Wort-Graffiti im SchöpfwerkArtistin

Wände voller Liebe und Hass

„Wenn heutzutage in der Stadtforschung von Cityscapes, Soundscapes, ja von Smellscapes (-landschaften) als Indikatoren der spezifischen Atmosphäre einer Stadt gesprochen wird, möchte ich ergänzend behaupten, dass die Graffitiscapes von der Atmosphäre ihrer jeweiligen Stadt nicht minder beredtes Zeugnis geben“. Im Folgenden beobachtet der Wiener Schriftsteller und Graffiti-Forscher Thomas Northoff die Landschaft der „Sprache an den Wänden“ am Beispiel der Stadtrandsiedlung Schöpfwerk und plädiert dafür, die frechen Sprüche nicht als Vandalismus, sondern als Volkskultur wahrzunehmen.Von allen Sozialbauten, die ich bisher zum Thema „Sprache an den Wänden“ untersucht hatte, trat im Schöpfwerk am deutlichsten zutage, was für eine lebendige Kommunikationsform verbale Graffiti sind. Ich las unlängst in einer Boulevardzeitung in einem Artikel über alte Grabsprüche den Begriff „unverfälschte Volkskultur“. Die Sprache an den Wänden ist d i e heutige unverfälschte Volkskultur, im Falle Schöpfwerk die unverfälschte Jugendsprache, weil hier m.E. nur Kinder und Jugendliche graffitieren, und zwar ohne dass sie auf irgendwelche Konventionen des Sprechens von Angesicht zu Angesicht Rücksicht zu nehmen brauchen.

Eins ist im Folgenden den Jugendlichen, die hier graffitieren, gemeinsam: Sie wohnen so gut wie alle im Schöpfwerk.

Eins ist den betrachteten Graffiti gemeinsam: Sie befinden sich alle an Außenwänden und nicht in Stiegenhäusern.

Meine Erfahrungen bei den Spurensuchen in Sozialbauten verliefen zumeist enttäuschend. Es schien, als schrieben Menschen auf wenig privilegiertem ökonomischen und Bildungsniveau nichts, es erschien mir, in enttäuschter Sozialromantik, fast schon, als hätten sie nichts zu sagen bzw. als wollten sie keine Stellung nehmen zu so vielen brennenden Dingen. Das spielt beides sicherlich eine gewisse Rolle. Allerdings beweisen Bauten wie Rennbahnweg oder Schöpfwerk, dass eine entsprechende Gliederung der Wandverläufe, der Stiegeneingangsbereiche oder von Arkadengängen mit Säulen zahllose Flächen bieten, an die sich Beschwerden, anonym bleiben Sollendes, Schimpfe und Frohbotschaften anbringen lassen, ohne dabei so leicht beobachtet werden zu können wie in den aalglatten Gemeindebauten des herkömmlichen Nachkriegsstils (eine Sozialarbeiterin erzählte mir von ihrem Gespräch mit einem Architekten, der seiner Meinung Ausdruck verliehen hätte, dass dort, wo gute Architektur die Wohnwelt bilde, Graffiti, welche der Architekt anscheinend als Schmierereien ansah, gar nicht vorkämen. Was für ein reinlichkeitsgeförderter Irrtum).

Die Leute im Schöpfwerk wohnen teilweise, als hätten sie eigene Gärtchen vor den Fenstern. Auf der Wohnungstürseite kann man auch bei Regen am Haus entlangwandeln. Die Säulen, welche die Überdeckungen tragen, sprechen Bände über echte oder erhoffte Verhältnisse männlicher und weiblicher Jugendlicher zueinander, die sie anscheinend den Zielen ihrer Verehrung vor die Tür schreiben wollen. Wo diese Arkaden in Anbauten übergehen, welche u.a. die Mistkübelräume beherbergen, stehen bereits längere Botschaften, nicht selten solche, für die man Sanktionen zu erwarten hat, wenn man sie öffentlich ausspricht, die aber doch raus müssen, denn ihre AutorInnen sind jung an Alter und Beherrschung.

