Ganz nackert in der LobauArtistin

Von der Reinlichkeitserziehung zur «Ferkelerziehung»

Der Maler, Bildhauer, Kunsterzieher, politische Aktivist und kommunistische Funktionär Julius Mende starb 2007. Im selben Jahr erschien sein Buch «Die sexuelle Welle», aus dem wir einen Ausschnitt auswählten, der die «Befreiungsübungen» mit den Kindern seines Kinderladens in der 70er Jahren dokumentiert. Heute, unter den Bedingungen der von Revolvermedien dominierten Pädophiliedebatte, wären solche Übungen sofort kriminalisiert.Das Unternehmen «Anal-Malaktion« möchte ich gesondert beschreiben, weil es einerseits die vereinfachten Vorstellungen von Psychoanalyse und Therapie in unserem Kinderkollektiv in der Wiener Tempelgasse offenbart. Andererseits war ein gewisser Höhepunkt in meiner kunstpädagogischen Praxis – angeregt über Vorbilder aus dem Wiener Aktionismus –, Kunst und Leben, Therapie und Malerei miteinander zu verbinden.

Die übertriebene Reinlichkeitserziehung in Bürger- und Arbeiterhäusern war ein wichtiger Kritikpunkt in unseren Alternativvorstellungen. Begründet wurde die Ablehnung der panischen Reinlichkeitsnormen und des «Putzfimmels» im Normalhaushalt mit den Theorien über den «Analcharakter» aus der flugs angeeigneten Psychoanalyse.

Tatsächlich werden über das dauernde Putzen und Waschen bis zum frühen «Gacktraining» am Topf sowie über die Körperpflege reinigende und damit disziplinierende Zwänge schon im frühen Alter auf die Kinder ausgeübt. Solche Torturen sollen für die sogenannte Analfixierung verantwortlich sein, also das Steckenbleiben auf einem kindlichen Entwicklungsniveau, eben der Analphase. Der Analcharakter wird von Analytikern als besonders gewissenhaft, streberhaft, autoritätshörig und als zum bürokratischen Listenführen neigender Menschentyp beschrieben. Da die meisten von uns eine solche Erziehung genossen haben, kam uns die Theorie und die Umkehrung der Reinlichkeitserziehung zur Ferkelerziehung gerade recht, um unseren Protest gegen die eigenen Eltern auszuleben. Zu lernen, was alles «gaga» ist, gehört ja tatsächlich zu den ersten Lernprogrammen für jedes anständig erzogene Kleinkind in unserer Kultur.

Erzieher in der Macht der Kinder

Davon ausgehend entwickelt sich ein klares Wertesystem, das alles Schmutzige, Schlazige, Farbige, Lustvolle – zum Beispiel den eigenen Schwanz zu zirbeln – als ekelhaft vermittelt und damit eben auch die Sexualität. Der freiere Umgang mit Dreck, das Interesse am eigenen Kot, das Mantschen im Essen und das großzügige Bemalen von Wänden. Möbeln und eigenen Körperpartien – all das waren für uns Befreiungsübungen, um bei unseren Kindern und uns selbst den Analcharakter zu bekämpfen. Ziel war, in weitgehender Selbstregulierung der Kinder herausfinden zu lassen, welches Maß an Dreck sie wünschten. Diese Haltung hat freilich nicht dazu geführt, dass unsere Kinder im Dreck auswuschen oder in der eigenen Scheiße umrührten.

Also kauften wir kiloweise Pulverfarben, Mehl, Kleister und andere Materialien. Große Packpapierbahnen wurden in der Lobau ausgebreitet. Die Kinder konnten nackt nach Herzenslust mantschen und pantschen, bis sie schließlich alle Farben spielten. Wenn die Erwachsenen mitmachten, hatte das eine besondere Qualität, da in dem Moment auch das Autoritätsverhältnis in der Farbe versank. Es ist schon ein eigenartiges Gefühl, den ganzen Körper voll mit Kleister zu fühlen.

