Stimmgewitter Augustin überrascht mit Kitsch & RevoArtistin

Weiße Rosen, rote Fahnen

Stimmgewitter Augustin – die klangliche Komponente des soziokulturellen Projekts, in dessen Zentrum die von Obdachlosen, Arbeitslosen und Flüchtlingen vertriebene Wiener Straßenzeitung Augustin steht – lässt bühnenerprobteste Chöre bieder aussehen. AugustinverkäuferInnen distribuieren die Scheibe namens Kitsch & Revo, bereits die zweite CD des Klangkörpers vom Rande der Stadt, in einer Dimension, die sich manche Profibands wünschen würden.Zwischen dem Stimmgewitter als Sozialaktion und dem Stimmgewitter als Kunstaktion sind alle Nuancen der Interpretation genauso richtig wie falsch. Die SängerInnen kommen aus dem Sozialen, drängen ins Kulturelle und kassieren dort Appläuse, die leiser wären, wenn dem Publikum die Herkunft unbekannt wäre. Müsste man für dieses Hin-und-her zwischen Scheinwerfer und Notschlafstelle eine graphische Entsprechung finden, käme eine Arabeske in Betracht. Das Etikett Clochard-Klangkörper, das der Augustin selber gelegentlich verwendet, ist sozialromantisch gesprochen und wahr zugleich.

Als der Chor damals verwendete man eher die bescheidenere Definition Gesangsverein von den Augustin-Subcommandantes Riki Parzer (Ressort: Sozialarbeit) und Mario Lang (Ressort: Fotografie) zusammengebastelt wurde, lebten die meisten Mitglieder auf der Straße oder in Obdachlosenasylen. Zwei davon gehörten der unter Augustin-Leuten hoch angesehenen Gattung der Insulaner an. Sie übernachteten auch den Winter hindurch auf der Donauinsel. Drei von der Stammpartie sind nicht mehr dabei. Kaum jemand im Publikum ahnte, welche Ruinen ihre Körper waren, die sie diszipliniert wie die Wiener Sängerknaben von Gig zu Gig auf die Bühne schleppten. Die starben vor der Zeit an den gesundheitlichen Folgen ihres Straßenlebens.

Zum Personal der schrägen Truppe:

  • Wer den Hömal heute auf der Bühne agieren sieht und seine Eindrücke mit dem vergleicht, wie der dichtende Ex-Alkoholiker vor etlichen Jahren beschrieben wurde, denkt an eine Personenverwechslung. Wie ein von fremden und feindlichen Körpern umschwirrtes Gespenst stehe er der Augustinverkäufer Hömal eingeschnappt in der Stadtlandschaft, und nicht nur die Schrillen und die Power-People scheinen ihm eine Schuhnummer zu groß zu sein, sondern alle, die ihn umgeben, so steht es da. Wer ihn umgebe, überrage ihn, so klein machte sich Hömal damals.
  • Klaus singt souverän die zweite Stimme, ohne sich von den Stimmen 1 sowie 3 bis 9 irritieren zu lassen. Vor langer Zeit schilderte er dem Augustin, wie er durch Sitzungen überlebte. Das ist Sandlerdeutsch und bedeutet Betteln auf der Straße. Das Wort Sandler ist wienerisch und steht für Straßenmenschen.
  • Ernstl ist der Meister der allerhöchsten Töne und Benjamin des Stimmgewitters. Vor einigen Jahren konnte der Augustin eine Anfrage von außen, ob unter der Brücke schlafen nur noch eine Metapher für Nichtsesshaftigkeit sei oder ob in Wien tatsächlich unter Brücken geschlafen werde, mit dem Hinweis auf das lebende Beispiel Ernstl beantworten. Die Brigittenauer Brücke war sein Dach, der Verkehrslärm der Donauuferautobahn sein täglicher Wecker. 
  • Auch Heidi, die Grande Dame des Stimmgewitters, die begnadete Komödiantin, ist in der Galerie der VerliererInnen vertreten, als Notstandsbezieherin, die einen utopischen Traum hat eine Wohnung, wo das Klo nicht mehr draußen am Gang liegt. 
  • Als Hans, der Kratky, für die prähistorische Augustin-Nummer 17 (April 1997!) als bemitleidenswerter Ex-Altwarenentrümpler beschrieben wurde, der wegen Steuer- und Krankenkassenschulden tief in der Tunke sitzt, wäre jeder für verrückt erklärt worden, der prophezeit hätte, dem Seemannslieder singenden Süßwassermatrosen würden zehn Jahre später nicht die salzigen Wogen entgegen schwappen, sondern Zugabe! Zugabe!-Rufe. 
  • Ossi, in einer Armenherberge der menschenwürdigen Sorte lebend, immer noch wohnungslos, wäre pathologische Angeberei bescheinigt worden, wenn er bei seinem Eintritt in die Augustinwelt erzählt hätte, er werde einmal ein ganzes Repertoire von Liedern in einer Fremdsprache beherrschen. Die Fremdsprache nennt man Wienerisch. Ossi ist Voralberger. Damit quasi der Antipode von Martin. 
  • Martin ist mit dem Wienerlied aufgewachsen. Aber in einem Interview behauptete er: Ich bin aus meiner Mama rausgehüpft und hab ihr Mama von Heintje vorgesungen. Wenn das stimmt, gebührte Martin die Goldmedaille in der Disziplin der Vervollkommnung. Bei Heintje startend und mit dem Stimmgewitter – bei Brecht/Eisler, den Toten Hosen und dem Kollegium Kalksburg landend: das nennt man Triumph.

