20 Jahre Augustin – 2007: Die Qualität gemeinsamen ElendsArtistin

Augustin-Journalismus auf der Suche nach Liaisonen zwischen Kunst und Rand

Nicht nur der Stuttgarter Vagabundenkongress in den 20er Jahren hat den Traum von der Einheit zwischen sozial an den Rand gedrängten Menschen und den durch ihre politische und künstlerische Radikalität marginalisierten Zeitgenoss_innen ein Stück weit ins Realistische verschoben. Robert Sommer, seit der Gründung Mitglied der Augustin-Redaktion, blätterte im Zeitungsjahrgang 2007, um nach den journalistischen Niederschlägen dieser Vision zu forschen.

(…) Ihr törichte Einsame, die ihr wähnt, oben in euern Ateliers andre, freiere Luft zu atmen als die Masse auf den Plätzen der Städte! Auch ihr esst auf euerm Kothurn das Brot, das Menschenhände gesäet, Menschenhände gebacken, Menschenhände euch gereicht haben. Tut nicht, als wäret ihr Besondere! Seid Menschen! Habt Herz! Und besinnt euch auf die Unwürdigkeit eurer Existenz! Ihr, die ihr Werke schafft, aus denen der Geist unsrer Zeit in die Zukunft flammen soll, sorgt, dass eure Werke nicht lügen! Helft Zustände schaffen, die wert sind, in herrlichen Taten der Kunst und der Dichtung gepriesen zu werden! Täuscht der Nachwelt nicht Bilder vor, die das jämmerliche Grau unsrer Tage in Gold malen! Seid keine Philister, da Ihr allen Anlass habt, Rebellen zu sein! Paria ist der Künstler, wie der letzte der Lumpen! Wehe dem Künstler, der kein Verzweifelter ist! Wir, die wir geistige Menschen sind, wollen zusammenstehen – in einer Reihe mit Vagabunden und Bettlern, mit Ausgestoßenen und Verbrechern wollen wir kämpfen gegen die Herrschaft der Unkultur! (…) Gerechtigkeit und Kultur – das sind die Elemente der Freiheit! Die Philister der Börse und der Ateliers, zitternd werden sie der Freiheit das Feld räumen, wenn einmal der Geist sich dem Herzen verbündet!

Erich Mühsam, der Anarchist aus München, hat dieses Manifest gegen die Dünkel der Intellektuellen vor etwa 100 Jahren geschrieben. Seither hat uns die Geschichte abwechselnd Perioden der Entfremdung der «Geistesmenschen» von den nicht durch die Kunst Verarmten und Perioden der Empathie und der Solidarität der beiden Milieus gebracht. Manchmal war die Liebe durchaus einseitig. Als Augustin-Mitbegründer immer auf der Suche nach poetischen Selbstdefinitionen hab ich diesen Mühsam-Text, als ich ihn mit unerklärlicher Verspätung las, als Herausforderung für den Augustin betrachtet. Wo, wenn nicht beim Augustin, wäre die Plattform, auf der sich «Vagabunden, Bettler, Ausgestoßene und Verbrecher» ein Stelldichein mit Schriftsteller_innen und Künstler_innen und Lehrer_innen und Philosoph_innen geben. Wo, wenn nicht hier, würden beide Teile entdecken, dass es nicht das verfügbare Einkommen war, das sie lange getrennt hat; wo sonst würden sie ihre große Gemeinsamkeit zelebrieren: das Leben im Prekariat.

Ich blättere den Augustin-Jahrgang 2007 durch. Es ist der Jahrgang der Rekorde unseres Sozial- und Medienprojektes. Die verkaufte Auflage erreicht Höhen, die den Herausgeberverein von vielen Sorgen befreien, unter denen er in den Anfangsjahren litt. Im Jahr 2007 mietete sich das Gesamtprojekt in ein Haus ein: Das «Headquarter» in der Reinprechtsdorfer Straße entstand. Zuvor, seit der Gründung, hatte der Vertrieb immer eine andere Adresse als die Redaktion – die räumliche Trennung führte zu Staus in den Informationsflüssen von einem Augustin-Standbein zum anderen. Im 2007er-Jahrgang wird klar, worauf die Betonung der Einheit von Geist und Rand – die Erkenntnis, dass es eher eine mythische Einheit als eine reale ist, fiel einer gewissen Sozialromantik der Schreiberlinge zum Opfer – hinaus wollte. Der Augustin war stets auf der Suche nach Menschen, die diese Einheit in sich ausdrückten, die also in einer Person beides verkörperten: die soziale Randständigkeit und die radikale Denk- und Handlungsbereitschaft.

