Schwerkraft ausser KraftArtistin

Für den Auftritt verlässt Dergin Tokmak seinen Rollstuhl

Tokmak.jpgWieder hat der Cirque du Soleil sein weißes Grand Chapiteau in Wien aufgeschlagen und mit ihm einer der spannendsten Artisten mit einer einzigartigen Lebensgeschichte: Dergin Tokmak hat sich mit dem Engagement bei der glamourösen Zirkustruppe einen Lebenstraum erfüllt. Seinen gesamten Soloauftritt tanzt er auf Krücken und ist fast so etwas wie ein Star geworden im aktuellen Programm Varekai, das noch bis 2. November am Rotundenplatz zu sehen ist.

Ganz in Weiß, gefangen in einem riesigen Netz, schwebt Ikarus unter der Zeltkuppel und versucht vergeblich, sich zu befreien. Langsam sinkt er zu Boden und fällt heraus. Eine dunkle Gestalt raubt ihm die Flügel. Plötzlich wuselt wie aus dem Nichts kommend eine Schar bunter Fabelwesen durch die Manege. Sie sind Boten aus Varekai (ausgesprochen Vare’kei), was so viel bedeutet wie wo auch immer auf Romani, der Sprache der Zigeuner dem ruhelosen Volk der ewig Wandernden, und versuchen dem gefallenen Engel wieder auf die Beine zu helfen. Unter ihnen ein Engel, ein hinkender Engel auf Krücken, Dergin Tokmak.

Sein perfekt gemaltes Gesicht zieht mit beschwörender Mimik sowohl Ikarus wie Publikum in seinen Bann. In einem atemberaubenden Solo versucht er, dem gestürzten Helden zu zeigen, dass er gar keine Flügel zum Fliegen braucht. Und tatsächlich hat man das Gefühl, dieser Tänzer wird von unsichtbaren Flügeln getragen, so behände wirbelt Dergin teils im Handstand, teils die Beine wie ein Pendel über dem Boden schwingend über die Bühne.

Die weiße Zeltstadt eine Woche nach der Premiere. Ein von munterer Fröhlichkeit strotzendes Energiebündel namens Chantal führt die kleine Augustin-Abordnung zum wohlgeheizten Trainingszelt. Bevor Mario Lang und ich es betreten, treffen wir auf Dergin Tokmak, der genüsslich eine Zigarette rauchend im Rollstuhl sitzt und Chantals halb ernsten, halb gespielten Five Minutes!!!-Kasernenton mit belustigter Miene zur Kenntnis nimmt. Fünf Minuten und drei Rufzeichen später haben wir uns auf einer Trainingsmatte niedergelassen. Nebendran wirbelt jemand durch die Luft. Alle Künstler, die in einer der zahlreichen Cirque-Shows weltweit mitwirken, scheinen sich mit Haut und Haar der Überwindung der Schwerkraft, der creation of an unearthly world, verschrieben zu haben.

Kinderlähmung

Langsam haben auch wir vom Augustin die Aufhebung der Schwerkraft als Normalität akzeptiert und sprechen mit Dergin über den Freakshow-Touch, der einem Zirkus immer irgendwie anhaftet. Ja, stimmt, so die alten traditionellen Zirkusse vielleicht mit den Kleinwüchsigen, lacht Dergin, aber in unserem Zirkus sind eher die Weltakrobaten versammelt, und ich bin vielleicht der einzige abstrakte da drin.

Dergin Tokmak kam 1973 in Augsburg als Sohn türkischer Eltern zur Welt. Bei einem Besuch im Heimatdorf seiner Eltern infizierte sich der einjährige Bub mit Poliomyelitis und erkrankte schwer an dieser Kinderlähmung. Eigentlich durch eine Spritze, die einen Nerv getroffen hatte, verlor er die Kontrolle über sein linkes Bein und konnte sein rechtes nach der ausgestandenen Krankheit nur noch eingeschränkt benutzen. Doch er lernte schon als Kleinkind, mehr oder weniger auf Händen voranzukommen. Man macht sich als Kind keine großen Gedanken, ich bin sehr spielerisch aufgewachsen, plaudert Dergin drauf los und gruppiert zwischen den Sätzen immer wieder mal seine Beine händisch um. Als ich mit sechs Jahren meine erste Hightech-Ausrüstung bekam, meinen Gehapparat, meine Krücken und so, da hab ich sofort angefangen, ein paar Tricks auszuprobieren und damit rumzutanzen.

Sein Cousin, gleichzeitig sein bester Freund, war es, der ihn in die Breakdance-Szene hinein- und ihm die ersten Rückendrehungen und Figuren beibrachte. Bei normalen Kinderspielen hab ich immer gemerkt, dass ich das nicht so konnte wie die anderen, erzählt Dergin weiter, aber da war eine Stärke von mir da, und mein Cousin hat mich aufgemuntert, in die Jugendzentren mitzukommen, wo sich damals 1986, die Breakdance-Szene abspielte. Gleich getraut hat er sich nicht, cool in einen Breakdancer-Kreis reinzugehen und zu zeigen, was er kann, sondern übte heimlich in den Ecken. Als Dergin zwölf war, kam der Cousin mit einer Videokassette von Breakin an. Zwanzig Sekunden davon sollten sein Leben verändern: Ein Tänzer, der seine Beine nicht benutzen konnte, zeigte akrobatische Tanzeinlagen am Boden und auf Krücken. Das war, was Dergin brauchte, seinen eigenen Tanzstil mit Krücken zu finden und zu trainieren. Mit seiner Art des Breakdance etablierte sich Dergin kontinuierlich in der Hip-Hop-Szene Deutschlands. Dann war er plötzlich mit seiner Tänzertruppe der Supporting Act von Run DMC, den Pionieren der damaligen Hip-Hop-Szene. Das Größte, was er sich erträumen konnte: Ich war ja noch nicht einmal volljährig und machte gerade eine Ausbildung als technischer Zeichner. Ich durfte gar nicht auf Tour gehen, beschreibt Dergin seinen von Behinderten-Programmen vorgezeichneten Weg, der zu dem Zeitpunkt u. a. bedeutete, in einem Heim untergebracht zu sein und nur am Wochenende nach Hause fahren zu dürfen. In seinem ohnehin schon strahlenden Gesicht blitzt die volle Abenteuerlust aus den Augen, als er meint: Die wussten ja nicht, wo ich war. Ich wollte mich nicht aufhalten lassen und war einfach für zwei Wochen verschwunden.

