Fremde Wörter, fremder SinnArtistin

Betrachtungen eines Korrekturlesers, Teil 4

Sind Fremdwörter in unserer Sprache Marken der Abgehobenheit oder Botschafter der Welt? Dieser Frage geht Richard Schuberth im vierten Teil seiner Serie nach. Und: Wie sollen wir mit diesen Wörtern umgehen? Integrieren? Zwangs­assimilieren? Abschieben? Mit ihnen fremdgehen …?Für den Philosophen Theodor W. Adorno sind Fremdwörter «die Juden der Sprache». Was zunächst wie eine provokante Zuspitzung klingt, eröffnet bei genauerem Nachdenken ein riesiges Feld kritischer Wahrheit. Aber dazu später.

Mein Einstieg in die Weltliteratur waren die Klassiker der Abenteuerromane – Texte, die in exotischen Erdteilen und auf hoher See spielten. Jedes Kapitel erschloss meiner gierigen Fantasie nicht nur neue Begriffe, sondern auch neue Welten, denn jeder neue Begriff war ein Schlüssel zu einer neuen Welt. Wie gut, dass es da Fußnoten oder am Ende des Buchs ein Glossar zum Nachschlagen gab. Bevor ich den beinahe rituellen Akt des Nachschlagens absolvierte, suhlte ich mich oft schon im Klang dieser geheimnisvollen Wörter. So erschloss ich mir Schiffstypen, Sturmarten, ferne Orte und Kulturen, vergangene Lebenswelten, längst ausgestorbene Wörter wie kujonieren und bastonieren, lernte, was ein ­Davit ist und was ein Elmsfeuer und dass das Spitzenzeugs, das meinen geckenhaften Helden bis etwa 1790 von den Hälsen hing, Jabot hieß. Doch wozu um alles in der Welt braucht man wissen, was ein Leesegel ist? Seid ihr verrückt, ihr Narren? hätte ein halbwüchsiger Richard euch entgegengerufen, erst die Erfindung dieses Segels verkürzt den Transport ­eurer Kolonialleckereien nach Bristol um Wochen und macht sie ­dadurch billiger. Dass deren günstiger Preis vor allem der Sklavenarbeit auf den kolonialen Plantagen geschuldet war, brachten mir weitere Bücher zu Bewusstsein, zum Beispiel die von ­­­­­­B. Traven, dem ich verdankte, dass Campesinos, Mezcal, Pulque, ­Hacienderos, Peones sowie Tierra y Libertad zu meinem alltäglichen Sprachgebrauch wurden. Wäre damals jemand dahergekommen und hätte, damit ich mich nicht so ausgeschlossen fühle, alle neuen Wörter rausgejätet, somit die Kapillargefäße gekappt, durch die das Buch mit Geschichte und weiter Welt verbunden war, ich hätte ihn, ohne zu ­zögern, kopfüber an die oberste Rahe des Besanmasts geknüpft.

Jeder neue Begriff steuert dem Bewusstsein einen neuen Knotenpunkt assoziativer Vernetzungen bei und erweitert Denken und Fantasie. Selbst Gefühle lassen sich von Begriffen verführen. Wir alle teilen eine Bandbreite an Emotionen, aber manche davon gefallen sich in neuen Beschreibungen so sehr, dass sie diesen entgegeneifern und sogar über sie ­hinauswachsen. Das Individuum unterscheidet vom Zombie, wie autonom oder wie manipulativ sein Sprachbewusstsein sich bildet.

 

