Ein Weißer will uns tanzen lehren?Artistin

Aus dem Lager in die erste Liga: Captain Nemo Music Band

Der Initiative von Schauspielhaus-Wien-Chef Airan Berg ist es zu verdanken, dass vor einem Jahr rund ein Dutzend jugendlicher Flüchtlinge mit ihrem „Coach“ João de Brucó vor dem Vorhang stand und den Jubel eines begeisterten Schauspielhauspublikums genießen durfte. Ein Jahr später erneut viel Applaus im „Birdland“. Und demnächst in der „Bunkerei“ im Wiener Augarten. Erzählenswert, wie ein Workshop im Flüchtlingslager Traiskirchen Österreichs aufregendste Percussion-Band gebar. Erwähnenswert, wie wenig diese Erfolge aus der Sicht jener PolitikerInnen zählen, die jederzeit den Wert der Integration im Munde führen. Captain Nemo muss bleiben!Das Team um Airan Berg inklusive seine Pressebetreuung „art:phalanx“ widmete den kleinen Theaterraum des Schauspielhauses, die Schneiderei, im November 2003 dem Projekt „Hunger auf Kunst und Kultur“, einer gemeinsamen Aktion von „Armutskonferenz“ und „Schauspielhaus“. Menschen, mit denen es das Schicksal gerade nicht so gut meint, können seither mit dem neu geschaffenen Kulturpass gratis Kunst und Kultur konsumieren (mehr als zwei Jahre später haben zwei Wiener Parteien die Idee aufgegriffen und planen einen Kultur-Aktiv-Pass).

Im Sommer 2004 hatte Airan Berg eine Vorstellung, wie Menschen, deren Schicksal als tragisch und dramatisch bezeichnet werden kann, geholfen werden könnte. Diesmal sollte den Betroffenen nicht das Konsumieren von Kunst und Kultur erleichtert werden, sondern sie sollten die Chance erhalten, Kunst selbst zu produzieren. Nicht zuschauen, sondern sich zur Schau stellen, hieß die Devise. Bergs Vorstellung führte zu einer Vorstellung: Der Theatermann machte João de Brucó (Vollblutmusiker, Komponist, Dozent in Brasilien und Österreich, Tänzer, Clown, Performer, Brasilianer mit indianischem Einschlag und, und, und …) mit Klaus Neumann (Regionalleiter von SOS-Menschenrechte) bekannt. Im Herbst 2004 begann ein gänzlich neues Modell der Flüchtlingsbetreuung Realität zu werden.

Da staunten die „Jungs“


Exkurs in die Vorgeschichte: Peter Kaizar (Komponist, Musiker, Lehrtätigkeit in Wien und Berlin) dozierte auch an der von João de Brucó künstlerisch geleiteten „Oswald de Andrade“-Kunstschule in São Paulo. Und er sagte zu João den schicksalsbestimmenden Satz: „Du solltest nach Wien kommen.“ Und João kam und blieb. Das war 1990. Sofortige künstlerische Erfolge, gute Kritiken, die Bekanntschaft mit Wiener Musikern wie Otto Lechner und Karl Ritter, die sich die „Windhunde“ nennen, die Zusammenarbeit mit Ismael Ivo, dem Leiter der Wiener Tanzwochen, und Klaus Maria Brandauer „überzeugten“ João davon, dass Wien ein guter Resonanzboden für ihn sei.

Schon seit vielen Jahren fuhr in Joãos Kopf das U-Boot „Nautilus“ herum. Eine musiktheatralische Gestaltung des allerersten Science-Fiction-Romanes „20.000 Meilen unter dem Meer“ von Jules Vernes. Früher von den meisten Jugendlichen genau so verschlungen wie Karl May. Immer wieder sprach João mit Otto Lechner über sein Traumprojekt. Aber beide spürten: Es ist noch nicht so weit. Das änderte sich durch Airan Bergs Initiative. Ein Flüchtlingslager wie Traiskirchen, Flüchtlinge und Asylwerber, da fällt einem doch sofort der Begriff „U-Boot“ ein.

Ein als temporäres Projekt angedachter Workshop für minderjährige Flüchtlinge in Traiskirchen wurde so zum Langzeitprojekt. João scharte Asylwerber aus Nigeria um sich. Die „Jungs“, wie João sie nennt, waren anfänglich voller Vorurteile: „Was? Dieser nicht mehr ganz junge (João ist 47 Jahre, doch schlank und beweglich wie ein Zwanzigjähriger), noch dazu weiße Mann will uns was über Tanzen und Trommeln erzählen?“ João, ein erfahrener Lehrer mit brennendem Herzen unter dem diszipliniert-kühlen Kopf, ließ sie „kommen“, die Jungs. Sie sollten zeigen, was sie können. Und dann legte er los. Da wurden die Augen der Jungs größer und größer. Und die Münder standen weit offen vor lauter Staunen, was der weiße, ältere Mann da vorführte. João hatte gewonnen. Ab nun war er der „Mister João“.

