Ein Biotop aus 212 BüchernArtistin

Verschrobene Künstlerlogik Quantität vor Qualität

Durch den Verzicht auf Leistungszwang brach bei Markus Kircher die Arbeitswut aus und hielt zwölf Jahre lang an. Das Resultat war die Völlige Bibliothek, ein aus über zweihundert Büchern bestehendes Werk mit bildender Kunst und Literatur, das sich ab Ende Jänner nicht nur sportlichen Kunstinteressierten offenbaren wird.

Markus Kircher möchte an Kunst, aber auch an Sport interessierte Menschen erreichen. Erstgenannte, weil er in zwölf Jahren 212 Kunstbücher – beinahe jedes ein Unikat – geschaffen hat. Letztgenannte, weil diese 212 Einzelwerke zusammen zwischen 15.000 und 20.000 Seiten umfassen. Um diese durchzublättern, bedarf es einer großen körperlichen Anstrengung. Die genaue Seitenanzahl wusste er beim Interviewtermin noch nicht, denn er war mit dem Durchzählen noch nicht fertig. Die Bücher sind sehr mannigfaltig gestaltet, wie beispielsweise mit eigenen Texten, Zeichnungen, Collagen, Zeitungsartikeln und -schnipseln, Fotografien oder auch mit Fäden. Das genähte Buch Wege und Höhlen ist eines der außergewöhnlichen. Dafür hat der ehemalige Krankenpfleger DIN-A4-Blätter durch die Nähmaschine laufen lassen und einen Faden reingenäht. Die Stichmuster wirken einerseits wie schwarze Grenzziehungen auf den unbefleckten Papierwüsten, andererseits vermittelt die klare und zarte Linienführung der schwarzen Nähfäden bei näherem Betrachten einen organischen Eindruck, so als würde sich ein Zwirnwurm über ein unbeschriebenes Blatt Papier hermachen. Durch Weglassen der Substanz Faden funktionierte Markus Kircher die Nähmaschine dann in Folge auch noch zum Perforator um.

Schluss mit Selektion

Wenn ich in ein Museum oder in eine Galerie gegangen bin, musste ich mich immer ärgern, weil immer nur die so genannten Meisterwerke zu sehen waren, das heißt, dass selektiert worden ist, so beginnt Markus Kirchers Erläuterung der Arbeitsprämisse zur Völligen Bibliothek. 212 Bücher in 12 Jahren. Von diesem Ärgernis angestachelt entschied er sich, alles, was er auf DIN-A4-Blättern produzieren würde, binden zu lassen: Ich habe beschlossen, mit Selektion aufzuhören. Mir ging es nur noch ums Machen ohne Leistungsdruck. Das ist bei mir in Arbeitswut ausgeartet. Die Bücher wurden zwischen 20 und 500 Seiten dick. Als wir einige gemeinsam inspizierten, konnte er sich oft nicht mehr erinnern, was ihn veranlasst hat, diese oder jene Serie zu gestalten. Wir stoßen auf ein vor zirka acht Jahren ausgeschnittenes Zeitungsbild, das ein pausbackiges Mädchen in Kircherscher Verfremdung, d.h. mit Bemalung und aufgeklebten Papierschnitzeln, zeigt. Ich erwähne, dass es sich bei diesem Mädchen doch um Natascha Kampusch handeln müsste. Nach längerem Überlegen stimmt ein überraschter Markus Kircher mit einem Ja, genau zu.

Bei diesem riesigen Konvolut liegt es in der Natur der Kunstproduktion, dass einiges Uninteressantes dabei ist, aber auch extrem Interessantes, wo ein einzelnes Blatt funktionieren würde, ist sich der mehr Bauchkünstler als Theoretiker, wie er sich selbst sieht, über die unterschiedliche Qualität seiner Arbeiten völlig bewusst. Quantität vor Qualität pflegte er gerne in diesem zwölfjährigen Schaffensprozess, der 212 Bücher ausspuckte, zu sagen. Alles wurde zwischen zwei Buchdeckel manövriert, auch wenn es sich bloß um dutzende Blätter handelte, über die er eingeschlafen war. Neben solchen Ready Mades gibt es aber auch konzeptuelle Arbeiten wie Auszug aus dem Kriegstagebuch. Bibliothek der Erschütterung. Dafür hat er eine Zeitung, die an sich nicht zu lesen ist, chronologisch verfolgt und aus den Artikeln, die von Kriegsgeschehnissen berichteten, Sätze mit einem Skalpell ausgeschnitten und in einem Karton gesammelt. Nach einem halben Jahr zog er diese Zeitungspapierschnipsel blind heraus und klebte sie mit dem Prinzip Zufall der Reihe ihrer Ziehung nach auf: Alles passte auf schreckliche Weise zusammen. Es ist ein Buch über den Krieg und über die Absurdität. Auf dieses Werk wurde auch der Verlag edition selene aufmerksam und veröffentlichte es in der Reihe Sumpfbücher neben Rohes Fleisch, dem 118. Buch aus der völligen Bibliothek.

Wir sind herzhaft naiv

Der Universalkünstler, der Kunst nicht von der handwerklichen Seite anpackt, sieht seine Stärke in der Improvisation. Diese wird ihm als Musiker im Duett an der Seite von Klaus Gölz mit dem Nonsens-Namen Donnergott Frieslautenbach voll abverlangt: Wir sind eine katastrophal schlechte Band, aber im Grunde genommen funktioniert ein Auftritt als Donnergott Frieslautenbach, weil wir so herzhaft naiv sind. Wir sagen uns, wir mögen zwar Musik, aber wir müssen nicht unbedingt musizieren können. Daraus schöpfen wir auch unsere Kraft, meint ein schmunzelnder Markus Kircher.

Künftig würde er noch gerne sein Performancerepertoire in Richtung Tanz ausweiten und sich verstärkt der Malerei widmen, denn die Arbeit an der völligen Bibliothek ist abgesehen vom Seitendurchzählen abgeschlossen: Mit den 212 Büchern habe ich mir ein riesiges Biotop aufgebaut, das in meiner Wohnung den Duft von Büchern abgibt.