Volkstribun_innen der Vergeblichkeit

Einem sehr brauchbaren Ethos zufolge sollen neue Begriffe der Sprache neue Bedeutungen, neue Nuancen beisteuern, ansonsten sie wirklich nur Jargon, Angebereien von akademisch geschulten Kleingeistern sind, nicht Mittel der Erhellung, sondern der Verdunkelung. Mit ein bisschen Erfahrung kommt man einem Text sofort auf die Schliche, ob die Verwendung von sogenannten Fremdwörtern den Sinn vertieft oder bloß Dekor ist. Institutionalisierte Akademiker_innen schmücken sich noch immer gerne mit lateinischen Floskeln wie cum grano salis oder in effigie, die sie ihren Texten wie Wandernadeln anstecken (und sie sorgen dafür, dass auch wirklich keine fehlt): Von deren Steifheit heben sich lebensfreudigere Uni-Profs gerne mit – oh, là, là – französischen Wendungen ab, bekunden mit einem süffisanten au contraire Weltläufigkeit und Bereitschaft zum gebildeten Seitensprung. ­Liessmann-Texte etwa konnte man bei intellektuellen Blindverkostungen stets dadurch erkennen, dass ihr Autor darin eine pikante Pointe ankündigte. Mit den Fremdwörtern ist es eben wie mit dem Sextourismus: Irgendwann verflüchtigt sich die Illusion, dass ein Juan, Yannis oder ­Jean-Philippe interessanter sei als ein Hans, was nicht dazu verpflichten darf, sich nur noch mit Hänsen zu paaren, denn das wäre Sexualrassismus.

Es gibt unter den Linken immer mehr Aktivist_innen, welche die Sorgen der «einfachen Leute» ernst nehmen. Weder deren Angst vor Kürzung der Mindestsicherung noch vor Selbstmordattentäter_innen meinen sie, sondern davor, etwas nicht zu verstehen. Texte, so fordern sie volkskommissariell, müssten für die Allgemeinheit verständlich sein und sollten sich nach dem allgemeinen Sprachgebrauch richten; Fachbegriffe, eine zu abgehobene Sprache, werden gebannt.

Doch nichts Abgehobeneres kann ich mir vorstellen als ­diese Selbstermächtigung im Namen der angeblich Ohnmächtigen. Wer bestimmt die Trennlinie zwischen allgemeiner ­Verständlichkeit und bösem Hirnwichserisch? Klarerweise machen diese Volkstribun_innen ihr eigenes Bildungsniveau zum Maßstab – bis zu meinem Level und nicht weiter. Kastrieren, malträtieren und konstruieren verstehe ich und verstehen deshalb auch die anderen, konterkarieren, retardieren und dekonstruieren verstehe gerade ich noch, weil ich ein super Typ bin, aber die Familie im dritten Stock bestimmt nicht mehr. Ergo: auf den Index! Was für eine Anmaßung!

Diese Volkstribun_innen der Vergeblichkeit glauben, dass zu viele Fremdwörter Kevin Normalplebejer/Vanessa Mindestverdienerin ausschlössen, und kämen weder auf die Idee, dass sie diese von Fremdwörtern ausschließen noch dass Kevin und Vanessa in der Zwischenzeit tausende englische Modebegriffe aus dem New-Media-Jargon runtergeladen haben. Die Halbbildung lebt ihren Hass gegen eine eingebildet übermächtige Bildung dadurch aus, dass sie sich zum Anwalt der Unbildung gegen die ­Bildung macht, anstatt jener den Zugang zu ihr zu erkämpfen.

Diese wohlmeinenden Populist_innen würden überflüssige Latinismen wie reflektieren bestimmt durchgehen lassen, aber den durch kein deutsches Wort ersetzbaren Begriff Ressentiment beargwöhnen. Wer Ressentiment verstanden hat, hält einen zentralen Schlüssel zum Verständnis vieler gesellschaftlicher Missstände in Händen. Reflektieren ­hingegen kann nichts, was denken nicht kann, fällt sogar hinter denken zurück, weil das ihm zugrundeliegende Bild nicht die geistige Durchdringung, ­sondern bloß einen Widerschein ausdrückt. Aber immer noch besser als ventilieren (Liessmann zum Beispiel ist ein leidenschaftlicher Ventilator).

 

