Die Lebensfäden aufnehmenArtistin

Erwin Riess: Geschichte als Bühnenstoff

Eine Reise Franz Grillparzers sowie die Geschehnisse im KZ Loibl Nord sind historische Sujets, die die Grundlagen für zwei Theaterstücke von Erwin Riess bilden. Der in Wien und Kärnten lebende Schriftsteller erklärt, warum die eine Geschichte kein alter Hut ist und die NS-Thematik nie aufgearbeitet sein kann. Von Jenny Legenstein (Text) und Carolina Frank (Foto).

«Mir war zu Mut wie einem der zuerst, nicht aufs Wasser, sondern ins Wasser geht», schreibt Franz Grillparzer am 27. August 1843 in sein Tagebuch. An diesem Tag trat der 53-jährige Dichter und Beamte eine mehrwöchige Reise an, die ihn per Schiff donauabwärts sowie nach Konstantinopel, Troja und Athen führen sollte. Der oft kränkelnde und sich selbst als Hypochonder Bezeichnende notiert penibel seine Befindlichkeiten, beschreibt und beurteilt Mitreisende, Menschen, denen er Besuche abstattet oder denen er zufällig begegnet, insbesondere befindet der lebenslange Hagestolz über das Aussehen von Frauen. Landschaften und Bauwerke schildert er in knappen Worten ohne Schwärmerei. Ebenso schätzt Grillparzer die politischen Situationen der durchreisten Länder illusionslos ein. Wie kam Erwin Riess dazu, das Reisetagebuch des zu Unrecht als verstaubt geltenden Schriftstellers als Ausgangspunkt eines Theaterstücks zu verwenden? Er sei gefragt worden, ob er sich vorstellen könne, Minidramen des Dichters «fertigzuschreiben», was er abgelehnt habe. Aber zufällig habe er damals das wenig bekannte Reisetagebuch gelesen gehabt, «weil ich an der Donau so interessiert bin als Donaufan und Donauliebhaber», erzählt Riess. «Es ist eine ganz ungewöhnliche Geschichte, weil damals gab es erst seit sieben Jahren einen Linienverkehr ans Schwarze Meer. Es gab noch kein Eisernes-Tor-Kraftwerk. Er musste noch umsteigen, mit einem Ruderboot durch die Schlünde, Abgründe und Strudel des Eisernen Tores und dann in ein anderes Schiff wieder umsteigen. Das war wirklich gefährlich. Es hat am Unterlauf der Donau Malaria gegeben. Das hat er alles auf sich genommen.»

Das Lesen von Dramen des österreichischen Nationaldichters in der Schule sei fad und öd gewesen, gibt Erwin Riess zu, doch das «Tagebuch auf der Reise nach Konstantinopel und Griechenland» sei humorvoll und mit großen Einblicken. Er habe Grillparzer erstaunlich modern empfunden. «Das ist ein Mann, der durchaus in der Lage ist, seine eigenen Schrullen, Beschränkungen, Zweifel zu reflektieren und mit ihnen umzugehen. Diese Schreibkrise, die er da beschreibt, hatte er ja tatsächlich, weil er es nicht mehr ausgehalten hat. Man muss sich eines vergegenwärtigen: In dieser Zeit war Wien kein lustiger Platz. Da waren schon die ersten Vorboten der 48er-Revolution, es gab Hungerrevolten.» Eines fasziniere ihn an Grillparzer wirklich – «Er war der Erste, der gesehen hat, wenn die Geschichte weiterläuft in Richtung bürgerliche Entwicklung, wird es eine nationalistische bürgerliche Entwicklung.» In den Wirtshäusern in Wien trafen sich die Nationalisten verschiedener Ethnien «und alle haben sie schon Pläne gewälzt, wie sie die anderen Nationen unterdrücken werden, wenn sie nur einmal das Joch der Dynastie abgeschüttelt haben werden. Das hat mich an Grillparzer interessiert, dass er das schon sehr früh gesehen hat. Er war nicht Gegner der Revolution, aber er hat gesehen, wohin die Revolution unter diesen führenden Leuten wahrscheinlich hindriften wird – was auch so war.»

Weshalb gedenken

Geschichte an sich existiert nicht, sie ist das, was gelehrt, erzählt, über verschiedene öffentliche Medien vermittelt wird, schreibt 1994 der marxistisch orientierte Historiker Eric Hobsbawm (1917–2012) sinngemäß in einem Artikel für «Die Zeit». Auf Hobsbawm bezieht sich auch Erwin Riess in seiner Rede, die er 2014 bei der Internationalen Gedenkveranstaltung beim ehemaligen KZ Loibl Nord hielt: Die Vergangenheit sei Bestandteil der Gegenwart, Hobsbawm sagt: «Die Zeitspanne, die wir als gegenwärtig empfinden, reicht über mindestens drei Generationen.» In besonderen Fällen dauerte die Gegenwart für immer. Auch aus diesem Grund sei ein Aufarbeiten oder Bewältigen der Vergangenheit nicht möglich. Vielmehr gehe es darum, stetig Fäden aufzunehmen. «Die Lebensfäden der Ermordeten mit jenen der Überlebenden zu verknüpfen, ist die einzige Möglichkeit, wie die vergangene die zukünftige Gegenwart anzuleiten vermag.» Deshalb brauche es regelmäßige Veranstaltungen, «in denen die Menschen sich ihrer Stellung in der Gegenwart bewusst werden», so Riess in seiner Rede.

