Peter Altenberg, der Gerade-Schreiter eine CollageArtistin

Anstiftungen zum Wiederentdecken von Karl Kraus, Teil 28

Ich werde immer kürzer in meinen Gedankengängen, und das heißt also immer besser, immer weniger zeitraubend! Zum Schluss werde ich gar nichts mehr sagen. Das wird das Beste sein. Da wird mich einer nur anschaun brauchen und sagen: Ich weiß schon! Eine kann es jetzt schon, sie heißt Paula!

Peter Altenberg

Peter Altenberg ist ein Genie der Nichtigkeiten, ein seltsamer Idealist, der die Schönheiten der Welt wie Zigarettenstummel in den Aschenbechern der Kaffeehäuser findet.

Franz Kafka

Es gibt so viel zu schauen und zu staunen! Innezuhalten, zu verharren! Stillgestanden, Allzugeschäftiger! Nütze deine Augen, den Rothschildbesitz des Menschen! Wir wollen euch nur zeigen, woran ihr blindlings vorüberraset!

Peter Altenberg

Ich habe mich mein ganzes Leben redlich geplagt, gar nichts zu leisten, und jetzt will man mich nicht einmal für ein Genie halten, das geht nicht, irgendetwas muss man doch vorstellen in einer geordneten Gesellschaft

Peter Altenberg

Von all den Dichtern der Wiener Jahrhundertwende war Peter Altenberg derjenige, der dem Geist des Augustin am nächsten käme, und einer der wenigen, die Karl Kraus gelten ließ. Seine Würdigung des skurrilen Freundes zeigt schön, wie sich Originalität auch trotz Auffassungsunterschieden in Ästhetik, Stil und Weltwahrnehmung Respekt zollen lässt einer Originalität, die im Falle Altenbergs so wenig Pose war, dass sie sich augenzwinkernd hinter einer solchen verstecken konnte.

Der 1859 als Richard Engländer in eine jüdische Bürgerfamilie geborene Altenberg baute seine schrullige Individualität auf der Übertreibung beinahe aller ästhetizistischen und lebensphilosophischen Moden seiner Zeit und ihrer gleichzeitigen Ironisierung Impressionismus und Naturromantik, urbane Bohème und reformerische Askese. Es gibt wenige Dichter, die in der Kollegenschaft solch einen Eindruck hinterließen wie er, zumindest bot seine zumeist beabsichtigte Widersprüchlichkeit Anlass für dialektische Sprachübungen kaum einer, der dem Phänomen Altenberg nicht ein anerkennendes literarisches Denkmal gesetzt hätte und ihn dennoch hinter seinem Rücken verlachte. Die ihm eigentümliche Komplementarität von Anerkennungssucht und selbstloser Menschenliebe lieferte ihn anders als Kraus den Zeitgenossen im Café aus, die ihm mal an den Lippen hingen, mal ihren Schabernack mit ihm trieben. Die literarischen Porträts gleichen einander und bekunden Adabeigewesensein: das karierte Jackett, darüber ein Gürtel, der Knotenstock, die zu kurzen Hosen und die Holzsandalen Alfred Polgar: Sie machen zu viel Aufsehen!, sagte der Wachmann. Zu wenig!; schrie der arme Peter, zu wenig! Und manchmal breitete er unter seinem Cape die Arme weit aus und machte flatternde Flügelschläge und Lina Loos vermeinte ihn in der Tat fliegen gesehen zu haben. Eine eigenartige Mischung aus Dandy und Gammler, Erotoman und Asket, Ästhetizist und Materialist, Astheniker und Vitalist, Schnorrer und Geizkragen, radikaler Hutgegner und -träger, Gesundheitsreformator und Alkoholiker, niemand verdiente sich durch überzeugendere Predigt des Wassers seinen Wein redlicher. Altenbergs geistige Größe, wie wenige nur erkannten, lag nicht im beharrlichen Verfolgen irgendeiner Richtung, sondern im kunstvollen Aussteuern dieser durch ihre jeweilige Gegenrichtung, was nur einschrötigen Gemütern als Relativismus erschien.