Dass Hermes Phetterg, der«Elende» (so wird er im Titel eines Dokumentarfilms von Kurt Palm genannt), zum Modell dieser Einheit wurde, war nicht weit hergeholt. Augustin-Mitarbeiter Helmut Neundlinger hatte ein Dissertation über den Verfasser des «Predigtdienstes» verfasst, der seit 23 Jahren in der Stadtzeitschrift «Falter» erscheint. Die Predigtbücher sind eine Art Tagebuch, das einer oft tragikomischen Bilanz alltäglichen Scheiterns gleichkommt und von brutaler Offenheit geprägt ist. Die Beobachtungsgabe, die dabei zum Ausdruck kommt, ist in der österreichischen Literatur unübertroffen; Phettberg glaubt, einen Zusammenhang zwischen dieser seiner Hauptkompetenz und dem Sonderling-Status, der sein Kindheits- und Jugendleben bestimmte, zu bemerken: «Indem ich auf ewig verschmäht wurde, hat sich eine hohe Aufmerksamkeit entwickelt», meint Phettberg. Seiner immer fortschreitenden inneren und äußeren Verwahrlosung bewusst, outet sich Phettberg: «Meine Problematik besteht vor allem darin, dass ich einerseits zu stolz bin, um mich zu verkaufen, andererseits mich aber nicht in der Lage sehe, mich zu finanzieren. Auch bin ich depressiv, antriebsschwach und faul. Griesgrämig sitze ich, halb Rübezahl, halb Hagestolz in Gumpendorf und verbleiche nicht. Die Misere wird vollendet durch meine Unfähigkeit zum Suizid.»

Auch für Neundlinger ist Phettberg «einer der unermüdlichsten Selbstbeobachter, die wir kennen». Den Predigdiensten, so Neundinger, hafte etwas Proto-Literarisches an, weil die ihren Interessenfokus immer wieder auf jenen Zustand richteten, in dem ein Gedanke, ein Bild eine Erzählung gerade erst Form und Gestalt anzunehmen begänne. Als Schlüsselpassage, so Neundlinger, könne folgender Gedanke Phettbergs gesehen werden: «Welchen Roman soll ich schreiben, wenn mein Roman mich selber so fesselt, so unendlich mehr als alles Geschreibsel von mir? Wenn ich über mich selber schreibe, ist das keine Kunst. Wenn ich was konstruierte, wäre es das? Ich ertrinke und alle schreien: choreographiere! Gestalte! Verfremde! Aber ich bin selber so fremd. Kann der Fremde verfremden? Ich kann nicht einmal ICH buchstabieren – und soll einen Roman radebrechen?»

Ein von Neid generierter Gedanke

Helmut Neundlinger kommt zum Schluss seines zweimal zwei Seiten langen Essays über Hermes Phettberg, die auf der erwähnten Dissertation basieren, zu einer These, die mich zugegebenermaßen etwas piesackte, weil mir aufgrund meiner vor kurzem in Angriff genommenen Robert-Walser-Lektüre die Verbindung, die Neundlinger herstellte, auffallen hätte müssen. Neundlinger konstatierte die «tiefe Verwandtschaft zu anderen bemerkenswerten literarischen Außenseitern des 20. Jahrhunderts, vor allem dem Schweizer Schriftsteller Robert Walser (diesen hatte Mitte der 1920er Jahre eine Schizophrenie befallen, die ihn zwang, sein restliches Leben in einer Nervenheilanstalt zu verbringen). Was Neundlinger an Walser erinnerte, war zum Beispiel Phettbergs demonstratives Bekenntnis zur Unfähigkeit, beim Thema zu bleiben. «Bei allen Predigtdiensten bin ich nie über die Einleitung hinausgekommen», notierte Phettberg.