Männliche und weibliche Jugendliche schreiben gleich gern, wenn das Hauptthema – und es ist im Schöpfwerk Graffiti-Hauptthema – die Liebe ist und, natürlich, das Gegenteil: Hass, Enttäuschung, Verachtung, Rache. Beim Gegenteil sind die Burschen schwer im Überhang, wie anderweitig in der Stadt auch die männlichen Erwachsenen. Sie sind, wer wäre überrascht, zumindest in ihrer Ausdrucksweise schwer machistisch.

Botschaften der enttäuschten Machos

Es scheint durch die Generationen eine Konstante zu sein, dass eine bemerkenswerte Anzahl von Burschen, wenn sie bei einem Mädchen sexuell nicht zum Erfolg kamen, das Mädchen genau der Dinge zeihen, die es nicht getan hatte. Da braucht man als Mann doch nur zurückdenken, das war bei uns im vergleichbaren Alter nicht anders. Wie oft sind diejenigen Mädchen, die sich nicht angreifen haben lassen, beschuldigt worden, dass sie sich von allen anderen abgreifen ließen etc. Das geht so weit, dass Burschen unter dem Mädchennamen die Telefonnummer der Abweisenden aufschreiben, dazu: „Ruf mich an, mache alles!“

Die Mädchen hingegen stellen sich in den Graffiti oft orientierungslos dar. Von Mädchen kann man immer wieder Aussagen finden, dass ihnen etwas leid tue, dass sie sich entschuldigen. Sie rufen danach, dass der Freund zurückkommt. Da hat der Literat und Graffiti-Forscher natürlich Herzweh, wenn er all dies Leid liest, welches, vom Standpunkt seines Alters aus gesehen, die Typen doch in keinster Weise wert sind. Die Mädchen wollen den Menschen. Die Burschen geben die Suche nach dem Menschen vor und suchen den freigiebigeren Körper.

Hot Spots fürs Graffitieren im Schöpfwerk sind die Wände um die Müllräume. Erwachsene huschen nur vorbei, um den Abfall zu entsorgen und haben dort weiter nichts zu suchen. Also geeignete Rückzugsplätze für die Jugendlichen. Dort findet man die Botschaften, die von den Kids für die Kids geschrieben sind. Protestsprüche gegen die Erwachsenen oder deren Welt würden an den Wänden und Säulen der Hauptader durch den Bau, nämlich entlang der Geschäfte-, Amts- und Gaststättenseite der Anlage, geäußert werden, wo sie alle sehen, auch und besonders die Erwachsenen, wo sie, geradezu ins Auge springend, gelesen werden müssen. Nichts davon im Schöpfwerk außer ein paar kleiner Irritationen durch Störsprache wie zum Beispiel diese: „Im Stiegenhaus brennt es“.

In den kleinen grasbewachsenen Höfen entlang der Geschäftszeile kann man sich nicht unbeobachtet bewegen, sie sind kaum belebt und daher steht dort, auch mangels Unterlage, wenig beschrieben.

Klar ist, dass die Jugendlichen ihre Hauptroute und wohl auch Lungerpunkte vor und nahe den Hot Spots eingerichtet haben. Sie wissen, dass sie über das Medium Wand hier die Gleichaltrigen gut, wenn auch zeitversetzt, erreichen, andernfalls würde dort, angesichts der heutigen Rechtschreibschwierigkeiten und des Zeitaufwandes, dessen das Anfertigen einer schriftlichen Botschaft bedarf, sonst kaum ein junger Mensch freiwillig schreiben. Müssten die Jugendlichen, gewissermaßen als Aufgabe, an die Wände schreiben, wäre diese Kommunikationsform wahrscheinlich schon ausgestorben.

