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Pflichterfüllungskriminalität - Ein Wiener Politchor schämt sich fremd

Eine europäische Zusammenarbeit politischer Chöre bereitet für den internationalen Friedenstag am 21. September eine Hommage an alle vor, die das existentielle Risiko der Fahnenflucht eingingen. Auch die Wiener «Gegenstimmen» sind dabei. Dass im Ersten Weltkrieg das Desertieren aus der k.u.k Armee eine (proletarische, bäuerliche und «lumpenproletarische») Massenerscheinung war, erfuhren sie aus dem Buch des Wiener Historikers Gerhard Senft.«In einem Land, wo in jedem Dorf ein Denkmal für die gefallenen Soldaten der Weltkriege steht, ist es bezeichnend, dass Deserteure verschwiegen werden», so zitiert das Personenkomitee «Gerechtigkeit für die Opfer der NS-Militärjustiz» den grünen Nationalratsabgeordneten und Justizsprecher Albert Steinhauser. «Das österreichische Gedenken widmet sich tendenziell den Täter_innen und nicht Opfern des Nationalsozialismus. Es ist eine Schande, dass es nach 66 Jahren der Befreiung Österreichs durch die alliierten und sowjetischen Streitkräfte noch kein Denkmal für die Opfer der NS-Militärjustiz in Österreich gibt». Dasselbe gilt für die Fahnenflüchtigen des Ersten Weltkriegs.

Ein Denkmal würde zeigen, so Steinhauser, dass es auch Menschen gegeben habe, die sich der sogenannten «Pflichterfüllung» entzogen haben. Genau das solle aber verschwiegen werden, damit der Mythos der Alternativlosigkeit zum Dienst in der Wehrmacht jede Debatte über die Soldatengeneration erspart. »Ich weiß ehrlicherweise nicht, wie ich in dieser Situation gehandelt hätte. Gerade deshalb verdienen die Deserteure für ihren Mut ein Denkmal», meint der Parlamentarier. Inzwischen scheint es realistisch zu sein, dass am Ballhausplatz demnächst ein solches Denkmal entsteht – das rot-grüne Regierungsübereinkommen im Wiener Rathaus hat es auf die Tagesordnung gesetzt.

Zuckmayer und der Elektrikerlehrling

1914-2014: Hundert Jahre nach dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges geschah und geschieht Merkwürdiges. Unter den Gedenkveranstaltungen, die quantitativ alles schlagen, was sich je auf den Feld der Erinnerungspolitik angesammelt hat, fehlt im Großen und Ganzen die Hommage an die Deserteure und Kriegsdienstverweigerer. Umso begrüßenswerter ist, dass der Historiker an der Wiener Wirtschaftsuni, Gerhard Senft, im Löcker Verlag die Textsammlung «Friedenskrieger des Hinterlandes» herausbrachte und dass sich die «Gegenstimmen», Österreichs führender Chor im Genre der Musik des Widerstandes, mit ihrem neuen Programm «Sag Nein! Lieder gegen den Krieg» am europaweiten Projekt «WahnFlucht» beteiligen, das historische Kriegsdienstverweigerung würdigt und zu aktueller Kriegsdienstverweigerung aufruft.

Das Unwissen über diesen Aspekt der Kriegsereignisse bis 1918 scheint umso unverständlicher, als gerade in der Armee der Donaumonarchie Hunderttausende das Weite suchten. Gerhard Senft zitiert in seiner Einleitung den Militärhistoriker Manfred Rauchensteiner, der feststellte, dass es «in England, Frankreich oder dem Deutschen Reich nichts Vergleichbares gab». Auch aus diesem Grunde, so Senft, erweise sich der Mythos eines alle Bevölkerungsgruppen erfassenden Kriegsrausches als falsch. Senft: «Es waren vor allem die Werteliten, die sich anfällig für den von der konservativen Presse beschworenen ,Geist von 1914′ erwiesen». Als Beispiele werden Thomas Mann und Carl Zuckmayer genannt. Erster empfand den Krieg als «Reinigung», letzterer als ein «gewaltiges, berauschendes Abenteuer».