In Nachfolge Baudelaires führte er einen fragmentarischen Stil in die Literatur des Fin de Siècle ein, den Kraus einmal Telegrammstil der Seele nannte und der auch heute noch Aktualität für sich beanspruchen darf, seine poèmes en prose: kurze flüchtige Impressionen, subjektive Porträts des Stadtlebens, schnelle Kalt-Warm-Duschen romantischer Überhöhung und sarkastischer Desillusionierung, geschickte Verquickung von hohem und niederen Ton. Er poetisierte die Gosse, ohne sie zu ästhetisieren, während die Bourgeosie seine ganze Derbheit abbekam. Das altbackene Pathos seiner romantischen Idealisierungen von Natur, Frauen, Freunden übertrieb die Moden seiner Zeit und wusste er schockartig wie ein zen-buddhistischer Meister in Ironie aufzulösen, die so aufrichtig war wie sein Pathos selbst und an der es den tiefernsten Rilkes und Hofmannsthals fehlte. Sein ganzes Leben, resümierte Polgar, hatte so was Anti-Papierenes, Schreibtisch-Müh-Entwertendes, Etikette des Berufs Missachtendes. () Er tobte Essays, stegreifte Dramen, lebte Lyrik. Seine Tinte war: Nervensaft.

Nur im Wissen um deren Bedingt- und Lächerlichkeit triumphiert dieser Schwärmgeist auch 100 Jahre später über die Überspanntheiten seiner Epoche. Adorno hat Altenbergs Zeitlosigkeit schön skizziert: Dieses Werk wird in der Zeit bis ins Innerste sich verändern. Was wir heute als falsche Zartheit daran fühlen, wird von der echten Härte als Narrenmaske abfallen Und Karl Kraus sprach ihm ins offene Grab: Sie ahnten nicht, dass die Narrenkappe, mit der Du sie spielen ließest, nur Deine Tarnkappe war, Dich vor ihnen zu schützen und sie doch zu durchschauen.

Keine der vielen Anekdoten über Altenberg erhellt diese notorische Abfolge von idealistischem Pathos und materialistischer Pathoszertrümmerung besser als folgende von Hugo von Hofmannsthal kolportierte: Anfang 1904 ging es A. psychisch und pekuniär sehr schlecht. Es wurde in einem Haus des Kreises eine Versammlung der Freunde einberufen, um zu beraten, wie ihm zu helfen wäre. A. selbst, in einem Fauteuil, etwas abseits der anderen, aber im gleichen Zimmer, wohnt der Beratung bei. Er verdeckt das Gesicht mit der Hand. Ich bin ein Bettler und ein Sterbender; murmelt er vor sich hin, was wollt ihr von mir? Lasst mich ruhig sterben. Verschiedene erheben sich und bringen Anträge vor, wie für seine Gesundheit und sein Auskommen zu sorgen wäre. Er winkt ab, dann wieder, zitternd im Fieber, scheint er gar nichts zu achten. Da steht die hübscheste Frau des Kreises auf: die junge zarte Frau X. Ich liebe A. mehr als alle, sagt sie, ich liebe seine Seele und die Gebärden seiner Seele. Und ich weiß nichts Schöneres, als ihn so zu sterben zu sehen, in einem Winkel, mit einer dürftigen Decke zugedeckt. O rührt nicht an das Wunder dieses Sterbens. Pauvre Lélian! Wer wollte ihn um die Schönheit seines Endes bringen? Da schnellte A. wütend aus seinem Fauteuil auf: Dumme Gans, schreit er sie an, verfluchte dumme Gans! Ich will nicht sterben! Ich will leben! Ich will ein warmes Zimmer und einen Gasofen, einen amerikanischen Schaukelstuhl, eine Rente, Orange Jam, Kraftsuppe, Filets mignon; ich will leben! Nicht anders verhielt es sich mit seiner entzückend-lächerlichen Erhöhung von Mädchen, Frauen, Huren, Exotinnen, die urplötzlich von entlarvender Derbheit unterbrochen werden konnte, wenn er dem Mann z. B. die Lächerlichkeit seiner Sexualität aufrechnete: Den Frauen kommt es immer zu spät ; denn der Mann hält einfach die endlosen vorbereitenden Stadien physiologisch nicht aus! Solange kann der Mann gar nicht warten, bis die Wollustdrüsen der Frau ernstlich spritzen! Daher begnügt sich der eitle Idiot mit der Komödie, die sie ihm, halb-nass, vorspielt. Peter Altenberg gilt als Frauenverehrer. Er war es nicht!, brachte Lina Loos die Kehrseite seiner Minne auf den Punkt: Er hat uns gehasst. Er hat uns Frauen gehasst, wie er reiche Leute hasste, die ihren Reichtum nicht zu verwenden wussten. Er, der so viel Schönheit erkannte, verzweifelte an den Frauen, wenn er sie Wertvollstes an die untauglichsten Objekte vergeuden sah.