Hinkender Engel

Fast wäre er nach dieser Aktion aus der Schule geflogen, aber Dergin hat seine Ausbildung fertiggemacht und könnte den Beruf jederzeit ausüben. Sich dieses fröhliche Energiebündel im Rollstuhl an einem Zeichentisch vorzustellen, fällt eindeutig schwer. Die nächsten Jahre waren von dem üblichen Rhythmus geprägt, den einen jungen Behinderten mit künstlerischen Ambitionen wahrscheinlich kaum von anderen Freischaffenden unterscheidet: Teilzeitjob, drei Tage die Woche, jede freie Minute wird ins Trainieren gesteckt, und am Wochenende dann Auftritte, was halt geht. Mit der Zeit wurden auch internationale TV-Stationen auf Stix, so Dergins Künstlername, aufmerksam und luden ihn in Sendungen ein.

Sein erster Kontakt mit dem Cirque du Soleil war 2003. Normalerweise dauert es Jahre, in den Cirque reinzukommen. Aber erstens war Dergin bereits bekannt als der Tänzer auf Krücken und zweitens wurde für die Rolle des hinkenden Engels in Varekai ganz spezifisch nach jemandem wie ihm gesucht. Man hatte bis dahin mit einem nicht behinderten Tänzer gearbeitet und war nicht vollends überzeugt. Dergin wurde in die Zentrale nach Kanada eingeladen: Als ich da in Montreal im Rollstuhl ankam, waren sie einigermaßen geplättet. Sie hatten zwar schon das Material über mich gesehen, andererseits noch nie mit einem körperbehinderten Akrobaten zusammengearbeitet.

Auch für Degin war die Herausforderung groß. Er hatte zwar Bühnenerfahrung als Akrobat, jedoch so gut wie keine in einem theaterähnlichen Betrieb, und er sollte außerdem zum ersten Mal eine fünf Minuten dauernde Solonummer auf Krücken entwickeln. Aber für einen, dessen im Spaß entstandenes Video, in dem er in Neuseeland mit seinem Rollstuhl einen Berg erklimmt, im Internet öfters abgerufen wird als seine künstlerischen Clips, gilt ein Das schaffst du nicht nicht. Zwei Monate später hatte Dergin die Rolle schon perfekt eingeübt. Zusammen mit dem Choreografen Bill Shannon wurde das Tanzsolo an Dergins Tanzstil angepasst. So konnte er sein technisches Können mit seinem künstlerischen Ausdruck in dem Stück verbinden. Am 13. Februar 2004 spielte der deutsche Tänzer in Kalifornien zum ersten Mal den hinkenden Engel.

Die Botschaft des Behinderten

Eigentlich gibt es in der großen Familie des Cirque du Soleil keine Stars. Dennoch ist Dergin Tokmak so etwas wie eine absolut liebenswerte Berühmtheit geworden, und er hätte paradoxerweise diese Karriere ohne seine Behinderung nie machen können. Es war sicher eine Zeitlang so, dass ich den Leuten etwas beweisen wollte, gesteht der 35-Jährige. Je mehr ich aber den Spaß dran, meine eigene Sprache gefunden habe, mit der ich den Leuten mit meinem Körper etwas erzählen kann, ohne ihnen etwas aufzuklatschen, desto unwichtiger wurde das Beweisenmüssen. Ich habe eine richtige Leidenschaft entwickelt. Die Message, wenn man so will, heißt, dass man als Behinderter nicht in irgendeinem Büro arbeiten muss.

Auch zu Impfkampagnen hat Dergin ein entkrampftes Verhältnis: Vielleicht kann ich etwas erzählen zum Thema Polio. Ich kenn mich im medizinischen Bereich nicht so gut aus ich kenne mich in meinem Körper gut aus. Ich bin jemand, der besser mit dem Körper reden kann als mit der Sprache. Wenn mein Körper vielleicht irgendwann nicht mehr so reden kann, kann ich ja dann vielleicht umsatteln und meine Biografie schreiben. Außerdem könnte Dergin sich vorstellen, mit einer aus behinderten und nichtbehinderten Tänzern oder Schauspielern bestehenden Kompagnie zu arbeiten. Vorläufig macht es bei Varekai noch jede Menge Spaß, aber seine Rentenshow wird es wohl nicht.

Info

Cirque du Soleil Varekai bis 2. November 2008

Dienstag bis Sonntag: 19.30 Uhr

Samstag zusätzlich 15.30 Uhr

Sonntag zusätzlich 14 Uhr

Prater Rotundenplatz hinter der Wiener Messe, 1020 Wien

Südportalstraße/Trabrennstraße,1020 Wien

Karten: (01) 960 96-666 www.oeticket.com