Graffitieren ist nichts Lebenswichtiges. Doch dass es freiwillig ausgeführt wird, belegt den offensichtlichen Bedarf. Und es ist den Architekten zu danken, dass sie, wenngleich vermutlich ohne entsprechende Absicht, die Voraussetzung zu dessen Erfüllung geschaffen haben.

Dem speziellen Ruf des Schöpfwerks zum Trotz unterscheiden sich die dortigen Wort-Graffiti nicht markant von dem, was in Wiens Straßen so allgemein als Bild vorliegt. Zu meiner Untersuchung angeregt wurde ich nach der Lektüre eines Interviews mit dem Sozialarbeiter Peter Stanzl in der „Presse“. Grob wiedergegeben lautete Stanzls These: Die Besiedlungsstruktur der ersten Schöpfwerkgeneration war eine sehr homogene. Junge und einkommensschwache Familien zogen gleichzeitig ein, kriegten etwa zeitgleich Kinder, wodurch es zu Getthoisierung, Stigmatisierung, Nachbarschaftskonflikten, Rückzug, Anonymität und, sobald die Kinder in die Pubertät kamen, zu Vandalismus kam. Dieser Punkt sei nun überwunden und sei kein Spezifikum des Schöpfwerk, sondern würde sich in jedem derart großen Sozialbau wiederholen. Die Zahl der zb Arbeitslosenempfänger, oder die Anzahl der zb kriminellen Vorkommnisse wären, allen gegenteiligen Gerüchten zum Trotz, auch laut Auskunft der Polizei, heute nicht größer als in vergleichbaren Wohngegenden

Am Schöpfwerk war es für mich auch relativ leicht, Wort-Graffiti zu dokumentieren. Am Rennbahnweg hingegen kamen schon Zehnjährige, stellten sich vor die Graffiti, hielten ihre Hände darüber und wollten 10 Schilling pro Foto.

Zu betonen ist auch, dass es im Schöpfwerk die schönen, die künstlerischen „Pieces“ nicht gibt; die „Tags“ erscheinen zahlreich an den Wänden, dennoch vergleichsweise zur BewohnerInnendichte, weniger oft als im Stadtbild.

Zurück zu den Themen. Das quantitativ zweitgrößte Thema im Schöpfwerk scheint der Fußballsport zu sein. An den Wänden jedenfalls ist er es.

Eindeutiger Sieger nach Zahl der Nennungen in Hinsicht Sympathie oder Gegnerschaft ist der Sportclub Rapid. Es folgen FAK, die Austria und einige wenige Nennungen von FC Tirol oder Salzburg, wobei die letzten beiden sich keiner kommentierenden Hinzufügungen erfreuen. Hingegen sind vor allem die Pro-Rapid-Graffiti zahlreich von gegnerfeindlichen oder auch fremdenfeindlichen oder antisemitischen Bemerkungen begleitet.

Graffiti sind selten datiert. Das zweitälteste Datierte, das im Schöpfwerk vorliegt, stammt vom 22.10.86: es erwähnt den Kampf Bayern:FAK, welcher nach der Notiz mit 7:0 endete. Jemand anderer hat das Resultat ausgebessert und hingeschrieben: 7: 10. Ein verzweifelter Scherz…

