Mit Kraus spotten lernenArtistin

Das zweite Leben einer Augustin-Serie

Erinnern Sie sich, dass der Augustin die Zumutungen des Mozartjahres überstand, indem er das Jahr 2006 zum Karl-Kraus-Jahr erklärte? Richard Schuberths (fast) unendliche Serie zu seinem Lieblings-Satiriker ist seit kurzem kompakt in Buchform zu genießen. Die 30 Anstiftungen zum Wiederentdecken von Karl Kraus beginnen mit dem Thema Sprache. Denn Worte leisten zuweilen eine tödliche Arbeit, wenn sie nicht beobachtet werdenDieser Tage besuchte ich den aus Nürnberg stammenden Fotografen, Autor und Allroundkünstler Victor Halb in seiner Wohnung in der Messenhausergasse im dritten Bezirk. Das Dichter-Arbeitszimmer, das Vorzimmer und das Klo hat er zum Mini-Museum erklärt, das war der Grund des Treffens. Rat mal, wer mein Säulenheiliger Nummer eins ist, schlug er mir vor. Ich tippte spontan auf Peter Weiss, weil aus Halbs Bücherregalen die Ästhetik des Widerstands sofort ins Auge stach. Nein, es war ein Österreicher, korrigierte Halb. Er hieß Karl Kraus. Dessen Kritik der Sprache und ihres Bastards, der journalistischen Phrase, sei so einzigartig, seine Methode, jeden Begriff abzuwägen (Worte, wenn sie nicht beobachtet werden, leisten zuweilen eine tödliche Arbeit), sei so modellhaft, dass es ihm skandalös erscheine, dass Kraus Sprachkritik im Deutschunterricht praktisch nicht verwendet werde. Sämtliche sprachkritische Stellen im uvre Karl Kraus sammelte er für ein in Eigenregie und in Mini-Auflage herausgegebenes Buch, das ein mögliches Unterrichtsmaterial (Titelvorschlag: Karl Kraus für den Deutschunterricht) vorwegnimmt.

Das erinnerte mich an ein Ernst-Krenek-Zitat, das mir Richard Schuberth aufdrängte, als er Mitte 2005 mit der oberflächlich gesehen wahnsinnigen Idee auftauchte, eine schier nie enden wollende Serie zur Würdigung von Kraus ausgerechnet im Augustin zu platzieren: Als man sich gerade über die Beschießung von Shanghai durch die Japaner erregte und ich Karl Kraus bei einem der berühmten Beistrich-Probleme antraf, sagte er ungefähr: Ich weiß, dass das alles sinnlos ist, wenn das Haus in Brand steht. Aber solange das irgend möglich ist, muss ich das machen, denn hätten die Leute, die dazu verpflichtet sind, immer darauf geachtet, dass die Beistriche am richtigen Platz stehen, so würde Shanghai nicht brennen.

Ich versuchte mir nun einen durchschnittlichen Deutschprofessor vorzustellen. Der behauptete Zusammenhang von korrektem Beistrich und Frieden wird ihm ein Rätsel bleiben. Die Behauptung des Zusammenhangs würde ihm derartig suspekt erscheinen, dass er die pädagogische Qualität von Kraus und speziell deren Anwendbarkeit im Deutschunterricht negativ beurteilen würde. Mein imaginierter Deutschprofessor hat die beiden Kapitel Kraus und die Sprache weder im Augustin noch später in Schuberths Buch 30 Anstiftungen zum Wiederentdecken von Karl Kraus gelesen. Hätte er sie gelesen, könnte er nachvollziehen, warum für Karl Kraus die Unachtsamkeit gegenüber der Sprache unverzeihlich war.

Aus 24 Kapiteln wurden 30

Kraus Sprachkritik sei das Startthema seiner für den Augustin vorgeschlagenen Reihe, sagte Schubert, ihm würden Abhandlungen über Kraus und die Frauen, Kraus und den Witz, Kraus und Nestroy, Kraus und die Justiz, Kraus und die Sexualität, Kraus und den Sozialismus, Kraus und den Austrofaschismus, Kraus und Hitler, Kraus und die Juden und vieles mehr folgen. Der in Wien lebende Schriftsteller Richard Schuberth, unseren LeserInnen als Augustin-Lektor, -Essayist und -Cartoonist bekannt, überzeugte uns in Sekundenschnelle: 2006 erklärte der Augustin zum Karl-Kraus-Jahr und kündigte eine 24-teilige Artikelserie an.

Die Erwartungshaltung der Augustin-Fangemeinde war ambivalent. Auch skeptische Stimmen waren zu hören. Für ein Blatt vom Schlage Augustin sei das Vorhaben wohl etwas überkandidelt. Andere warnten uns vor der Versuchung, sich mit falschen Federn zu schmücken und auf eine Seelenverwandtschaft zwischen dem Krausschen und dem Augustin-Journalismus hinzuweisen. Der Augustin sei nicht einmal annähernd das, was anno dazumal die Fackel war. Ich kann dem nur voll zustimmen. Unter meiner Ägide hätte die Idee der sprachlichen Sorgfalt nie siegreich sein können. Ich erinnere mich an den Satz, mit dem ich die redaktionelle Ankündigung der Kraus-Serie begann: Ab Jänner gehts krauslich zu im Augustin. In seiner doppelten Eigenschaft als Kraus-Fan und Lektor strich Richard Schuberth diesen Begriff krauslich, den er als kindische Anbiederung an eine saloppe und humorige Journalisten-Schreibe abtat.

