Ein Welt-Dichter in Hinterholz 6Artistin

Reise in die niederösterreichische «Höhle des Schaffens» von W. H. Auden

Von 1958 bis zu seinem Tod im Jahr 1973 lebte der anglo-amerikanische Dichter, Essayist und Beinahe-Nobelpreisträger W. H. Auden im niederösterreichischen Kirchstetten. In seinem ehemaligen Haus besteht seit 1995 eine Gedenkstätte, die an sein Leben und Werk erinnert und die nunmehr vollkommen neu gestaltet wurde. Helmut Neundlinger über ein Leben in der «ländlichen Idylle mit doppeltem Boden».

Foto: Dokumentationsstelle für Literatur in Niederösterreich

Nach Kirchstetten kommt man nicht einfach so. Wer die 15 Kilometer östlich von St. Pölten gelegene 2000-Einwohner_innen-Gemeinde besuchen will, braucht einen guten Grund, und einen solchen liefert die Gemeinde selbst: «Dichtergemeinde» nennt sie sich auf ihrer Homepage, und diese Zuschreibung verdankt sie zwei denkbar unterschiedlichen Poeten des 20. Jahrhunderts. Josef Weinheber (1892–1945) ist der eine – durch seine Dialektgedichtsammlung «Wien wörtlich» volkstümlich geworden und mit seinen an Friedrich Hölderlin orientierten Oden als versierter Wortschmied in Erscheinung getreten. Weniger edel mutete sein poetisches Engagement für die Nationalsozialisten an. Weinheber beteiligte sich unter anderem am «Bekenntnisbuch österreichischer Dichter», das nach dem «Anschluss» Österreichs an Nazideutschland als Huldigung der neuen Machthaber publiziert wurde. Sein Freitod am 8. April 1945 setzte den Schlusspunkt unter eine am Ende von Alkohol und schweren Depressionen gezeichnete Existenz. Als Selbstmörder wurde ihm die Aufnahme in den Ortsfriedhof verwehrt, und so liegt Weinheber im Garten seines Kirchstettner Hauses begraben.

Ländlicher Alltag im Schatten der Weltgeschichte

Der andere berühmte Dichter kam erst 12 Jahre nach Weinhebers Tod in Kirchstetten an. Wystan Hugh Auden (1907–1973) hatte bereits eine transkontinentale Lebensreise hinter sich, als er im Oktober 1957 zum ersten Mal vor dem Haus mit der Adresse «Hinterholz 6» stand. Der Dichter hatte gerade in seiner sommerlichen Wahlheimat Italien den renommierten Feltrinelli-Preis erhalten und war auf der Suche nach einer Bleibe jenseits der Alpen. Zu heiß, zu hektisch war ihm der Süden geworden, von dem er sich mit dem langen Gedicht «Goodbye to the Mezzogiorno» halb spöttisch und halb wehmütig verabschiedete. Sein Wunsch: eine Heimstatt in einem deutschsprachigen Land, möglichst abgelegen und trotzdem gut erreichbar. Eine österreichische Freundin half bei der Suche, und bald fand sich ein altes Landhaus aus dem 18. Jahrhundert an den Ausläufern des Wienerwalds. Die Spuren des anderen «genius loci» las Auden beim Spaziergang durch den Waldweg auf, der sein neues Haus mit dem Weinheber-Anwesen verband. In einem Gedicht zum 20. Todestag Weinhebers setzte Auden sich freundlich, aber auch in klaren Worten mit Leben und Werk des österreichischen Kollegen auseinander.

Weinheber war nicht der einzige Kirchstettner, der via Audens Lyrik Eingang in die Weltliteratur fand. Der Dorfpfarrer, der Mesner, der Landarzt und auch das als langfristige Sommerresidenz erworbene Haus selbst tauchten mit großer Selbstverständlichkeit in den Gedichten Audens auf. Inspiriert von der ländlichen Idylle mit dem doppelten Boden einer weitgehend verdrängten Geschichte, verwandelte sich der in den 1930ern noch kommunistisch orientierte Dichter in einen – laut eigenen Worten – «kleinen atlantischen Goethe» und besang auf subtile Weise die unheimlichen Zwischentöne des beschaulichen Alltags im Schatten der Weltgeschichte.

Vom queeren Berlin übers republikanische Spanien nach Kirchstetten/NÖ

An ebendieser hatte Auden in jüngeren Jahren als luzider Kommentator und sprachmächtiger Analytiker ausgiebig partizipiert. Aufgewachsen in einem liberal geprägten und doch an der anglikanischen Kirche orientierten Elternhaus im England des ausgehenden viktorianischen Zeitalters, emanzipierte er sich nicht zuletzt durch seine früh erwachende homosexuelle Neigung von bürgerlichen Lebensentwürfen. Ein Aufenthalt im Berlin der späten 1920er Jahre ließ ihn eintauchen in die kurz, aber intensiv aufkeimende queere Szene mit ihren Nachtklubs auf der einen und der politisch-intellektuellen Selbstfindung auf der anderen Seite. Gemeinsam mit seinem damaligen Freund und künstlerischen Partner, dem Romancier Christopher Isherwood, bewegte er sich im Umfeld des vom deutschen Arzt und Sexualforscher Magnus Hirschfeld gegründeten Instituts für Sexualwissenschaft, das von den Nazis 1934 zerstört wurde.

