Das Kaninchen in der AchselhöhleArtistin

Tuomas Kyrö erzählt in «Bettler und Hase» ein finnisches Märchen moderner Arbeitsmigration

Vatanescu möchte in erster Linie Geld verdienen, damit er seinem kleinen Sohn Miklos Fußballschuhe kaufen kann. Dazu fährt er im Lieferwagen von Rumänien nach Finnland, um sich auf den trostlosen Straßen Helsinkis als Bettler zu verdingen. Später als Bauarbeiter im Naturschutzgebiet. Dann als Magierinnengehilfe in der Bundesbahn. Und schließlich, mangels Alternativen, als finnischer Ministerpräsident. Mit dabei: ein Kaninchen, das Vatanescu stur «Hase» nennt.Wie so viele Romanfreundschaften beginnt auch die zwischen Bettler und Hase in einer Situation, die für beide mehr als prekär ist: Der Bettler (mit Namen Vatanescu) hat sich mit einer unüberlegten Rebellion gegen seinen Vorgesetzten (er schlug ihn nieder und stahl ihm das – wenn auch gefälschte – Geld) aus dem Dienstverhältnis katapultiert und fürchtet nun, das international organisierte Verbrechen auf den Fersen zu haben. Der Hase (eigentlich ein Stadtkaninchen) flüchtet panisch vor einem Schlägertrupp von jungen Halbstarken, die sich ihr Taschengeld mit selbst erlegtem Raubtierfutter für den städtischen Zoo verdienen. Bettler und Hase sind zufällig am gleichen Ort. Der Bettler, der sich vor den großen Verbrechern versteckt, versteckt seinerseits den Hasen vor den Klein(tier)kriminellen in der Achsel seines Mantels; sodass hier eine Gemeinschaft begründet wird, die sich über die Not hinaus zur festen Freundschaft zwischen zwei Vagabundierenden entwickelt und Vatanescu einen großen Schritt macht: von der selbstgebackenen Lebensweisheit, die da heißt: «Zuerst muss man auf sich selbst aufpassen», zur ständigen Sorge um das anvertraute Pflegetier: «Lauf, kleiner Hase!»

Auf der Suche nach dem Stollenschuh

Tuomas Kyrös herumziehender Held Vatanescu ist eine Bettlerfigur, wie die «Kronen Zeitung» sie nicht besser hätte erfinden können. Aus einem kleinen rumänischen Kaff kommend, dessen architektonische Schönheit längst Opfer eines Telekommunikationsfabriksgeländes geworden ist, zieht er gemeinsam mit seiner Schwester los, im fernen Ausland das mittelgroße Geld zu machen: Die Schwester wird Sexarbeiterin in Polen, unfreiwillig, während Vatanescu, kaum weniger selbstbestimmt, auf Helsinkis nasskalten Straßen zu knien hat, um – «75 für mich, 25 für dich» – seinem (selbstverständlich russischen) Chef Jogar Kugar drei Viertel seines Gehalts abzuliefern. Aber Vatanescu verliert die Lust, Kugars Geldbörse und das Gewissen der Finn_innen zu bedienen, und er probt den Aufstand. Haut ab, trifft den Hasen und tritt eine Reise entlang von Hoffnungen und Möglichkeiten an, dem kleinen, von der Zukunft noch unversehrten Miklos die verdammten Stollenschuhe zu besorgen. Was ihm mehrfach misslingt: Einmal wird er von einem rassistischen Verkäufer (leider: Bodybuilder) aus dem Geschäft geworfen; einmal verlangt der Onlineshop eine Kreditkartennummer; einmal gibt es nur Schneeschuhe und Carving-Skier, denn «Fußball sei für Jugendliche im Norden nicht unbedingt die Nummer eins unter den Sportarten. «Motorschlitten, Abfahrtslauf, Fischen, you know. Jagen.»»

Auf der abstrus anmutenden Suche nach den seltenen und hochpreisigen Moltebeeren, mit denen er ein Vermögen zu machen gedenkt, gerät Vatanescu schließlich in einer apokalyptischen Szenerie in ein neues Arbeitsverhältnis: Mitten im Naturschutzgebiet soll ein riesiges Einkaufszentrum mit Pensionist_innenheim für Neureiche gebaut werden, und der Bettler (den Hasen nach wie vor im Mantel) wird, statt reich durch Beeren, zu einem der vertragsfreien Einkaufszentrumsbauarbeiter. «Zwar sollten die Arbeitskräfte nicht ausgebeutet werden, aber man würde den Lohn ihrer jeweiligen Ausgangssituation anpassen.» Und als wäre es nun nicht genug der Hürden auf Vatanescus Glück- und Sportschuhsuche, treten auch noch die Natur- und Menschenschützer_innen auf den Plan. Sie ketten sich eines Morgens an die Planierraupen, skandieren Sprüche für Bäume, Moor und Arbeitsrechte und machen ausgerechnet den überraschten Vatanescu zum Helden ihrer selbstlosen Bewegung. Mit dem Erfolg, dass ein sofortiger Baustopp eine Beendigung des Arbeitsverhältnisses, Lohnraub («Hatten wir einen Vertrag? Wenn ich mich recht erinnere, nein.») und drohende Abschiebung mit sich bringt. Also zieht Vatanescu weiter.

Verhalten und Vergeigen im Zeitalter der Völlerei


Geleitet von Tuomas Kyrös schreibender Hand, der sich erst auf Seite 216 als «der allwissende Erzähler» ins Spiel bringt, geht es dahin durch die institutionellen und gesellschaftlichen Absurditäten, die das Leben des Vatanescu zum Dauerlauf machen. Von dem wird er erst errettet, als die regierende Partei ihn als Traumkandidaten entdeckt: der Mann, der alle Widersprüche in sich vereinen kann und dabei sympathisch bleibt. Beziehungsweise, als die – selbst ein wenig vom Schicksal gebeutelte – Magierin Sanna Pommakka im Speisewagen sitzt und dringend einen Assistenten braucht. Am besten einen mit Kaninchen.

 

Kyrö erzählt entlang der verschlungenen Wege des Herrn Vatanescu die politische Gegenwart Europas; er erzählt vom «Verhalten und Vergeigen des Menschen im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts (…), im Zeitalter der Völlerei.» Von der Schwierigkeit, ein Mann in Armut zu sein, denn «den erwachsenen Männern fiel wieder einmal die Aufgabe zu, einfach irgendwie zu überleben. So wie immer.» Von Neonazis, die durch ein gutes Mittagessen zum beruflichen Umsatteln auf Kellner zu überzeugen sind. Und von der Wohlerzogenheit nordeuropäischer Beamt_innen, die noch den Abschiebebescheid mit einem Ausdruck des Bedauerns überreichen. Aber er erzählt all das freundlicherweise, als wäre seine Vorlage ein komisches Märchen und nicht die kaum zu glaubende Realität; sodass das Lachen einmal mehr über das Seufzen triumphiert.

Tuomas Kyrö: «Bettler und Hase»

Aus dem Finnischen von Stefan Moster

Hoffmann und Campe 2013, 318 S., 20,60 Euro