Ich muss gestehen, dass mich hin und wieder der Gedanke quält, die Texte des kleinen, großen, schwulen Verwahrlosten passten viel besser in das «Zentralorgan» der Beladenen und Gequälten, den Augustin, als in das Zentralorgan der urbanen Gentrifizierungspioniere, den «Falter». Die Neidanfälle gehen rasch vorüber, denn es ist fraglos das Verdienst des «Falter»-Chefredakteurs Armin Thurnher, der Phettberg 1992 bat, für seine Zeitung einmal wöchentlich eine theologisch inspirierte Weltbetrachtung abzuliefern, nicht ahnend, zu welchem Ewigkeitsunterfangen er damit den Anstoß gegeben hatte.

Es gibt eine zweite Figur, auf die der Augustin sein «Ideal» einer Einheit von Intellektualität und Marginalität, von Geist und Herz, von Dadaismus und Askese, von Kunst und Unterwelt projizierte: den Bohemien Branko Andrić. Anlässlich einer posthumen Ausstellung in der Akademie der bildenden Künste am Schillerplatz im Jahre 2007 (er starb 2005 bei eine Autounfall) würdigte der Augustin eine «zwischen Novi Sad und Wien pendelnde Subkulturverkörperung, die in der geografischen Dimension so lebte, als sei das Pendeln zwischen der Weststadt und der Oststadt kein Akt der Migration, sondern wie das Wechseln der Straßenseite, als bildeten Wien und Novi Sad eine einzige Agglomeration.»

Nur mehr eine Sechserpackung Eier

Bei weitem poly-artistischer als Phettberg, gab es eine große Parallelität zwischen den beiden Heroes der sozialen Romantik: die Zelebration des Scheiterns. Bei Andrić hört sich das so an: «Als ich 1975 als überraschender querseinsteiger, unbekannter Außenseiter usw. den von Rank-Xerox veranstalteten Zeichenwettbewerb den Hauptpreis gewonnen habe musste ich neben grosser Freude auch eine grosse Enttäuschnung in Kauf nehmen. Der ganze kommerzielle Galeriebetrieb war für mich unerreichbar… Nach 20 jähriger müsamen experimentieren mich wieder auf das weitere Aubau meiner Zeichnerischen Arbeit mich voll einzusetzen und auf eine längere Zeitspanne. Ohne dabei in einer alltagsstress soll ich jetzt sechs statt zehn Eier im MONDO zu kaufen damit mir etwas Geld für Opal-katron für die nächte Zeichnung überbleibt.» Was für jeden Augustin-Lektor, jede Lektorin eine Horrorsammlung sprachlicher Delikte ist, war für Branko Andrić literarischer Originalstil: Sein «Gastarbeiterdeutsch» durfte nicht korrigiert werden.

Das Prinzip der Parteilichkeit für die Interessen der Ausgeschlossenen verleitete die Augustin-Redaktion all die Jahre hindurch zu ununterbrochenen Versuchen, der Liaison von Kunst und Rand eine besondere Realismus-Qualität zuzuschreiben – und wir sind, wie uns die Erfahrungen des Regisseurs Hubsi Kramar mit Laiendarsteller_innen vom Augustin belehrten oder wie erst jüngst ein Interview mit Peter Turrini anlässlich der »Sauschlachten»-Inszenierung des Augustin-Theaters zeigte, nicht allein mit der Wahrnehmung, dass hinter dieser Zuschreibung nicht nur ein Wunschdenken steckt. Da die Augustin-Leute zwar künstlerisch gut seien, aber «keine trainierten und abg’schleckten Schauspieler», bleibe der Realismusgrad seines Stückes erhalten, der im Falle von hochprofessionellen Schauspielern ins Abseits gegenüber dem Ästhetischen geraten würde, betonte Turrini. «Jedem der Mitwirkenden ist auch das Leben ins Gesicht geschrieben. Für mich als Autor, der immer eine Brücke zwischen Leben und Kunst zu bauen versucht, war diese Tatsache das Faszinierende.»

Turrini spricht den Traum des Augustin aus – die Identität von Underdogs und Künstler_innen. Er ist der Traum Erich Mühsams. Auf dem Weg zum Traumziel liegen große Blockaden – etwa die aus vergangenen Zeiten herübergerettete inhaltliche Gliederung der Zeitung, die – mit der Trennung von politischem und künstlerischem Teil – gewissermaßen auch den Outlaw vom Kunstschaffenden trennt. Aber das ist eine andere Geschichte (zumal die überkommene Zeitungsgliederung auch aus gewichtigeren Gründen in Frage gestellt werden könnte).