Im Fall des ehemaligen KZ Loibl Nord dauerte es bis Mitte der 1990erJahre, dass jährlich offiziell der Opfer gedacht wurde. Hochrangige Politiker_innen nehmen an der Gedenkveranstaltung teil. Dass Jörg Haider sich bei solcher Gelegenheit nicht sehen ließ, verwundert nicht, auch Gerhard Dörfler blieb der Veranstaltung stets fern. Gegenüber der «Kleinen Zeitung» meinte der damalige Landeshauptmann Kärntens 2009: «Ich sehe nicht ein, dass man jedes Mal Kränze niederlegen soll.»

Im März 1943 begann am Loibl der Bau eines Tunnels, um die Versorgung der NS-Truppen im Süden sicherzustellen. Neben Zivilarbeitern wurden über 1600 KZ-Häftlinge und Kriegsgefangene für den Tunnelbau herangezogen, an den beiden Tunnelenden wurden Lager als Nebenstellen des KZ Mauthausen errichtet. Arbeitsunfähig Gewordene wurden nach Mauthausen – und somit in den nahezu sicheren Tod – geschickt. Rund 40 Personen starben im Lager an Unfällen und Krankheiten, oder wurden durch die SS oder den Lagerarzt Sigbert Ramsauer getötet.

Während auf der slowenischen Seite des Tunnels seit 1955 ein beeindruckendes Mahnmal steht, gab es auf österreichischer Seite lange nur eine kaum sichtbare Tafel unmittelbar am Tunneleingang. Mittlerweile wurden Teile des von der Natur überwucherten Geländes freigelegt, die Errichtung eines Mahnmals ist in Planung. Zu verdanken ist dies in erster Linie dem Historiker Peter Gstettner, der die Geschichte des KZs erforschte und sich hartnäckig für eine adäquate Erinnerungskultur einsetzt. Gstettner beriet Riess übrigens auch historisch beim Verfassen seines Stücks «Loibl-Saga», das am 2. Dezember vom klagenfurter ensemble und dem teatr trotamora uraufgeführt wird. Die Idee, sich mit den Vorgängen im KZ in dramatischer Form auseinanderzusetzen, kam Erwin Riess, als er das Gelände anlässlich der oben genannten Gedenkfeier besichtigte. «Es ist zu steil, um mit dem Rollstuhl dort zu fahren, und so durfte ich mit dem Auto hineinfahren. Peter Gstettner ist daneben hergegangen, und plötzlich kommt er zu mir und hat ein Stück Stacheldraht in der Hand. Er hat gesagt: Das ist noch vom KZ von den umlaufenden Stacheldrahtzäunen. Und das hat mich zu Bildern geführt», erinnert sich Riess. «Eigentlich müsste man ein Theaterstück machen», meinte er bei der Rückfahrt. Gerhard Lehner, der Leiter des klagenfurter ensembles, sei sofort interessiert gewesen. So ist es zu dem Auftragswerk gekommen. Regie führt Marjan Štikar, der auch das teatr trotamora leitet, ein seit 1993 aus Professionellen und Laien bestehendes Künsterl_innen-Ensemble, dessen Aufführungen in slowenischer Sprache oder mehrsprachig stattfinden.

«Loibl-Saga» spielt überwiegend im KZ, beinhaltet aber auch Szenen aus der unmittelbaren Nachkriegszeit und der Gegenwart. Drei junge Gefangene sind die Hauptfiguren des Dramas. Erwin Riess erläutert: «Die Lagerältesten, die von der SS eingesetzt wurden, waren dort meistens Berufsverbrecher. Und die haben sich junge, 17-, 18-jährige Buben, zwangsweise als Liebhaber untertan gemacht, und das ist eigentlich die Geschichte von drei dieser jungen Männer, die permanent missbraucht wurden auf die schlimmste Art aller vorstellbaren Arten. Das Stück erzählt aber auch von der Solidarität, die sie auf der anderen Seite erfahren haben und wie die Kämpfe im Lager abgelaufen sind gegen diese Kapos.»

Peter Gstettner, Erwin Riess «Loibl-Saga»

Erzählungen und Texte, mit einem Vorwort von Gerhard Lehner

Klagenfurt/Celovec 2015

146 Seiten, 15 Euro

www.kitab-verlag.com

INFO:

«Herr Grillparzer fasst sich ein Herz und fährt mit einem Donaudampfer ans Schwarze Meer»

20., 21., 28., 29. Oktober 2015, jeweils 20 Uhr

Salon5 im Brick-5

Fünfhausgasse 5

1150 Wien

www.salon5.at

www.brick-5.at

«Loibl-Saga». Ermordung, Verfolgung und Solidarität im Konzentrationslager Loibl-Nord

Ein Auftragsstück des klagenfurter ensemble in Kooperation mit teatr trotamora, wissenschaftliche Begleitung: Univ.-Prof. Dr. Peter Gstettner

Uraufführung/Premiere: 2. Dezember 2015

Aufführungstermine: 3., 4., 5., Dezember 2015, 20 Uhr in Klagenfurt/Celovec;

Ort: theater HALLE 11, Messeplatz 1, 9020 Klagenfurt

10., 11., 12. Dezember 2015, 20 Uhr und 13. Dezember 2015, 15 Uhr in Šentjakob v Rožu/St. Jakob im

Rosental

www.klagenfurterensemble.at