«Ich bin mir selber ein Rätsel»Artistin

Den Weg in die Öffentlichkeit gefunden die Autorin Hilde Schmolmüller

Hilde Schmolmüller beschreibt sich als «Jungautorin», da sie Ende März ihre erste Lesung bestreiten wird im Alter von 75 Jahren! Der Augustin sprach mit der Autorin über ihr beeindruckendes Buchmanuskript, das vor Jahrzehnten aufgrund eines Psychiatrieaufenthalts entstanden ist, und ihren wiedergefundenen Zugang zum Schreiben.«Wir waren akzeptablere Narren, bessere Narren, Narren erster Wahl. Solche, die sich ihrer Narretei bewusst waren. () Es ging keinerlei Gefahr von uns aus, es sei denn für uns selber», heißt es im mit «Angst» betitelten autobiografischen Roman von Hilde Schmolmüller.
Im Alter von 40 Jahren beförderte eine schwere Erschöpfungsdepression die Lehrerin in die Psychiatrie, wo sie erste Notizen über ihre Angstzustände zu Papier brachte. «Als es mir dann besser gegangen ist, habe ich mir ernsthaft die Frage gestellt, warum ich krank bin, warum bringe ich die Krankheit nicht aus mir heraus?» Sie begann ihr bisheriges Leben akribisch unter die Lupe zu nehmen. Aus dieser gut zehn Jahre dauernden Selbsterforschung resultierte ein 500 Seiten starkes Manuskript, das in verkürzter Form veröffentlicht werden sollte, doch der überraschende Rückzieher des potenziellen Verlegers raubte der Autorin jegliche Motivation, ihr Glück bei anderen Verlagshäusern zu versuchen. Mehr noch, sie schrieb für gut 20 Jahre nichts mehr.

Dieses Erstlingswerk geht weit über Beschreibungen von Angstzuständen hinaus. Es ist vielmehr eine breit angelegte Selbstreflexion einer Frau mittleren Alters, die sich in ihrer Rolle als unglücklich verheiratete Mutter von fünf Kindern, in ihrer platonischen Liebe zu einem unerreichbaren Mann und im gestörten Verhältnis zur Mutter literarisch auszudrücken vermag, auch wenn sie einleitend mit (zu) viel Bescheidenheit konstatiert, «lediglich über sprachliche Mittel einer Hausfrau mit Mittelschulbildung zu verfügen».
Für ihre weit über die Mittelschulbildung hinausreichende Fähigkeit sich auszudrücken gibt es eine einfache Erklärung. Sie sei immer so lesehungrig gewesen, erzählt die Autorin und unterstreicht ihren Lesehunger mit einer Anekdote aus ihrer Kindheit. Wenn ihre Großmutter im Zuge der Bodenreinigung Zeitungen aufgebreitet hatte, hätte sie sich niedergekniet und gelesen.
So wie das Lesen «die trostlosen Zeiten der Kindheit und Jugend zuzudecken» vermochte, war auch das Verfassen des Manuskripts «Angst» eine «Lebenshilfe». Diese vor allem sich selbst gegenüber schonungslose Autobiografie unterscheidet sich von mitleidheischenden Betroffenen-Berichten durch eine auf Ehrlichkeit bedachte und präzise Darstellung der eigenen Person. «Ich habe mich immer bemüht, die Wahrheit zu sagen, soweit man sie selbst erkennen kann. Natürlich ist jede Wahrheit subjektiv, aber gegen Verstellung, Heuchelei und großes Theater habe ich eine tief verwurzelte Abneigung.» An einer Stelle im Manuskript, die beispielhaft für ihren Wahrheitsbegriff steht, heißt es: «Besonders am Abend und umso schlimmer, je erbarmungsloser mich die Macht durch den Tag gehetzt hat und je tiefer die nachfolgende Leere und Erschöpfung sind, quält mich ein Gefühl der Irrealität, der Fremdheit, des Verlustes einer selbstverständlichen Vertrautheit. Wer Kafka gelesen hat, ahnt vielleicht, was ich meine: Die Dinge scheinen eine beängstigende Bereitschaft auszustrahlen, sich ohne mein Zutun verändern zu wollen.»

Zwei nackte Stümpfe

Vor ein paar Jahren begann Hilde Schmolmüller wieder zu schreiben ausschließlich autobiografisch, da sie nicht den Mut gehabt habe, zu erfinden. Sie mache lieber aus eigenen Erlebnissen Geschichten, und genau vor einem Jahr dachte sie sich, sie hätte eine, die gut in den Augustin passen würde. Volltreffer!
In diesem ersten Text für die Straßenzeitung inzwischen wurde ein halbes Dutzend veröffentlicht griff die Autorin einen Augustin-Dauerbrenner auf, und zwar das Thema Betteln. Impulsgeber waren zwei nackte Stümpfe, die ihr ins Auge fielen. «Ich kann nicht anders, es treibt mich, es zwingt mich, ich muss hinüber (zum Bettler, Anm.), entgegen allen mir aus der U-Bahn nachhallenden Aufforderungen, öffentliches Betteln und herzerweichende Zurschaustellung nicht zu unterstützen», ist einleitend im Text mit dem Titel «Unrecht» zu lesen.
Die 75-Jährige hat nach wie vor «ein großes Interesse an Menschen und Freude daran, sie zu beobachten». Unter diesen Voraussetzungen schreibt die in Favoriten in einem «multikulturellen» Haus lebende Pensionistin ihre Begegnungen mit Menschen auf eine sehr direkte Art nieder (vier Begegnungen sind auch auf den Seiten 34 und 35 dieser Augustin-Ausgabe zu finden, Anm.). Ungebrochen ist auch noch ihr Interesse an der eigenen Person, die Selbsterforschung geht weiter: «Ich bin noch immer nicht draufgekommen, warum ich Angst habe, wo kein anderer Mensch Angst hat da bin ich mir selber ein Rätsel.»
Und diesem Rätsel Hilde Schmolmüller kann man Ende März erstmals im Rahmen einer Lesung begegnen. Sie musste nur 75 Jahre alt werden, um sich als «Jungautorin», wie sie augenzwinkernd meint, einem Publikum zu stellen.

Info:

Lesung Hilde Schmolmüller
Am 31. März, um 19 Uhr
Endresstraße 137/Top 2 (Praxis, Eingang Vorgarten)
1230 Wien
Anmeldung erbeten:
E-Mail: spirit.kati@tele2.at
Telefon: 0 676 760 32 19