Der erste Dichter und letzte Schmierer

Der Einzige in seinem täglichen Umgangskreis, erinnerte sich Erich Mühsam, von dem ich spürte, dass er mit seelischem Respekt vor dieser hinter allem Spaßhaften großen Persönlichkeit stand, war Karl Kraus. Die tiefe Freundschaft wurde auf eine Probe gestellt, als Altenberg im Mai 1912 in die Psychiatrie eingeliefert wurde und der Workaholic Kraus schlicht auf ihn vergaß. Altenbergs Freundin Helga Malmberg an Kraus: Sonst haben Sie mich als Peters Freund tief enttäuscht. Ich muss Ihnen das einmal mitteilen, denn ich habe in der Beziehung allzu viel Bitterkeit in mir, Peters so genannten besten Freunden gegenüber! Keine Antwort, keine Anfragen, kein Gruß kam von Ihnen während der fünf Wochen, die wir hier sind. Nicht einmal telefonisch haben Sie sich nach Peters Befinden erkundigt. Solange er gesund war, lachte man über seine Witze, jetzt, wo er so sehr der Freundschaft bedarf, hat man ihn als irrsinnig abgetan. Kraus entgolt seine Schuld durch die Finanzierung eines Kuraufenthaltes für seinen Freund im Salzkammergut.

Viele von Altenbergs gar schnell verfassten Alltagsnotizen müssen Kraus missfallen haben. Vieles muss auch er überspannt oder schludrig gefunden haben. Handelte es sich bei seiner Wertschätzung vielleicht doch um deren erniedrigendste Form: Aufwertung der Person bei Missachtung seiner Kunst, oder die Instrumentalisierung eines Freundes, den man insgeheim nicht ernst nimmt, gegen dessen Sache für die eigene. Mitnichten. Wo ihm Altenberg missfiel, war dieser seiner Kritik sicher. Immerhin beschrieb ihn Kraus in deutscher Sprache als ersten Dichter und letzten Schmierer, ein von Geist Inspirierter und ein von der Presse Missbrauchter. Peter Altenberg war die Liebe seines ehrfürchtig bewunderten jüngeren Freundes manchmal nicht geheuer, doch wagte er nicht an dessen Motiven zu rütteln:

Über Karl Kraus muss ich mich auch äußern. Wenn alle Gebildeten, Aufrichtigen, Unabhängigen sein Angreifertalent, seinen Witz, seine Wortbeherrschung hätten und zugleich eine Fackel, mit der sie leuchten, zünden, in Brand stecken könnten, so käme die etwas träge Welt der so genannten geistigen Entwicklung um ein gutes Stückchen weiter. Es würden keine Berge versetzt, aber die Augiasställe des Lebens und Treibens einer gründlichen Säuberung unterzogen werden () Mich hat sie (Die Fackel, R. S.), Gott sei Dank, noch nicht hinweggefegt, da ich für sie die Immunität eines ungefährlichen und höchst talentierten Narren genieße. Hie und da schreibe ich halt doch etwas, was den Hohen Scheurer wieder versöhnt, wie eine prächtige Vorfrühlingsstimmung auf dem Semmering, über die er ehrlich begeistert war gleich mir selbst! Ich sagte: Aber bitte, bitte, Liebster, es ist ja doch nur eine Kleinigkeit! Was?!, schrie er mich an, das eine Kleinigkeit?! Und ich verstummte.

