Von Mieten und MythenArtistin

Ein Filmfestival für Menschenrechte und für eine lebenswerte Stadt

Ende November beginnt in Wien das fünfte Menschenrechtsfilmfestival, dessen Schwerpunkt heuer auf Urbanismus liegt, auf dem Phänomen «Stadt».

Seit fünf Jahren lebt mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung in Städten, im Jahr 2070 sollen es bereits 70 Prozent sein. Städtisches Leben wird damit für einen immer größer werdenden Teil der Menschheit zur Normalität. Angesichts dieser Entwicklung nimmt die Frage, wem die Stadt eigentlich gehört, eine zunehmende Bedeutung ein.

Im Vorjahr besuchten über 13.000 Menschen das «Filmfestival für Menschenrechte», das 2008 anlässlich des 60. Jubiläums der Deklaration der UN-Menschenrechtserklärung ins Leben gerufen wurde. Zora Bachmann ist seit 2009 dabei und übernahm heuer im Juni die Festivalleitung von «This human world». Auf die Frage, wie sie die Ideenfindung für den heurigen Schwerpunkt angelegt hat, erklärt sie: «Ich habe mir erst einmal überlegt, was sich dazu so in meinem Umfeld tut, und habe dann verschiedene Zugänge zum Thema gesucht: Mieten, die sich heute viele nicht mehr leisten können; die Auseinandersetzung mit dem Mythos des Roten Wien, wo die Mieten so niedrig sein sollten; der Mangel an Freiräumen; Hausbesetzungen, Kulturzentren, die Leute vom Wagenplatz, die einfach kontinuierlich vertrieben werden, weil man das nicht im Stadtbild haben möchte. Dann habe ich mit meiner Kollegin Mara, die eine sehr gute Fachfrau fürs Thema ist, darüber gesprochen, und wir sind gemeinsam an die Arbeit gegangen.»

Mara Verli kommt aus dem universitären Kontext; sie ist Assistentin an der Technischen Universtität Wien und gemeinsam mit ihrem Kollegen Justin Kadi Kuratorin des Urbanismus-Schwerpunkts des Festivals. «Wir beschäftigen uns in unserer Arbeit im weitesten Sinn mit Fragen der Ungleichheit in europäischen Städten, deswegen war das Festivalthema so spannend und herausfordernd für uns. Ich glaube, dieses Zusammentreffen von theoretischem Zugang und dem Medium Film hat sich als sehr produktiv herausgestellt.» Sie war auch an der Erstellung des Rahmenprogramms und der Diskussionsveranstaltung beteiligt. Verli: «Zu einigen der Urbanismus-Filme haben wir größere Diskussionsveranstaltungen geplant, zu den Themen Kampf um Freiräume, Urban Gardening und Wiener Wohnmarkt und Gentrifizierung.» Mit Gentrifizierung meint man sozioökonomische Umstrukturierungsprozesse in städtischen Wohngebieten, einfacher ausgedrückt: die Verdrängung von Bewohner_innen mit einem niedrigen Sozialstatus, meistens in innenstadtnahen Stadtteilen, durch wohlhabende Eigentümer_innen oder Mieter_innen. Mit entsprechendem Anstieg der Wohn- und Lebenshaltungskosten. Andrej Holm, Stadtsoziologe an der Humboldt-Universität Berlin, beteiligt sich an einem halbtägigen Workshop zum Thema «Besetzter Raum freier Raum umkämpfter Raum». Holm ist in der kritischen Stadtforschung sowohl theoretisch als auch aktivistisch eine wichtige Figur.

One World und viele Festivals

Die Suche nach geeigneten Filmen wird durch ein Netzwerk erleichtert, dem bereits an die vierzig Menschenrechtsfilmfestivals angehören. «Das älteste und sicher eines der wichtigsten ist das Filmfestival One World in Prag. Ein solches Festival gibt es auch in Sarajevo, mit dem wir heuer eine besonders enge Kooperation haben. Ein anderer wichtiger Eckpfeiler auf der Filmsuche ist die Zusammenarbeit mit verschiedenen Nichtregierungsorganisationen, und schließlich gibt es dann noch die Kontakte zu jungen österreichischen Filmerinnen und Filmern, die uns ihre Werke schicken.»

Mehr als achtzig Spiel-, Kurz- und Dokumentarfilme werden an elf Tagen in vier Wiener Kinos aufgeführt, zum größten Teil Österreichpremieren. Neben dem Schwerpunkt Urbanismus stehen noch die Themen Migration, Festung Europa, soziale Kämpfe, die Lebensrealitäten marginalisierter Menschen, schwules und lesbisches Leben hier und anderswo im Mittelpunkt. Im Rahmen einer Zusammenarbeit mit dem Verein Autonome Frauenhäuser erfährt auch das Thema Gewalt gegen Frauen besondere Aufmerksamkeit. In diesem Zusammenhang präsentiert der österreichische Regisseur Arash T. Riahi seinen neuen Film «Nerven Bruch Zusammen», in dem er ein Übergangswohnheim für obdachlose Frauen porträtiert.