Der Umkehrschluss: «Es waren vor allem die ärmeren und einfachen Leute, die den Ausbruch des Krieges als Unglück erlebten». Senft ruft die Widerständigkeit des Wiener Elektrikerlehrlings Leopold Wietrowsky in Erinnerung. Nachdem er als 17jähriger Anfang August 1914 zur Infanterie eingezogen worden war, desertierte der bisher Unbescholtene drei Wochen später zum ersten Mal. Vier Wochen konnte er sich verbergen, dann wurde er in einem Friseurladen von Polizisten erkannt und sofort festgenommen. Er kam in den militärischen Arrest, nutzte die Unaufmerksamkeit seiner Häscher, um erneut zu fliehen, und wurde diesmal schon nach wenigen Tagen von einer Streife entdeckt. Die Rache der Militärjustiz: zwei Jahre schwerer Kerker. 1916 schließlich verlor der Lehrling Wietrowsky unterwegs zur Ostfront seine Truppe, reiste eigenständig nach Wien zurück und wurde nach einigen Tagen ein drittes Mal verhaftet. Er verweigerte standhaft die Auskunft, wo er sich aufgehalten hatte – das Verstecken von Deserteuren galt als schweres Verbrechen, und der Lehrling wollte niemanden «hineinreißen». Es ist nicht bekannt, wie diese Form von Nicht-Kooperation bestraft wurde.

Dank an alle Gehorsamsverweigerer

Wenn die 40 Sängerinnen und Sänger des Politchors «Gegenstimmen» zusammen mit dem neuen musikalischen Chef Stefan Foidl (der auch Komponist und Jazzpädagoge ist und neben den «Gegenstimmen» auch den Jazz Chor Wien, den Wiener Beschwerdechor und das Kinderchorprojekt «Superar» leitet) historisches Liedgut des Widerstands in die Jetztzeit rettet, bleibt der Fokus nie auf der Vergangenheit. Die «Gegenstimmen» würden kein Programm erarbeiten, dass nicht auch brauchbar wäre für heutige Kämpfe. «Wir danken allen Menschen, die heute ihren Gehorsam versagen, wenn Menschenrechtsverletzungen, Korruption und Datenmissbrauch verlangt werden – unter anderen den Whistleblowern Margit Herbst, Bradley Manning, Julien Assange, Edward Snowden sowie mutigen Journalst_innen und unbestechlichen Politiker_innen», steht im Programmheft. Das Programm vereinigt vertonte Texte von Erich Kästner («Und als der nächste Krieg begann / da sagten die Frauen: Nein!»), Kurt Tucholsky («Ihr wart gut genug zum Fraß für Raben / für das Grab, Kameraden, für den Graben»), Bertold Brecht («Auf der Mauer stand geschrieben / Sie wollen Krieg. Der es geschrieben hat / ist schon gefallen»), Wolf Biermann («Soldaten seh’n sich alle gleich / lebendig und als Leich’»), Boris Vian («Ich leb nicht auf der Erde / damit ich Mörder bin») und vielen anderen.

Einer der Höhepunkte des Programms wird wohl das James Joyce-Poem «Ich werde nicht dienen» sein, das der zeitgenössische Komponist Frederic Rzewsky im Auftrag des Brüsseler «Brecht Eisler Koor» vertont hat. Der Text im Joyce’schen Original: «I will tell you what I will do / and what I will not do. / I will not serve. / That in which I no longer believe / whether it call itself my home / my fatherland or my church: / and I will try to express myself / in some mode of life / or art as freely as I can and / as wholly as I can, using for my defence / the only arms I allow myself to use – / silence, exile and cunning.»

Im Laufe des Augustin-Gesprächs mit einem «Gegenstimmen»-Zehntel vor der wöchentlichen Chorprobe im 4. Bezirk entsteht die Idee einer politisch-künstlerischen Intervention. Ein Bus voller Chormitglieder grast im Umfeld von Wien Orte ab, die über besonders perverse Formen von kameradschaftsbündlerischen Kriegerdenkmälern verfügen. Vor jedem dieser peinlichen Denkmäler wird die Busladung ins Freie gesetzt, wo sie den Geist des Krieges und des Patriotismus, der über diesen Stätten hängt, mit dem bekannten französischen Kriegsdienstverweigererlied «Le Déserteur» symbolisch vertreibt. Eine Reinigungsaktion, zu der jeweils auch die Bevölkerung des betreffenden Ortes eingeladen wird.

GEGENSTIMMEN stellen das neue Programm vor:

Di, 17. Juni, 19.30 Uhr

Kosmos Theater, 1070, Siebensterngasse 42

So, 21. September, 19.30 Uhr

Ehem. Militärgericht, 1010, Hohenstaufengasse 3

Di, 28. Oktober, 19.30 Uhr

Aktionsradius Wien, 1200, Gaußplatz 11