60 Hakenkreuze im Schöpfwerk

Insgesamt ist die vorzufindende Rechtslastigkeit von Wandbotschaften im Schöpfwerk nicht unbedingt mit Rapid-Nennungen verbunden. Wenn zu Ende des Betrachtungszeitraumes etwa 60 Hakenkreuze im Schöpfwerk gezeichnet waren, bezeugt dies den seit Jahren anhaltenden allgemeinen und eben auch Jugendtrend zu rechten Positionen, von dem ja gerade Sozialbausiedlungen stärker erfasst sind. Und es ist sicherlich eher Hinweis als Zufall, dass die komplexeren Botschaften dieser Art neben, unter und nahe dem Ballungszentrum der Siedlung an den Wänden und Säulen stehen, nämlich dem sogenannten Hochhaus. Politisch aggressives Verhalten taucht durchaus auch sonst bei starken Menschenballungen auf. Und es ist mir ein Trost, dass anscheinend ein Gutteil der Jugendlichen, die schriftliche Wortspenden liefern, die Nazi-Symbolik eher als Mode anwenden und nicht so sehr, weil sie gut informiert und tatsächlich ideologisch motiviert sind. Andernfalls würde z.B. das Hakenkreuz nicht so oft verkehrt gezeichnet sein. Es wird schlicht als Provokationsmittel hergenommen. Auch muss gesagt werden, dass an keiner Stelle im Schöpfwerk irgendeine Tat aus dem Spektrum der Nazigreuel verherrlicht wird oder zu einer solchen aufgefordert würde. Dies ist z.B. in manchen Toiletten der Wiener Universität leider schon der normale Fall.

Auch die Banden, die sich zumindest schriftlich ihrer Existenz und vielleicht auch nur ihrer schriftlichen Existenz versichern, kommen vorwiegend ohne politisch rechte Begriffe aus. Allerdings müssen, wiederum sei von allen in die frühe Jugend zurückgedacht, die überwiegend männlichen Bandenmitglieder möglichst martiale, möglichst furchterregende Namen finden. Und: Die Banden brauchen ein Territorium, welches ihnen gehört, eine Heimat, die verteidigt gehört. Eine Siedlung schafft in diesem Falle Identität:

Kurz zum Zeitthema Drogen: Es steht nichts an den Wänden, was nicht zu unserer Zeit ebenso Thema war, und, Schreck lass nach, auch aus uns sind halbwegs umgängliche und verantwortliche Erwachsene geworden.

Ein anderer Punkt, der meines Erachtens betrüblich ist: Kein einziges Graffito thematisiert die Situation der Lehrlinge oder den Lehrstellenmangel. Jedoch steht auch in diesem Punkt das Schöpfwerk nicht allein.

Auch Gott kommt ein paar mal vor, weit auseinander und gar nicht im Kirchenbereich. Ebenso der Tod. Eher im ironischen Bereich. Beispiele: „Rauche ruhig Marlboro, denn sterben mußt du sowieso“. Oder: „Für manche kommt der Tod so schnell, dass sie vergessen zu sterben“.

Die dem Schöpfwerk direkt benachbarten Gemeindebauten und jene weiter weg hinter dem Khleslplatz, wo es aussieht wie am Dorfplatz, sind graffitimäßig völlig tote Hose. Hingegen ist der Platz unter der Autobahnzubringerbrücke jenseits der Zanaschkagasse eindeutig ein Treffpunkt älterer Jugendlicher, das sprechen die Graffiti und das bestätigten Erwachsene aus dem Bau. Es ist ein Treffpunkt für Pärchen. Zugleich ist unter der Brücke anscheinend ein Ritualpunkt für Hooligans, die dort ihre Schriften hinterlassen, trinken und Gegenstände zerschlagen oder verbrennen, also Wirsanwir- und Wirsanstoak-Rituale, wie sie vorwiegend Buben im jugendlichen Alter durch alle Generationen hindurch zu brauchen scheinen.

Die vielen Liebes-Graffiti vermitteln auch an dieser Stelle den Eindruck, dass Kommunikation über Sexualität gesprächsweise kaum fruchtbringend stattfindet. Hingegen zeigt die oftmalige Nennung von Ausdrücken aus der Sexualität ein starkes Bedürfnis nach Kommunikation über Sexualität und natürlich das Nichterwartenkönnen der Ausübung von Sexualität, das diesem Alter v a bei Burschen innewohnt. Auch hier wieder markant der Machismo seitens der Burschen, die den Mädchen keine sexuellen Erfahrungen zubilligen, außer mit ihnen, also mit dem jeweiligen Schreiber selbst.

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