen zu beschäftigen, die die Menschen betreffen. Übrigens versucht dies das Mainstream-Theater ja auch freilich in einer sehr verklausulierten und einer sehr romantisiert-verkitschten, verharmlosenden, letztendlich oft reaktionären Weise. Sowie räumlich entrückt. Du sitzt in einem Plüschsessel, hast möglicherweise 50 bis 100 Euro für die Aufführung bezahlt, hast dir vielleicht eine teure Garderobe besorgen müssen, um im Auditorium nicht aufzufallen oder um einfach «dabei» zu sein. Wenn all das von dir verlangt wird, dann ist verständlich, dass du auf dein Recht pochst, nicht tangiert zu werden von den Grauslichkeiten der Weltpolitik. Dir wird ein Geschehen ganz weit weg gezeigt, und du darfst klatschen oder im schlechtesten Fall aufstehen und gehen. Aber sonst ist keine Reaktion erlaubt, das ist kein Austausch. Im Jazz gibt es ihn, dort heißt er Call and Response. Jemand ruft etwas aus und es kommt eine Antwort zurück. Das ist ein demokratischer Prozess mit Menschen, die als gleichwertige Partner_innen interagieren. Wenn andernfalls Kultur kein Gespräch mehr ist, sondern ein Harmonisieren, Dozieren, Propagandieren und Dogmatisieren von der Bühne herunter, kann man das durchaus auch «politisch» nennen, natürlich ist das eine wenn auch meist unausgesprochene «Politik», die ich nicht vertrete!

Der Pelzhändler outet seine Herkunft. Das macht Kunst

JS: Umso lieber habe ich deine interkulturellen «Auf Achse»-Projekte in den Bezirken, deine Theaterprozessionen durch die Straßen und von Café zu Café. Du gehst mit dem herumziehenden Theater dorthin, wo die Leute sind und regst eine Debatte an.

EB: Das heißt, wir warten nicht, bis die Leute kommen und 100 Euro zahlen, wir schaffen keine Zugangsbarrieren und «Elitezonen», sondern wir sind bereit uns dem Dialog auf ungesichertem Terrain zu stellen. Wir sind ja dort viel mehr der Kritik ausgesetzt als der schlechteste Schauspieler auf einer teuren Bühne. Wenn wir nämlich keine Themen ansprächen, die die Leute betreffen, wäre die Türe schnell wieder zu. Das heißt sich aussetzen, eingreifen, Diskurs anregen, und auch Kritik einstecken lernen. Eine der Künstlerinnen aus dem «Auf Achse»-Team, das sind ja mittlerweile bis zu 40 Menschen, die bildende Künstlerin Marta Gomes hat gesagt, was sie interessiert an dem Format Theaterprozession: Die verschiedensten Menschengruppen kommunizieren plötzlich, «spielen mit» auf Augenhöhe. Eine Szene oder ein Lied oder eine Tanzperformance unter freiem urbanem Himmel kann emotional die Räume öffnen, sodass die Leute beginnen, von sich zu sprechen. Da hat plötzlich der Pelzhändler, den noch nie jemand in aller Öffentlichkeit, vor 100 Leuten eine Frage gestellt hat, den Mut, von seiner Roma-Herkunft zu sprechen. Und am nächsten Abend lädt er sogar seine Familie ein und bittet sie, ebenfalls zu sprechen. Das heißt, da entsteht ein kollektiver Prozess, der durch die Kunst angeregt wird. Durch die Kunst in öffentlichen Räumen, das meinte Marta, wird die Aufmerksamkeit hingelenkt auf Orte, Ecken und Kanten dieser Gesellschaften, sei es im architektonischen, im gesellschaftlichen oder ästhetisch-metaphorischen Sinn dieser Begriffe.

JS: Das erinnert mich an eine afrikanische Besonderheit. Ich komme ja aus Südafrika: Auch als es dort noch Apartheid gab, fanden Begegnungen statt. Es herrschte eine Offenheit, die ich hier nicht finde. Hier in Wien lautet die Botschaft: Schau, wie gut ich bin! Die afrikanische Botschaft dagegen: Was ICH mache, können alle machen. Die Kultur war selbst in Südafrika sehr einschließend. Man sagt dort nie: Ich treffe einen Freund heute Abend. Man sagt stattdessen: Ich treffe einen Freund, komm mit! Tanz mit! Sing mit! Und die bürgerliche Kunst ist genau das Gegenteil.

