Pochender Knochen, gieriges HerzArtistin

Albertine Sarrazin, Kind der wegsperrenden Institutionen, wird wiederentdeckt

Paris 1964: Eine 27-Jährige erzählt ihre Flucht aus dem Gefängnis und die Holprigkeit ihrer neuen Freiheit in einem preisgekrönten Roman. «Der Astragal» hat Albertine Sarrazin kurzzeitig berühmt gemacht. Fast 50 Jahre nach ihrem Tod ist er als Neuübersetzung und als Graphic Novel zurück in den Buchhandlungen.1964, da ist Albertine Sarrazin 27, schreibt sie – in einer Phase der Freiheit vom Gefängnis – ihren ersten Roman, «Der Astragal». «Autobiographisch gefärbt» nennt man das Genre, um nicht zu unterstellen, was man nicht wissen kann – dass es tatsächlich genau so gewesen ist. Sarrazin lernt Simone de Beauvoir kennen, die ihr zur wichtigen Genossin im französischen Literaturbetrieb wird, für die kurze Zeit, die Sarrazin noch lebt, bevor sie 1967 einen – gemessen an ihrem sonstigen Leben – wenig aufregenden und absurd frühen Tod an einer überdosierten Narkose stirbt.

«Der Astragal», 2013 in einer Neuübersetzung von Claudia Steinitz als «Astragalus» erschienen, beschreibt die Flucht einer sehr jungen Frau aus dem Gefängnis (das auch Jugendanstalt oder Erziehungsheim sein könnte) und ihr rasantes Loshumpeln in die selbstgeschaffene Freiheit. Der schmerzende Astragalus, das Sprungbein, ist Knochenbruch und Metapher zugleich. Er wird das permanente Maß ihrer Selbständigkeit sein: Kann ich auftreten, schaff ich das selber, lass ich mich tragen und wohin?, tut es noch weh, ist mein Bein schön oder hässlich, was macht dieser Klump mit meinem Körpergefühl? Und noch der allerletzte Satz auf der allerletzten Seite ist diesem Fuß und seiner Trittfestigkeit gewidmet.

Sanftes Kratzen an holprigen Oberflächen

«Dieser französische Bestsellerroman erscheint nunmehr auch in einer aufsehenerregenden Verfilmung», verspricht die Fischer-Taschenbuch-Ausgabe aus den späten 1960ern, die mir die Archivarin im «Stichwort» freundlicher Weise aus dem Regal kramt. «Horst Buchholz als Julien», steht darunter in verheißungsvoll großen Lettern – und selbst für eine, die nicht aus jener Generation kommt, die in Horst Buchholz verliebt war, gibt er einen beeindruckenden Julien, einen, der an der Seite einer sehr eigenständigen, sehr kantigen Anne (im Film Marlene Jobert) vorstellbar ist.

Anne springt über die Gefängnismauer, weil sie auf ihre Entlassung nicht mehr warten will. Julien nimmt sie am Motorrad mit in die Freiheit – als hätte Sarrazin die Rolle schon für Buchholz, diesen «Marlon Brando aus Berlin», geschrieben. Die Liebe zwischen Anne und Julien, wie Sarrazin sie erzählt, ist zuvorderst getragen vom Wiedererkennen. Dass auch Julien die Zigarette in der hohlen Hand hält, dass er den Tag für die Geheimnisse, die Nacht für die Wahrheiten reserviert – das macht ihn zu Annes Gefährten, zu einem, in dem sie sofort und ohne Zweifel die Knasterfahrung liest. Die Erfahrung des Eingesperrtseins ist eine der wenigen, die sie in ihrem jungen Leben überhaupt gemacht hat («Übrigens steckte ich voll von Vorstellungen: Ich war so jung eingesperrt worden, dass ich keine Zeit gehabt hatte, irgendetwas zu sehen.»); und dieses Bewusstsein über die Sozialisation in geschlossenen Einrichtungen macht die Punchline von Sarrazins Roman aus. «Zum ersten Mal spricht eine Frau über ihre Gefängnisse», kommentierte Simone de Beauvoir.

Als der Film 1968 in die französischen Kinos kommt, ist Algerien gerade sechs Jahre formal unabhängig, das «Massaker von Paris» ist knappe sieben Jahre her. Dass diese quasi-Autobiographie eines algerischen Adoptivkindes, das sich nicht unterordnen lernt in der bürgerlichen Welt seiner neuen Eltern, das in jungen Jahren schon dem Staat überantwortet wird, der seine Wunden erst recht nicht zu heilen versteht – dass so eine Produktion an der Oberfläche von einer, die von der Gesellschaft zu einer kleinen Verbrecherin gemacht wird, einer, die mit Sexarbeit ihr Geld verdient und dabei gar nicht unglücklich ist, die das wirklich solidarische Liebesglück mit einem anderen Ex-Knasti entwickelt, nur sanft kratzen kann, nur holzschnittartig immer knapp daran vorbeierzählen darf, lässt sich produktions- und rezeptionsgeschichtlich leicht nachvollziehen. Und es nimmt dem Film, vor allem wenn man ihn heute sieht, nichts von seinem nachlässigen Charme.

Unverständlich ist hingegen, wieso eine Graphic Novel von 2014 diese Glättung eines durch und durch aufreibenden Lebens noch einmal und noch eins mehr vollzieht. Anne-Caroline Pandolfo und Terkel Risbjerg haben die ganze Arbeit geleistet, «Der Astragal» in Bilder zu fassen; aber es ist dabei nicht so viel mehr rausgekommen, als die Illustration von Worten, die die Vorstellungsräume viel weiter aufzumachen vermochten, als es den Zeichnungen gelingt.