Ungeheuer viel unterschiedliche Musik auf einem Tonträger

Ein Triumph ist auch die neue, zweite CD des Stimmgewitter Augustin, die unter dem Titel Kitsch & Revo 10 Lieder und einen Bonustrack versammelt. Der Triumph, Menschen und musikalische Ästhetiken zusammenzubringen, die so kaum zusammengedacht werden. So ungeheuer viel unterschiedliche Musik auf einem Tonträger. Die Vielfalt ihrer Ansätze und Herkunft, vom HipHop der Linzer Texta bis zur Kernforschung in Sachen Wiener Musik des Duos Stoyka & Stirner, vom Entertainer Kantine zum unermüdlichen Messenger der musikalischen Leidenschaft, Fritz Ostermayer, von der Gitarrenband Ja Panik bis zu Sofa Surfer/Slow Club/I-Wolf Musik-Innovator Wolfgang Schlögl, wirft da nicht nur die Frage auf, wie denn nur ein Silberling das überhaupt alles zu fassen vermag, sondern diese Vielfalt reflektiert auch die vielen Eben-Nicht-Schicksale und Biographien, die im Stimmgewitter Augustin zusammen singen, das naturgemäß Vielköpfige und Vielstimmige, das diesen Chor ausmacht.

Gleichzeitig ist das Entstehen dieser CD ein Beispiel dafür, wie im besten Fall das System Musik funktionieren kann. Wie schon im Zug der Arbeit an der ersten CD die Grundlagen für diese zweite gelegt wurden, durch die Idee, verschiedenste Musiker mit Aufnahmen des Chores ganz frei das Ihre machen zu lassen. Wie Menschen involviert bleiben und neue dazukommen, ohne dass der Mammon Motor der Geschichte ist, sondern der Respekt für das Stimmgewitter selbst, dessen Qualität Aufnahmeleiter David Müller, der mit seiner Formation Die Strottern das Stück La Paloma Ade adaptiert hat, auf den Punkt bringt: Wie sie singen, dass sie das 1:1 so bringen, wie sie es bringen, jeder einzelne, jede Stimme, da muss niemand irgend etwas beweisen, das hat so eine enorme Kraft. Gleichzeitig zieht er den Hut vor Gerald Hirsch, der mit Mario Lang als Sprachrohr die Chor-Arrangements erarbeitet hat, diese Kraft erhalten und noch verstärkt hat.

Fritz Ostermayer spricht von aufrichtiger Ehrfurcht vor dem Stimmgewitter und der großen Ehre, seinen Beitrag Weiße Rosen aus Athen, interpretiert in the style of Stephan Remmler/Trio mit von ihm verehrten Musikanten wie Schorsch Kamerun, Bernadette LaHengst oder I-Wolf auf einem Tonträger zu finden. Die wie selbstverständliche Teilnahme von Kamerun, der seit über zwei Jahrzehnten bei den unvergleichlichen Goldenen Zitronen singt und (quer)denkt, und Bernadette LaHengst, eine der frischesten und künstlerisch vitalsten feministischen Stimmen in Pop, ist ein Indiz dafür, dass sich das, was das Stimmgewitter August ausmacht und besonders macht, über das lokale und regionale Umfeld hinaus mitteilt.

Die durchgehende künstlerische Qualität der Beiträge auf Kitsch & Revo unterstreicht eindrucksvoll, was auch die jüngsten Konzerte des Stimmgewitter zeigten: Das wird eben immer besser, immer heftiger! Die musikalische Selbstermächtigung und Stimmfindung hat sich längst verselbstständigt und ein Level erreicht, auf dem einem diese 9 wunderbaren Stimmen allerhand anhören lassen können, kontrovers, widersprüchlich, frei von einem eindeutigen Missverständnis von schöner Musik , frei von Gefallsucht und Anbiederung.