Wenn jeder kommen kann ist das Kunst?

EB: Dazu eine Erfahrung aus den Beiratsgesprächen der Stadt Wien. Als freie Künstler haben wir ja keine Fixverträge, wir müssen ständig neu ansuchen, ständig Accounts legen, ständig Zwischen- und Abschlussberichte schreiben, uns ständig als quasi kunstlegitim ausweisen. Speziell unser Heiner-Müller-Marathon-Projekt (FLEISCHEREI, 2005) wurde von einem Beiratsmitglied kritisiert, wo in Summe fast tausend Menschen in zehn Tagen und zehn Nächten aus- und eingegangen sind. Die unterschiedlichsten Leute: vom Banker zum Obdachlosen. Wir haben zehn Tage und Nächte gearbeitet und die Leute sind gekommen und gegangen, haben mit uns gefrühstückt, wir haben Workshops gemacht, es kamen Kindergruppen und Schulen, es war eine sehr bunte Community-Angelegenheit zu Ehren Heiner Müllers, dieses hochgradig diffizilen marxistischen Ex-DDR-Autors, den kaum jemand versteht. Und die Leute haben begonnen, sich mit seiner Literatur zu beschäftigen. Und da hat einer dieser Beiratsklugscheißer gesagt, das sei «kontingent» (damaliger Mode-Code), da kann ja jeder kommen und mitmachen. Das sei quasi keine Kunst, sondern eine Nachbarschaftsdauerparty. Ganz genau, das ist die Absicht: Da kann ja jeder kommen! Wir haben demgemäß auch keinen Eintritt verlangt.

RS: Und wenn die Stücke dieses faszinierenden DDR-Mannes, die sogar für die Linke schwer zu verstehen sind, im Burgtheater gespielt werden, ist das Burgtheater dann noch immer bürgerlich oder wird es politisch in deinem Sinn? Kann es sogar revolutionär werden?

JS: Das ist eine interessante Frage.

EB: Eine wichtige Frage, weil ich manchmal gefragt werde, ob ich mir vorstellen könnte, meine grenzgängerischen Projekte auch in den größeren, traditionellen Bühnen zu verwirklichen. Prinzipiell: Warum nicht? Habe ich ja auch versucht, zuletzt im Klagenfurter Stadttheater, liegt schon Jahre zurück. Mittlerweile will ich solche Fragen mit einem klaren Nein beantworten. Nein, weil der «Betrieb», die bleibende Struktur stärker ist als der transitorische eine Abend oder das eine Projekt. Der vorgegebene Raum ist ein total bürgerlicher, exklusiver, ein auf Selektion angelegter. Wenn du dort einen revolutionären Inhalt hineinsetzt, schaffst du vielleicht winzige Fenster, um in eine Zukunft zu schauen oder auch vielleicht zurück in eine revolutionäre Vergangenheit, aber du schaffst ganz sicher keinen geänderten Status quo. Und deshalb sind die immer so nostalgisch, diese Aufführungen. Wenn am Ring zufällig einmal etwas Radikaleres gespielt wird, haben die Besucher_innen halt einen Ausflug in die Anarchie gemacht. Ich glaube, es ist strukturell unmöglich, in den althergebrachten Eliteinstitutionen eine Veränderung herbeizuführen. Das ist nicht mal einem Schlingensief geglückt! Denn es ist ja geradezu der Kulturauftrag dieser Institutionen, jede Veränderung zu verhindern. Eine Methode des «Systems» dazu ist, alles, was an den Rändern existiert, zu korrumpieren, zu kooptieren, einzugemeinden.

JS: Das kommt mir ein wenig dogmatisch vor, liebe Eva. Ich denke, man kann das nicht so schwarz-weiß sehen. Ich habe in einem sehr ehrwürdigen Theater in London sehr radikale Sachen gesehen, und es stimmte alles. Natürlich weiß ich auch, wie sich Räume auf Inhalte auswirken. Ich habe einen Starjazzer einmal in einem Jazz-Club erlebt, und dann in einem Konzerthaus. Kein Vergleich. Das Konzerthaus hat seine Musik total getötet.

EB = Eva Brenner; JS = Jenny Simanowitz; RS = Robert Sommer