Sprache verändert sich nicht bloß, sie wird ärmer

Viel schlimmer als die Verweigerung der Sprachverständlichkeit ist die zunehmende Verweigerung des Sprachverstehens. Mein Vater zeterte gerne gegen die Amerikanisierung der deutschen Sprache. Doch wie harmlos, weil leicht identifizier- und vermeidbar, sind englische Wörter wie background und coping strategy im Vergleich zum dummen Nachdeutschen englischer Wendungen wie Analyst und Sinn machen. Auf der sprachkritischen Website Belles Lettres weist eine Studie auf 16 Druckseiten nach, wa­rum Sinn machen überhaupt keinen Sinn hat (http://www.belleslettres.eu/content/sprache/sinn-machen.php). Man könnte nun großzügig der Sprachüblichkeit gegenüber der Sprachrichtigkeit ihren Platz einräumen, hätte die Dummheit nicht die Angewohnheit, auch frech zu sein und die richtige Wendung abschaffen zu wollen. Denn dass etwas Sinn haben könne, macht für immer weniger Menschen Sinn, sie entscheiden sich so automatisch, wie ihr ganzes Bewusstsein funktioniert, für das Falsche, weil es in ihren Ohren besser klingt. Und warum tut es das? Weil alle so reden, weil alle so schreiben. Diese Sprachbarbareien sind eben keine Folgen kollektiver Eigenmächtigkeit, einer demokratischen Sprachveränderung von unten, sondern das genaue Gegenteil: medial und kulturindustriell vermittelte Trends, die schutzlose Hirne befallen, denen die geistige ­Immunabwehr abhanden kam.

 

Auch Hirnwichser_innen haben Gallenkoliken

Es gibt einen klaren Imperativ: Verkompliziere keine einfachen Wahrheiten und vereinfache keine komplexen. Zwischen diesen Polen Kurs zu halten ist schwierig. Viele Fremdwörter haben einen Sinn, sie wurden in Sprachen eingeladen, weil diese keine tauglichen Ausdrücke für etwas hatten, nach ­dessen Ausdruck aber Bedarf bestand.

Und es ist wie mit den leibhaftigen Fremden: Die Fremdwörter sind Sündenböcke für ganz andere Probleme. Wir können sie assimilieren wie das Malör (Malheur) und damit ihre Vergangenheit und zugleich die unsrige tilgen, oder wir können sie ­abschieben. Doch dann werden wir merken, dass einheimische Ersatzbegriffe nicht besser verstanden werden, weil unsere Fähigkeit zur ­Abstraktion, zur Welt- und damit auch zur Spracherfahrung verkümmert ist. Und diese Verkümmerung ist, wenn schon nicht beabsichtigt, so doch funktional. Denn um uns zu befreien, aus Benachteiligung, aus Bevormundung, aus Verdinglichung, müssen wir uns einen Begriff von der Gesellschaft machen, und dazu reicht unsere Sprache oft nicht hin, denn neue Gedanken brauchen neue Wörter. Erst durch Denken, durch in Denken umgewandelte Lebenserfahrung, die zu ­Begriffen gerinnt, können wir aus passiven Personen zu handelnden Persönlichkeiten werden. In den riesigen Lagerhallen voll Theorien und fremden Wörtern, die man von uns fernhält und von denen wir uns fernhalten und die man Akademien nennt, gibt es viel Schrott, aber auch sehr viel Brauchbares zum Verstehen von Gesellschaft, Macht und ­Verdummung – und wem diese nützt.

Zum Schluss sei ein spektakuläres Geheimnis ­gelüftet: Akademisch gebildete Intellektuelle kommen­ sich selten besser vor als andere Menschen und gehören bestimmt nicht zum Establishment. Im ­Gegenteil, sie verstecken ihre Kompetenzen eher, und in Öffis flüstern sie ihre Fremdwörter. Antiintellektuelle Häme oder Hass neigen sie durch bemühtes Fußballfantum und gestelzte Bodenständigkeit abzuwenden. Kurzum: Sie verwenden bestimmte Begriffe nicht, um andere auszuschließen, sondern weil sie zu ihrer Gewohnheit geworden sind, und so wie es keinen Grund gibt, Sprecher_innen bestimmter Dialekte zu diskriminieren, darf man auch Hirnwichser_innen wegen ihrer Fachsprachen nicht abwerten. Mehr von ihnen, als man glauben möchte, leben prekär, auch weil Leute, die wissen, was repressive Toleranz ist, sicher schlechtere Karten als solche haben, die über Competition Assets verfügen; sie stehen wie andere Menschen in Supermarktschlangen, leiden wie andere auch an Gallenkoliken und freuen sich wie wir, wenn der Frühling kommt.

Im Übrigen halte man es mit Karl Kraus: «Ungewöhnliche Worte zu gebrauchen, ist eine literarische Unart. Man darf dem Publikum bloß ­gedankliche Schwierigkeiten in den Weg legen.»

Im fünften und letzten Teil der Serie: Texte, die abholen, und solche, die locken.