Eine bereichernde Begegnung bahnte sich an. Südamerika und Afrika sind ja „bekannt aus Funk und Fernsehen“ für „Rhythmus im Blut“. Und da der Rhythmus in Afrika eher schwerer und „schwärzer“, in Brasilien hingegen leichter, heller und heiterer ist, wurde fröhlich ausgetauscht und befruchtet. Dazu Otto Lechner: „Jetzt werden die ,20.000 Meilen‘ gelingen. Die Wiederbegegnung von brasilianischer und afrikanischer Kultur, und noch dazu im Rahmen österreichischer Asylbürokratie – das zusammen gibt die Grundspannung, um gutes Theater, um gute Musik zu machen. Ich freue mich schon, mitspielen zu dürfen und zu können. Bin dann Gast im eigenen Land, sozusagen.“

Otto Lechner: „Gemeinsam erfanden wir Instrumente“


Wo „workshopen“ in Traiskirchen? João schwelgt in Erinnerungen: „Am Anfang hatten wir nichts außer Begeisterung und Engagement. Keine Instrumente, keine passenden Kostüme, keinen geeigneten Proberaum. So konzentrierte ich meine Lehrtätigkeit zunächst auf den musikalischen Teil. Es entstand die ,Captain Nemo Music Band‘. Gemeinsam erfanden wir eigene Musikinstrumente, für die wiederum neue individuelle Spielweisen kreiert werden mussten. Mal probten wir da, mal wieder dort.“ Und wieder Otto Lechner: „Die täglichen Proben führten zu einer musikalischen Dynamik, einer Genauigkeit im Umgang mit Kraft und Lautstärke, und zu einer eigensinnlichen Klangkultur, wie wir sie bei herkömmlichen Percussionensembles oft vermissen.“

Geprobt wurde täglich durchschnittlich zehn Stunden. Vorher oder nachher mussten die Jugendlichen zum Pflicht-Deutschunterricht gehen. Und mittags hatten sie das Essen in der hauseigenen Küche zuzubereiten. Dementsprechend ruhig war es abends in ihren Schlafräumen. Diese Disziplin, gepaart mit enormer Begeisterung, brachte erste Erfolge.

Bereits im Oktober 2004 gab’s das erste von bisher 21 Konzerten. Anfang 2005 sogar im Schauspielhaus und im Casino Baden, im Juni beim Donauinselfest. Die „Captain Nemo Music Band“ spielte u. a. Ende 2005 in der Jazzgalerie Nickelsdorf und im ORF-Radiokulturhaus. Und im Februar 2006 im Birdland, zusammen mit den „Windhunden“ Karl Ritter, Otto Lechner und João de Brucó. Die „Windhunde“ gaben einen Teil ihrer Gage an die „Jungs“ weiter.

Wann immer sich die „Jungs“ vor dem mitgerissenen Publikum verbeugen, tauchen Erinnerungen auf. An die Zeit, als sie auf den Müllplätzen der MA 48 nach Recyclingmaterial suchten, um daraus Instrumente und Bühnenkulissen zu bauen. Wie ihnen Hannes Lorenzi von der SOS-Menschenrechte-Werkstatt half, das U-Boot Nautilus zu bauen. Wie sie die Künstlergruppe Red White beim Instrumentenbau unterstütze. Wie die weiblichen Asylwerberinnen des SOS-Menschenrechte-Frauenhauses in Traiskirchen Kostüme und Vorhänge nähten. Solch sinnvolle Tätigkeiten begeisterten die rund 60 AsylwerberInnen, die an der Verwirklichung des Traumes von João mitarbeiteten. Zufällig fast genau am 100. Todestag von Jules Verne fand die Premiere des Tanzstückes „20.000 Meilen“ im Wiener Schauspielhaus statt.

Besonders begeistert von der Ensembleleistung war Anne Bennet. Als Bühnenerfahrene weiß sie, dass es gar nicht so üblich ist, dass Schauspieler so „zusammenhaltend“ spielen, ihre Energie dermaßen bündeln: „Es war eines der lebendigsten und bewegendsten Theater- und Musikereignisse, die ich wahrgenommen habe. Diese ganz jungen Leute singen und tanzen mit so viel Charme, Witz und natürlichem Talent.“

Wird es weitergehen? Und wie?


Ein voll integrierter Brasilianer will jungen Nigerianern helfen, die Hürden der Integration zu meistern. Doch die Zukunft des Projekts ist ungewiss. Die derzeitige Situation: SOS-Menschrechte musste sich von der Betreuung und damit auch Finanzierung zurückziehen. Das Projekt braucht dringend neue Sponsoren und Spenden. Eine CD soll in Zusammenarbeit mit bekannten Musikern produziert, die Homepage ausgebaut werden. Ein Proberaum muss gefunden und angemietet werden. Die „20.000 Meilen“ sollen wieder aufgenommen werden und eine neue Idee schreit nach Verwirklichung. Dieses neue Theaterstück „Märchen aus 1001 Nacht“ soll weiteren Menschen aus verschiedenen Kulturen die Möglichkeit geben, auf (schau-)spielerische Weise den ersten Schritt ins gesellschaftliche Leben Österreichs zu machen.

Anne Bennet: „Es wäre ein großer Verlust für Österreich, wenn dieses menschlich und künstlerisch so wertvolle Ensemble, das wie durch ein Wunder hier entstanden ist, von der Bildfläche verschwinden würde. Denn ich sehe in diesem Projekt eine große Chance, mit herrschenden Vorurteilen aufzuräumen: einerseits mit den speziellen Vorurteilen vieler ÖsterreicherInnen gegenüber AfrikanerInnen, andererseits mit den mir im Ausland immer wieder begegnenden Vorurteilen gegenüber ,d e n‘ ÖsterreicherInnen und ihrer Fremdenfeindlichkeit. Dieses Projekt könnte Österreich ein Stückchen Weltoffenheit schenken, die wir, so finde ich, dringend brauchen!“

Integrationsprojekt

Captain Nemo Music Band

www.cptnemoband.com

Kontakt:

João de Brucó

joaodebruco@yahoo.com

mobil: 0 699 1 924 30 66

Windhundrecords:

www.windhundrecords.com

Kulturpass:

www.armutskonferenz.at

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