Dass das Kraus-Jahr dann zu eineinhalb Jahren Kraus-Hommage geriet und dass aus den geplanten 24 Kapiteln schließlich 30 wurden, lässt erahnen, wie nachtragend ich bin. In nur leicht abweichender Form liegen sie seit kurzem in Buchform vor. Dem Augustin ging es bei seinem Kraus-Langzeitexperiment vor allem darum, Karl Kraus aus dem Fachdiskurs wieder einem breiteren Publikum zuzuführen. Mit dem beim Verlag Turia + Kant erschienen Buch ist nun wiederum der Fachdiskurs bestens versorgt: Die Lektüre eines Buches erleichtert etwas, was die stotternde Verfolgung einer Fortsetzungsserie über eineinhalb Jahre hinweg erschwert: die Sicht auf den ganzen Menschen Kraus.

Wie Kraus alle seine linken Freunde enttäuschte

Mit Kraus denken und spotten zu lernen, ohne Jünger eines Säulenheiligen zu werden. So beschrieb mir Schuberth seinen Beitrag zur Kraus-Rezeption. Dass er approximativ zum Jünger eines Säulenheiligen geworden sei, haben ihm schon vereinzelte Augustin-LeserInnen vorgeworfen und werden ihm auch KäuferInnen des Buches vorwerfen. Kraus würde sich keiner Talk-Show, keiner Podiumsdiskussion, keinem Kulturjournal, keinem basisdemokratischen Tast-, Fühl- und Kennenlernseminar ausliefern, wo man heute Plauderton und herrschaftsfreien Diskurs pflegt, behauptet Schuberth. Und das klingt in der Tat apologetisch. Kraus Vorträge, etwa während des Ersten Weltkriegs, hatten Show- und Kultcharakter, waren besucht wie gute Fußballmatches. Wie kann man wissen, dass Kraus heute Talk-Shows verschmähte?

Und verharmlost Schuberth nicht einen der größten Fehler des Fackel-Machers, seine Einschätzung des Austrofaschismus? In der ebenfalls heuer in Buchform erschienenen Aufsatzsammlung Konstantin Kaisers, Ohnmacht und Empörung fand ich eine Bemerkung Berthold Viertels, den die Haltung seines Freundes Kraus in dieser Frage sehr enttäuschte. Viertel war durch Kraus in die Literatur eingeführt worden. In Viertels Nachlass befindet sich ein Manuskript zu diesem Krausschem Fauxpas: Was Kraus im Jahre 1934 durch die Totengräber der Republik für errettbar hielt, war der letzte Rest deutschsprachiger Zivilisation, die Österreich hieß (…) Er beging den großen, ihm sonst so unähnlichen Fehler, sich verzweifelt an das vermeintlich kleinere Übel zu klammern, das doch das größte notwendigerweise im Gefolge hatte.

Ich könnte auch noch hundert weitere Beispiele linker Kritik an Karl Kraus bringen, die ich bewusst unterschlagen habe. Es gibt viele kleine Schwächen, mit der man sich gerne vor Kraus‘ größter Stärke, der Sprachkritik, schützt, so kommentiert Schuberth die von ihm selbst vorausgesagten Formen der Relativierung der Bedeutung des Krausschen Gesamtwerks. Er sei nicht sehr beeindruckt von diesem linken Kraus-Bashing. Das Buch Schuberths birgt eine derartige Fülle von Kraus tatsächlichem Der-Zeit-voraus-Sein, dass manche linke Kritiker wie die sprichwörtlichen bellenden Hunde am Rande einer davon gänzlich unbeeindruckten Karawane ausschauen. Unvorstellbar, dass ein Marxist auf die Idee käme, von oben verordnete und organisierte Gemütlichkeit als das Entbehrlichste auf dem Sektor der Urbanität zu verneinen: Ich verlange von einer Stadt, in der ich leben soll: Asphalt, Straßenspülung, Haustorschlüssel, Luftheizung, Warmwasserleitung. Gemütlich bin ich selbst. Ich verehrte diesen Gedanken schon, als ich nicht wusste, dass er von Karl Kraus gedacht worden war. Obwohl er das, was ich von einer Stadt verlange, noch nicht enthält: eine Bim, die am Tag mit Drei-Minuten-, die ganze Nacht mit Zehn-Minuten-Intervallen unterwegs ist und die mich überallhin gratis bringt. Zum Beispiel zum Heldenplatz, an dem hoffentlich nicht fernen Tag, an dem mit einem Volksfest die Umbenennung in Karl-Kraus-Platz gefeiert wird und ein gewisser Richard Schuberth die Rede zur Enthüllung der neuen Beschilderung hält.

Info:

Richard Schuberth

30 Anstiftungen zum Wiederentdecken von Karl Kraus

Verlag Turia + Kant

Wien 2008