Zurück in England stieg Auden mit seinen ersten Lyrik-Publikationen zur wichtigsten Stimme seiner Generation auf und begeisterte sich wie zahlreiche seiner Kolleg_innen für sozialistische Ideen. Ein kurzer Aufenthalt in Spanien während des Bürgerkriegs, an dem er ursprünglich als Rettungsfahrer für die republikanischen Brigaden teilnehmen wollte, ernüchterte ihn diesbezüglich gründlich, zumal er dort direkt mit der stalinistischen Hintertreibungspolitik dieses für die gesamte europäische Linke so wegweisenden Kampfes konfrontiert wurde. Seine nächsten Reisen führten ihn zunächst zum chinesisch-japanischen Krieg (1938), über den er gemeinsam mit Isherwood eine Art Reportage unter dem Titel «Journey to a War» verfasste, und schließlich nach Amerika, wo er nach Ausbruch des Zweiten Weltkrieges eine neue Heimat und Arbeit als Lektor an verschiedenen Universitäten und Bildungseinrichtungen fand. 1946 nahm er aus aufenthaltsrechtlichen Gründen die amerikanische Staatsbürgerschaft an. Sein Verbleib in Amerika hatte allerdings auch einen handfesten emotionalen Grund: Bereits 1939 hatte er in New York seinen Lebensgefährten, den von jüdischen Auswanderern aus Lettland abstammenden und um vierzehn Jahre jüngeren Chester Kallman, kennengelernt. Die anfangs heftige erotische Anziehung war nur von kurzer Dauer, aber über die Jahre entwickelte sich ein Lebensmodell, das man in gegenwärtigen Begriffen vielleicht als polyamouröse Partnerschaft bezeichnen könnte, da beide ihre sexuelle Leidenschaft in Außenbeziehungen offen auslebten, ohne sich voneinander je zu trennen.

Als die beiden im Oktober 1957 in Kirchstetten ankamen und, wie Auden selbst es formulierte, «von diesem Haus ganz verzaubert» waren, hatte sich zwischen den beiden ungleichen Männern eine vertraute Routine etabliert, der Auden später in dem Gedicht «Common Life» ein kleines Denkmal setzte. Im Dorf selbst wurden der Dichter und sein Partner mit einer Mischung aus Neugier und Befremden bedacht, und allmählich entwickelten sich distanzierte Freundschaften zwischen den Neuankömmlingen und den Ortsansässigen. In seiner Wahlheimat empfand er sich «aus Übersee hierherverpflanzt», wie es in einem seiner Gedichte heißt, in dem er auch gesteht, dass er mit den meisten seiner Nachbar_innen kaum kommuniziere.

Dennoch tauchte er regelmäßig im Wirtshaus auf, um von dort aus seine Telefonate nach Übersee zu erledigen, und fand sich sonntags zum Gottesdienst ein, wo er bei den Messgesängen lauthals «mitplärrte», wie er es in einem Gedicht über den Pfingstsonntag in Kirchstetten formulierte. Die Leute im Ort sprachen Auden ehrfürchtig mit «Herr Professor» an, und die Gemeinde benannte noch zu seinen Lebzeiten jene Straße, die zu seinem Haus führt, in «Audenstraße» um, was dem Dichter durchaus schmeichelte. Nach seinem plötzlichen Tod am 29. September 1973 im Anschluss an eine Lesung in Wien wurde er seinem Wunsch gemäß am Friedhof in Kirchstetten begraben.

Die im Obergeschoß des Hauses befindliche Gedenkstätte wurde nun vollkommen neu eingerichtet und am 12. September wiedereröffnet. Mehr als hundert Personen pilgerten nach Hinterholz, um die «Höhle des Schaffens» zu würdigen, wie Auden selbst seine Arbeitsstätte nannte. Die bunte Mischung aus örtlicher Bevölkerung und urbanen Auden-Afficionados, die sich an dem strahlenden Herbsttag in Hinterholz zusammenfand, hätte dem «kleinen atlantischen Goethe» wohl gefallen.

www.literaturedition-noe.at, www.kirchstetten.at

Besichtigung nach Voranmeldung unter (0 27 43) 82 06

Helmut Neundlinger schreibt im Augustin über Literatur und Fußball, arbeitet in der Dokumentationsstelle für Literatur in Niederösterreich und zeichnet mitverantwortlich für die Überarbeitung der Dauerausstellung zu W. H. Auden.