Wir haben uns beide sehr gern, ich ihn und er mich, also gegenseitig, aber ich habe ihn noch lieber, denn er bezahlt mir für jeden Tag, an dem ich über ihn nichts Böses sage, eine Krone. So habe ich für das Jahr 1911 allein schon 4 Kronen 50 Heller erhalten.

Die niederträchtige Erhabenheit des gesunden Verstands

Selbstredend wurde Altenbergs Subjektivismus als Egomanie ausgelegt, in dem einzig Kraus eine Weltläufigkeit und Selbstlosigkeit erkannte, die ihrer beider Kritiker nie aufbringen konnten. Altenberg konterte einem solchen: Ja, dieser Mensch kam eben leider mit mir auf die Welt, verließ mich nicht eine Sekunde lang während 52 Jahren. Da nimmt man freilich manche Eigenheiten an, die man unter anderen Umständen nicht besäße. Wer solch eine Ironie aufbringt, in dessen Eitelkeiten spiegelt sich mehr Welt als Ego. Zeit seines Lebens sowie danach wusste Kraus den Freund zu verteidigen: Die bequemste Vorstellung war die Annahme, er sei ein Poseur: er, der zeitlebens nichts anderes getan hat als die Konvention der Vorstellung zu durchbrechen. Oder er sei ein echter Narr. Denn das Staunen des gesunden Verstandes, dessen niederträchtige Erhabenheit sich hier voll entfaltet, sieht bloß die gelockerte Schraube und fühlt die bewegende Kraft nicht, die den Schaden schuf, um an ihm zu wachsen. Nicht ohne Hintergedanken versuchte Kraus den jungen Bertolt Brecht von Altenberg zu überzeugen. Entschuldigen Sie, antwortete ihm dieser, aber wenn ich den lese, da geht bei mir ein eiserner Vorhang herunter. Heinrich Fischer: Ich erinnere mich genau an diese Wendung, die später eine größere metaphysische Bedeutung erlangen sollte. Brecht, selbst ein begnadeter pseudoproletarischer Poseur, durfte als frischgebackener Marxist und Ringer mit dem eigenen bürgerlichen Narzissmus Altenbergs apolitischen Introspektionen nichts abgewinnen. Warum aber Kraus und Adorno gerade diesen mehr gesellschaftsdiagnostische, ja -kritische Kraft zugestanden als der beherztesten politischen Aufdeckungsliteratur, dafür mangelte es Brecht auch am Verständnis eines für nördliche Gemüter undurchdringlichen und scheinbar windigen südlichen Humors, welche selbst die inhaltlich bedenklichsten Texte eines Altenberg aufwertet.

Treue im Unbestand, rücksichtslose Selbstbewahrung im Wegwurf, Unverkäuflichkeit in der Prostitution, so charakterisierte Kraus Peter Altenberg bei dessen Begräbnis 1918.

Doch Altenbergs leichtfüßig-beiläufiger Ton, der epigrammatische Charakter seine Texte, verband das nicht Altenberg mit Heinrich Heine? Wie konnte Kraus jenen zum Vorbild erkoren und diesen verdammen? Wo doch dieser auch noch als explizit politisch gilt. So lautete die Preisfrage, deren Beantwortung dem definitiven Knacken des Kraus-Codes gleichkäme, einem Zertifikat des unwiderruflichen Verständnisses von Karl Kraus Denken. Peter Altenberg selbst kam der Lösung ziemlich nahe, als er in einem entzückend infantilen Moment der erstaunten Selbstbespiegelung in einem von Kraus Komplimenten dieses weiterspinnt: Keinerlei Konzessionen machen können, selbst wenn es einem noch so sehr schadet, bei der Frau, bei den Vorgesetzten, im Leben überhaupt, ein Gerade-Schreiter! Sein hinein in den eventuellen Abgrund seines eigenen, von Natur aus teilweise vorbestimmten Schicksals, heißt Ein Echter sein!