Interessant und auch wohl etwas haarsträubend wird der Film «Shadows of my Past», der am 4. Dezember seine Premiere erlebt. Die aus Wien vertriebene Jüdin Gita Kaufman arbeitete gemeinsam mit ihrem Mann Curt rund 15 Jahre an diesem Film. Die beiden fuhren nach Wien zurück und befragten hier eine Menge österreichischer Polit-Prominenz Kurt Waldheim, Heinz Fischer, Franz Vranitzky, Jörg Haider u. a. über den Umgang des angeblichen Opfers Österreich mit seiner jüngsten Vergangenheit. Gita Kaufman wird zu diesem Anlass für eine Woche nach Wien kommen und hier, so der Plan, ihre einstigen Interview-Partner_innen wiedertreffen soweit sie nicht inzwischen mit vollem Tempo in die Unterwelt geprescht sind.

Einen engen Österreichbezug hat auch «Tomorrow you will leave» von Martin Nguyen. Sein Vater, Quang Nguyen, kam als vietnamesischer Flüchtling mit seiner Familie in ein kleines niederösterreichisches Dorf. «Es ist total lustig, wie die vietnamesische Mutter die Stille beschreibt, die sie hier vorfindet, und wie wenig die Leute miteinander reden. Im Film werden die Freundschaften porträtiert, die sich dann ergeben haben. Einfache Bauern und der Dorfpfarrer, der ihnen total geholfen hat. Sie sind heute noch befreundet mit ihm», erzählt Zora Bachmann.

Brücken zwischen Brooklyn und Wien

Einer der Lieblingsfilme der Festivalleiterin ist der Dokumentarfilm «The Invisible Men», der sich mit schwulen Palästinensern beschäftigt, die nach Tel Aviv flüchten, weil sie in den palästinensischen Gebieten nicht leben können, ja sogar mit dem Tod bedroht werden. Doch auch in der zweitgrößten Stadt Israels finden sie keine Bleibe. Regisseur Yariv Mozer wird zur Filmaufführung nach Wien kommen.

Auch andere Gäste kommen zum Filmfestival angereist. Zum Beispiel Kelly Anderson, Regisseurin des erst kürzlich fertig gestellten Films «My Brooklyn», der die brutale Wirklichkeit der so genannten Gentrifizierung darstellt. Sicherheitskräfte forcieren die Vertreibung von kleinen Gewerbetreibenden und Ladenbesitzern sowie von Bewohner_innen in Downtown Brooklyn. Kuratorin Mara Verli würde diesen Film besonders den Leserinnen und Lesern des Augustin empfehlen. «Dieser Film hat eine enge Beziehung zur Diskussion über den Wohnungsmarkt in Wien. Ich denke, dass das im Umfeld des Augustin ein viel beachtetes Thema ist. In dem Film geht es um die Wohnungsmarktsituation in New York, aber auch um Formen des Widerstandes und der gemeinschaftlichen Aktion. Da lässt sich gut eine Brücke zu Wien schlagen.»

So wie die politische Aktion und Bewusstwerdung überhaupt so etwas wie ein roter Faden ist, der sich durch die elf Festivaltage zieht. Etwa in dem senegalesischen Spielfilm «La Pirogue» von Moussa Touré, der die Geschichte von Menschen aus dem Senegal erzählt, die mit einem kleinen Boot die Reise nach Europa wagen. Der Film zeigt beeindruckend, dass die Menschen sich sehr wohl bewusst sind, welche Gefahren die Seefahrt nach Europa in sich birgt.

Zum politischen Anspruch des Filmfestivals gehört auch das umfassende Rahmenprogramm. Es gibt eine breite Palette an Workshops, Diskussionen und Vorträgen, die zum Gedankenaustausch dienen sollen. In Zusammenarbeit mit dem Boltzmann-Institut für Menschenrechte wird in einem «Human Rights Talk» über die Entwicklung der sozialen und ökonomischen Rechte in Europa und über die Auswirkungen globaler Wirtschafts- und Finanzkrisen auf diese Rechte diskutiert.

Die eher trockenen und nicht gerade aufheiternden Themen dieses Festivals werden allabendlich mit Lebensfreude aufgegossen. Jeden Abend gibt es im Schikaneder-Kino, wo sich auch der Sitz des Festivals befindet, eine «Nightline» mit DJs, bei der Eröffnungsfeier am 29. November im Gartenbaukino beschallt nach dem Eröffnungsfilm der rumänische DJ Gojira das Foyer, auch nach den Premieren am 4. und 6. 12. gibt es Musik, ebenso am 8. und 9. 12. An diesem letzten Tag des Festivals werden die Gewinner mehrerer Preise bekanntgegeben, bevor das Abschlussfest im Top-Kino beginnt.

Auf die Frage, ob es nächstes Jahr eine weitere Folge des Festivals geben wird, antworten Zora Bachmann und Mara Verli unisono: «Ja, die wird es ganz bestimmt geben.»

www.thishumanworld.at

29. 11. 9. 12.