Wichtig war für die Kinder auch, wie sie die Betreuer attackieren konnten. Ein Erzieher bekam gleich einen Kübel Farbe über den Kopf gestülpt und war somit völlig hilflos in der Macht der Kinder. Freilich entwickelt sich bei diesem wilden Spiel auch der gleiche Mechanismus wie im Kinderladen. Die Wilderen – meist Buben – dominierten die Sanfteren. Im Unterschied von anderen Kindergruppen hatten wir verstanden, dass Selbstregulierung allein nicht funktioniert und dass es notwendig ist, durch die Erwachsenen einen gewissen Schutz für Schwächere zu gewähren.

Nach wie vor halte ich solche «Befreiungsübungen» für sinnvoll – und würde sie in der Schule gern machen. Tatsächlich ist aufgrund der Tabuzonen im öffentlichen Schulwesen so etwas nicht möglich. Einerseits besteht ein Nacktheitstabu. Es ist unvorstellbar, dass sich ein Lehrer, eine Lehrerin vor den Schülern nackt zeigt oder gar mit ihnen herumbalgt. Außerdem ist die Ordnungs- und Reinlichkeitserziehung oberstes Gebot in den öffentlichen Erziehungsanstalten. So blieb es bei zwei, drei ähnlichen Aktionen in den Nachwehen der Studentenbewegung. Die wahre Sprengkraft würde der Wiener Aktionismus doch erst entfalten, wenn er mit dem Normalleben konfrontiert würde, statt in den Museen als Relikt wilder Jahre gefeiert zu werden.

Heute nur mehr mit Jungmanagern

Während einer unserer Aktionen kamen gegen Schluss einige Mütter aus der Nachbarschaft mit ihren Kindern dazu. Die Kleinen waren sauber bekleidet und wollten in den Dreck hinein. Das war ein Zerren und Toben, bis den reinen Kindern klargemacht wurde, dass wir die Schweine waren. Wir sind es geblieben!

Die Vorstellung freilich, man könne den «analen Charakter» dem «Kleinbürger in uns» und in den Kindern so einfach austreiben, ist naiv. Freunde von mir machen inzwischen seit den 1990er Jahren ähnliche Aktionen mit Jungmanagern auf Seminaren, um die neue Erfolgsgeneration ein wenig aufzulockern. Kreativität, Flexibilität und Kommunikationsbereitschaft sind schließlich Qualifikationsmerkmale der «immer freier werdenden Marktmacher». (…)

Meine Texte über Sexualpädagogik aus den 1970er Jahren illustrieren den naiven Erziehungsoptimismus diese Milieus. Wir glaubten wirklich, durch eine freiere Sexualerziehung unserer Kinder diese ich-stärker und lebens- bzw. liebesfähiger machen zu können. Die heutige Kritik an der 68er-Bewegung vermerkt zu Recht sarkastisch, dass wir den Weg für die Konsum- und Sexwelle der letzten 40 Jahre eröffnet hätten. Andererseits bilde ich mir ein, in unseren Befreiungsbemühungen und sexuellen Erfahrungen eben den Funken eines Glücksversprechens erlebt zu haben, der uns auch den Mut zum partiellen Widerstand gegen die Konsumidiotie verliehen hat. Gemessen an den düsteren Wiederaufbaujahren, in denen die Naziideologie mit ihrem Keuschheits- und Abhärtungsgebot und ihrer ganzen Prüderie latent wirksam war, eröffnete sogar die kommerzielle Sexwelle Freiräume. In der Arbeiterbewegung spiegelten sich diese genannten Ideale der Prüderie und der Keuschheit auf perverse Weise.

Die sexuelle Welle. Zwischen Sinnlichkeit und Vermarktung. Promedia Verlag, 2007. Text, Bilder und Fotos mit freundlicher Genehmigung des Verlags.

Der Maler, Bildhauer, Kunsterzieher, politische Aktivist und kommunistische Funktionär Julius Mende starb 2007. Im selben Jahr erschien sein Buch «Die sexuelle Welle», aus dem wir einen Ausschnitt auswählten, der die «Befreiungsübungen» mit den Kindern seines Kinderladens in der 70er Jahren dokumentiert. Heute, unter den Bedingungen der von Revolvermedien dominierten Pädophiliedebatte, wären solche Übungen sofort kriminalisiert.