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20 Jahre Augustin: Jahrgang 1999 - Vom Verschwinden des Clochards

Seit sieben Jahren campierte der Falke – so wurde der Clochard von seinen Bewunderern genannt – in einem Zelt auf der Donauinsel. Der heimliche Bürgermeister des «Augustindörfls». Das Geheimnis seiner Autorität bestand darin, dass er auf der Insel mit seinesgleichen kaum redete. Darum konnten alle Camper glauben, er vertrete ihre Position. Und obwohl jeder seine eigene Position zu praktisch allen Themen hatte, akzeptierten sie ihn alle als allgemeinen Repräsentanten. Robert Sommer entdeckte bei der Relektüre des Jahrgangs 1999 die lebenskünstlerischen und auch die schriftstellerischen Talente der LiteratURgesteine des Augustin.

«20 Jahre» Logo: Carla Müller

Dem Falken war das Geheimnis seiner sonderbaren Machtstellung selbst nicht bewusst. Er bemerkte nicht, dass er kaum sprach. Auch sehr empathischen Journalistinnen und Journalisten war die Kolonie der Obdachlosen von der Donauinsel verschlossen. Den Augustin-Macher_innen nicht, denn den Augustin betrachtete die Kolonie als «ihre Zeitung».

Die Kolonie umfasste drei bis vier Zelte. Sie standen geschützt in einem Wäldchen. Von den Wegen aus waren sie nicht zu sehen. Die milde Polizeifraktion tolerierte das Versteck der Unerwünschten. Die pflichtbewusste Polizeifraktion beäugte den Verstoß gegen die Wiener Campierverordnung feindlich. Der Falke verstand sein Leben so zu planen, dass er seine Polizeistrafen für alkoholisiertes Fahren in ausgeborgten Autos ohne Führerschein in den kältesten Jahreszeiten absitzen konnte. Heizungsmäßig war das Wiener Polizeigefängnis ein Kuraufenthalt für die Donauinsulaner. Sie kehrten aber immer wieder gern aus der Zelle in die Zelte zurück. Es war Usus unter den Inseldorfbewohnern, lauter Männer übrigens, dass sie in ihrem Open-air-Romantizismus sich selbst betrogen, denn sie sahen darüber hinweg, wie rasch Alkohol und Inselleben ihre Körper veränderten, sie leugneten ihre Verfaulung. Schon am Morgen gab es statt Kaffee Tee mit Rum. So lautete das Getränk in der Insulanersprache. In Wirklichkeit handelte es sich um puren heißen Rum, in den die Clochards Teebeutel zwecks Geschmackssteigerung versenkten.

Clochards, die diesen Ehrennamen verdienten, gaben dem frühen Augustin auch inhaltlich das Gepräge. Der Jahrgang 1999 – wir setzen also unsere Erinnerungs- und Wiederauffrischungs-Lektüre aus Anlass des 20-Jahres-jubiläums fort – ist voll von der Präsenz eines Typus von Outlaws, die vier Jahre nach der Augustin-Gründung auf dem besten Weg waren, ihren Nimbus auf den Augustin auszudehnen. Immer noch warten wir auf die Stadtsoziologin oder den Stadtsoziologen, die oder der uns bestätigt, dass das Verschwinden der charmanten «Edelsandler_innen» samt ihres Wiener Schmähs kein gefühltes Defizit ist, sondern ein von verschiedenen Faktoren verursachter Prozess. Als die «Normalbürger_innen» den Augustin mit solchen Figuren (sie bildeten sozusagen das Urgestein der Straßenzeitungskolportage) zu assoziieren begannen, war das Projekt Augustin endgültig in Wien verankert. Wem genau hatte der Augustin das zu verdanken?

Zum Beispiel dem unvergesslichen Hari Harmlos. Sein breites Steirisch täuschte darüber hinweg, dass er als Staatenloser keine Rechte hatte. Sarkastisch beschrieb er sein Schicksal im Februar 1999: «Durch 30 Jahre Anwesenheit hat man sich die Staatsbürgerschaft ersessen. Allerdings: Jede Haftstrafe, die einen Tag länger als 6 Monate dauert, unterbricht diesen Zeitraum, und die Frist beginnt ab der letzten Haftentlassung neu zu laufen. Meine letzte Haft ging 1995 zu Ende. Mit Gottes Hilfe kann ich mich also 2025 zum ersten Mal über den Sieg «meiner» Nationalmannschaft von ganzem Herzen freuen.»

Zum Beispiel dem unvergesslichen Smoky. Er schlief im Juli 1999 auf der Sitzbank eines linksradikalen Beisls ruhig in den Himmel der Landstreicher_innen hinüber. Aus Anlass seines Todes veröffentlichte der Augustin ein Interview, in dem er seine Weltanschauung erklärte: «Ich werde niemals mehr in das Affenrennen einsteigen. Als ich von all dem genug hatte, habe ich einen Schwur geleistet. Und der Schwur lautete, besser in der Wildnis zu sterben als ein Sklave zu sein. Auch wenn ich verrecken sollte: diesen Schwur werde ich immer einhalten.» Affenrennen, das war Smokys Synonym für die neoliberalistischen Konkurrenzkämpfe der Verlierer_innen um einen regulären Arbeitsplatz in einer Zeit, in der laut Smoky fast jede Arbeit weltzerstörerische Aspekte hat.

Zum Beispiel Augustinverkäufer Blondi, der im Oktober 1999 seine Nächte auf der Donauinsel beschrieb: «Man fragt uns Insulaner immer wieder: Ihr Sandler habt doch nichts – warum leisten sich so viele von euch einen Hund? Da antworten wir: Wir brauchen Wächter da auf der Insel. Egal in welcher Situation der Obdachlose steckt: das erste Geld, das er bekommt, wird für Hundefutter ausgegeben.»

Zum Beispiel Hömal, der in einem Dialektgedicht das massenhafte Auftauchen des Augustin registrierte: «Foat heit a aunständiger Mensch wiari / egal wo, a Roidreppn owi, patsch / steht schon so a Figua wia du duat und bedlt / haums a Heaz fia de Obdachlosn / kaufts ma an Augustin o. Nau so wos / jetzt weads es Saundhosn a scho frech?»

Blondi und Hömal weilen unter uns. Sie sind als Augustin-Urgesteine lebendige Erinnerungsmonumente, um die Handlungen der Originale wie Smoky und Hari Harmlos nicht ins Ungeschehene schweben zu lassen. Es muss an der Unwirtlichkeit Wiens gegenüber jeder Kontrolle feindlich eingestellten Menschen liegen, auch an der steigenden sozialen Kälte der Stadt, dass ein Typus der Marginalisierten auf die «rote Liste» der bedrohten Arten geraten ist. Aber wir wollen den soziologischen Untersuchungen nicht vorgreifen …