«Fleckiges Dekolleté, gepuderte Ehrpusselei»

Die ganze Holprigkeit des Originals, das seinen Erfolg nicht zuletzt aus der Tatsache schöpft, dass hier einer ungewohnten Klasse Kind zu Wort kommt («Auch nach ihrer Einweisung in die besseren Viertel der literarischen Demimonde», schreibt die «Süddeutsche» bei Erscheinen des Buches über Sarrazin, «zeigte Mademoiselle mehr fleckiges Dekolleté als gepuderte Ehrpusselei»), verschwindet in den Zeichnungen, die sich über ihre Zweidimensionalität nicht hinaustrauen. Eine erstaunlich glatte Anne kommt da zustande, die zwar ständig Gedanken wälzt, aber man weiß nicht so recht, warum, die ständig ihre Meinung ändert, aber vielleicht sind einfach die falschen Stellen rausgekürzt, um ihre Unstetheit greifbar zu machen. Völlig unvermutet kommen da Dialoge zustande wie «Wie soll ich mit diesem Fuß jemals zu Rolande kommen?» / «Mach dir keine Sorgen. Zur Not trage ich Dich. … Ich hätte nicht mit dir schlafen dürfen.» / «Julien, du hast mich nicht vergewaltigt. Außerdem: Was macht das schon?». Ähm…da fehlt nicht nur Information, da fehlt Stimmung, da fehlt Wissen über die Situation, von der wir ausgehen müssen: die unverfrorenen Gedanken, die Anne sich über ihr sexuelles Begehren macht – und sie ist neunzehn und ganz frisch zurück in der Welt außerhalb der Mauer «hinter der die ganze Gesellschaft zurückgeblieben war» -, die Frage, ob ihre lesbische Liebe nur in der «Not» des Frauengefängnisses entstanden ist, oder ob sie auch in der Freiheit der räudigen Großstadt Paris gedeiht, in der irgendwo ihre Freundin Rolande lebt. Wir sprechen vom Frankreich der Fünfzigerjahre. Anne kommt nach ihrer Flucht aus dem Gefängnis bei Juliens Mutter und der Familie seiner Schwester unter; sie ist überwältigt von dem Wohlgefühl, dass sie ergreift, als sie in diesem Zuhause ankommt: als wäre es das Haus ihrer Kindheit, einer anderen Kindheit, die sie sich nur rückblickend erwünscht, als trüge Julien sie in ihr rechtmäßiges Kinderzimmer, ein kuscheliges Zimmer, in dem sie sich aufwärmen und ausruhen kann – diese zwei logischsten aller Sehnsüchte. «Ich kannte nur die Grausamkeit der Kindheit. Was also hatte ich hier zu suchen, in dieser lustigen Kinderstube mit ihren kunterbunt herumliegenden Spielsachen und Büchern, der blauen Tapete und dem großen Fenster, das einen grauen Frühlingsmorgen rahmte.» Sie greift nach vier Jahren zum ersten Mal wieder – und das heißt, zum ersten Mal als fast erwachsene Frau – nach dem Körper eines Mannes. Diese Aufregung gepaart mit der Selbstsicherheit von einer, die mit viel Größerem schon umgehen musste, wird in Sarrazins Schreibart offenbar. Plump und präzise zugleich, diesen Spagat machen ihre Worte, und das macht ihr so schnell niemand nach.

Sarrazins Anne ist unfähig, mit ihrer Freiheit umzugehen, und sie ist sich darüber vollkommen im Klaren. Sie ist ungelenk, patschert und dabei hundert Prozent reflektiert. In der Übersetzung der 1960er Jahre, die selbstredend einen anderen, einen altmodischeren Flair hat als die Neuübersetzung von 2013, klingt das so: «Der Knast hatte mich noch immer in der Zange: Er äußerte sich in meinen Reflexen, den erschrockenen, hinterhältigen und unterwürfigen Bewegungen. Man wäscht sich nicht von heute auf morgen mehrere Jahre genau abgezirkelter Routine und ständiger Verstellung ab. Wenn der Korpus davon befreit ist, so wird der Geist, der vordem die einzige Freistatt war, paradoxerweise zum Sklaven der Mechanismen; die Demut, die man heuchelte, wird zur echten Befangenheit; (…) Ich war versucht, Dinge heimlich zu tun; dann erinnerte ich mich plötzlich, dass ich frei war, und ich wurde linkisch und ausfallend.»

Da geistert keinerlei Nostalgie zwischen den Zeilen herum, da wird ein ziemlich hartes Leben ziemlich kompetent geschultert. Das ist ein Werk des working class-Feminismus; und das ist es, was in der Graphic Novel erstaunlicher Weise keinen Widerhall findet. Was sie aber schon vollbringt, und das soll schlussendlich nicht unterschlagen werden, ist die Ehrung einer Autorin, die zu vergessen ein Schuss ins Knie wäre. Dass Sarrazin nicht nur im Antiquariat, sondern auch in den hell beleuchteten Regalen der Graphic Novel-Abteilungen zu finden ist, das ist dieser unglaublichen Literatin gegenüber mehr als gerecht.

Astragalus, Roman

Hanser 2013, 20,50 Euro

Der Astragal, Graphic Novel

Schreiber&Leser 2014, 23,50 Euro