Blaue Wunder in VeldenDichter Innenteil

Herr Groll und der Dozent weilten für ein paar Tage in Velden am Wörthersee. Der Dozent besuchte einen kriminalsoziologischen Kongress und sollte über die «Blaue Kornblume als Symbol politischer Kriminalität von Schönerer bis in die Gegenwart» referieren.

Foto: Mario Lang

Möge der blaue Alptraum an uns vorüberfahren!

Am Vorabend seines Auftrittes unternahmen die beiden eine Wanderung durch den Ort. Als der Dozent einen befreundeten Kongressteilnehmer erblickte, verwickelte er diesen in ein Fachgespräch. Der Kollege stammte aus Bozen und war Spezialist für Kirchenkriminalität, er hatte eben eine Studie über den Beinahe-Bankrott des Franziskanerordens abgeschlossen. Während die beiden ihren Meinungsaustausch in einem Café fortsetzten, war Groll auf einem holprigen Gehsteig ostwärts gerollt, schließlich bog er in eine Reihenhaussiedlung ab. Die Straße führte stetig bergauf. Zweimal wurde er von rüstig ausschreitenden Kärntnern überholt. Groll konnte nicht anders, als dem Gebrüll der Paare zu folgen. Das erste Paar, ein Mann und eine Frau jüngeren Alters, führte Schistecken mit sich. Die beiden waren von einem Wien-Wochenende zurückgekehrt, wo sie die «Wiener Wiesn» neben dem Praterstadion besucht hatten. Groll hörte vom Hass des Mannes auf die arroganten Wiener, die das Kärntner Finanzwesen ruiniert hätten, und er vernahm den Ekel der Frau angesichts grüner «Mannweiber» in den Wiener Innenstadtbezirken. Das zweite Paar erreichte Groll keine fünf Minuten später, zwei rüstige Männer in fortgeschrittenem Alter, unterhielten sich über die Vorzüge des Kärntner Jungweins, der die besten Tropfen Italiens aussteche. Die Straße wurde immer steiler, und obwohl Groll sich sichtlich plagte, kam es keinem der vieren in den Sinn, Hilfe anzubieten oder auch nur zu grüßen. Herr Groll verfluchte aber nicht etwa die Kärntner, sondern sich selbst. Mit halbleeren Reifen derartige Steigungen unter die Räder zu nehmen, war töricht. Bei jedem Armstoß schalt er sich einen unverbesserlichen Ignoranten. Schließlich kam er mit brennenden Oberarmen und einem hässlichen Rasseln in der Lunge auf dem Parkplatz einer Gaststätte an. Tief unten erstreckte sich der See. Grolls Ziel war erreicht. In Velden ist das Seeufer, von winzigen Ausnahmen abgesehen, nicht mehr wahrnehmbar. Nicht nur, dass sich die Seegrundstücke allesamt in Privatbesitz befinden, auch der Blick auf den See wird infolge der überall emporschießenden mehrgeschossigen Apartmentblöcke vereitelt. Man muß sich schon auf die Berge begeben, um sich am Anblick des türkisblauen Wassers zu erfreuen.

Bald darauf fuhr Herr Groll zurück in die Ebene, zur Bundesstraße. Vom Parkplatz aus hatte er nicht nur den See, sondern auch eine Tankstelle gesehen. Dort würde er Luft für die Hinterreifen bekommen.

An den Zapfsäulen angekommen, öffnete er den Ventilverschluss. Bald stellte Groll fest, dass der erste Reifen nicht mehr als drei Bar enthielt. Kein Wunder, dass ich mich wie ein Zugochse plage, dachte Groll bitter. Das Aufsetzen der Pumplanze auf das Ventil erwies sich als Geduldsspiel. Mit einer Hand das Gerät auf das Ventil zu pressen, während die andere den Plus-Knopf der Pumpe drückte und bei all dem nicht aus dem Rollstuhl zu kippen, kam einer equilibristischen Übung gleich. Zwei Männer, standen mit zwei Flaschen Hirter-Bier bewaffnet, vor dem Eingang zum Tankstellenbistro. Interessiert verfolgten sie Grolls Verrenkungen. Zweimal drohte Groll aus dem Rollstuhl zu rutschen, nur artistische Gewandtheit im Verein mit einer großen Portion Glück verhinderten den Sturz auf den ölverschmierten Asphalt. Auch diese Darbietung verfolgten die beiden Hirteristen aufmerksam. Als Groll nach langen Minuten die volle Funktionsfähigkeit der Reifen wieder hergestellt hatte, kam einer der beiden auf Groll zu.

«Geht ja!» sagte der Mann. Groll schwieg.

«Kärnten ist ein wunderschönes Land», stellte der Biertrinker fest und Groll überhörte den drohenden Unterton nicht.

«Und freundliche Leute, höflich und zuvorkommend», erwiderte Groll.

«Kärnten ist das schönste Land auf der Welt», sagte der Mann dumpf.

«Und erst die Leute», sagte Groll. «So hilfsbereit.»

Der Mann glotzte Groll an. «Kärnten ist das schönste Land der Welt», stammelte er und ließ einen achtbaren Rülpser los.

«Woher bist denn du?»

«Aus der Karlau», sagte Groll. «Ich bin Freigänger.»

«Verstehe», sagte der Mann. Groll setzte den Rollstuhl in Bewegung. «Schön brav Hofer wählen!» rief der Kärntner ihm nach. Groll antwortete nicht. Er hatte den Dozenten gesehen, der mit langen Schritten näherkam. Der Rollstuhl lief wie von selbst.