Das SystemDichter Innenteil

Das System ist zu deiner Unterstützung da. Es sorgt für dich, es kuriert deine Leiden, es hilft dir bei finanziellen Engpässen. Das System gibt vor, alles zu deinem Wohle zu tun. Doch das System richtet dich zugrunde. Das System wurde von Altvater Bruno errichtet. Doch seither haben viele Väter Raubbau daran betrieben und sich selbst bereichert. Das System ist nur noch dazu da, sich selbst zu erhalten.

Grafik: Karl Berger

30 Minuten hat es im TCM-Zentrum nur gedauert, nun weiß ich, was los ist. 30 Jahre der Suche liegen schon hinter mir, und hunderte Ärzte und Therapeuten. Die Lösung lässt sich anhand eines Moments von 30 Millisekunden erklären: Die Zeitspanne, in der ich mit dem Kopf gegen den Vordersitz geknallt bin. Ein Schädel-Hirn-Trauma nach einem Frontalzusammenstoß vor 40 Jahren. Als ich Fünfzehnjähriger damals aus dem Koma erwacht bin, war ich ein Anderer. Das spüre ich seit damals. Nur die Ärzte sagten bei der Entlassung aus dem AKH, es sei wieder alles in Ordnung. So wie sie in den letzten 30 Jahren dieses Trauma weitgehend ignorierten. Und stattdessen die Lösung lieber in Röntgenbildern, Laborbefunden, EKG-Kurven und Fragebögen suchten.

Von diesem Blickwinkel erscheinen manche Aussagen und Ansätze früherer Ärzte in neuem Licht. Wie zum Beispiel die Behandlungsmethode eines Orthopäden, der mich jedes Mal bloß aufforderte, mich vornüber zu beugen, um dann zu sagen, dass ich weiter trainieren soll. Implizit meinte er wohl auch, dass ich weiter zu ihm kommen soll. Oder meine vielfältigen Erfahrungen mit den Dutzenden Physiotherapeuten, die ich während meiner langen orthopädischen Laufbahn kennengelernt habe. Jede(r) fand einen ganz neuen Ansatz für meine Beschwerden, so finanzierte mir die Kasse im Lauf der Zeit ein halbes Anatomie-Studium. Die Kasse zahlt meiner Erfahrung nach lieber dreißigmal die gleiche Behandlung, die nicht viel bringt, als einmal eine teure Behandlung, die wirklich hilft.

«Die Fachärzte, die ein Physikalisches Institut leiten, werden rasch zu Millionären. Denn die Patienten müssen ja jedes Jahr wiederkommen.» (Zitat eines Arztes für physikalische Medizin) Von einem Masseur erfuhr ich die Details: Die Heilmasseure eines Instituts erhalten pro Stunde 6,50 Euro. Einen entsprechenden Lohnzettel habe ich selbst mal gesehen. Dem Arzt zahlt die Kasse für eine 20-Minuten-Massage allerdings 50 Euro, ohne dass er etwas tun muss. Macht in der Stunde 150,–. Mit Verordnung würde ich bei diesem Masseur vier Prozent der Kosten von der Kasse rückerstattet bekommen. Würde der Masseur für einen Arzt arbeiten, würde die Kasse die kompletten Kosten übernehmen. Tu felix Austria nube! (Im Sinn von Beziehungen schaffen.) In besonderer Erinnerung habe ich eine Reha-Anstalt im Waldviertel, wo das Personal auf jede Kleinigkeit achtete; es war aber jeder_m egal, dass ich in dem Bett mit Betteinsatz aus Metall nicht schlafen konnte. So musste ich meist am Boden liegen. Eine Spezialbehandlung für meine Wirbelsäule.

Kein Erschöpfungssyndrom

Dann gab es auch den Internisten, der mich zur Diagnose meines Erschöpfungssyndroms auf das Ergometer setzte und dann stur behauptete, dass ich unter keinem Erschöpfungssyndrom leide. Keine Fragen, wie ich den Alltag verbringe, und was ich schaffe. Ich soll halt meine 70-jährige Mutter bitten, meine Wäsche zu waschen; das habe ich von mehreren Vertretern des Systems gehört

Mir fällt die Aussage eines Arztes in meinem Bekanntenkreis ein: «Das Kassensystem kann schon lange keine adäquate medizinische Versorgung mehr leisten. Bei 40 Euro Kassenhonorar pro Quartal können sich Allgemeinmediziner bloß zehn Minuten lang einem Patienten widmen. Da kann man bloß Befunde anschauen, den Menschen kaum. Andererseits haben Patienten keine Motivation für eine gesunde Lebensweise, denn es ist eh alles gratis. Und man gibt sich der Illusion hin, die Medizin könne eigene Versäumnisse ausbügeln. So ist das System einerseits unfinanzierbar geworden und kann andererseits wenige Heilungserfolge bringen. Ohne einen geringen Selbstkostenanteil der Patienten kann es nicht funktionieren. Der würde eine qualitativ hochstehende Versorgung ermöglichen und die Lebensweise der Patienten wohl beeinflussen. Doch bei Wahlreden wird das System schöngeredet. Jede Änderung ist tabu und das System sakrosankt. Und so schadet der Patient als Wähler gleichzeitig sich selbst.» (Frei zitiert) Und solange es die Mär vom tollen System gibt, bleiben auch die Politiker an der Macht. Das System erhält sich selbst. Und die Sozialversicherungsmitarbeiter, Mediziner, sozialen Vereine und so weiter ebenso.

Neue Krankheitsbilder

Die Pharmaindustrie spielt in diesem System eine bedeutende Rolle. Bekannt ist, dass manchmal neue Krankheitsbilder erfunden werden, und dann ein passendes Medikament «entwickelt» und verkauft wird. Vor langer Zeit hat ein Bekannter aus einem Pharmakonzern in einer Runde erzählt, er werde jetzt die Krankenkassen bearbeiten, damit ein Medikament des Konzerns (zur Potenzsteigerung!) auf Kasse geht. Das ist ja nun wirklich das zentrale Anliegen der Medizin. Wenn man bedenkt, wofür die Kasse nicht aufkommt. Pharmakonzerne spielen oft den Mäzen, wenn sich frisch approbierte Jungärzte ein EDV-System für die neue Ordi besorgen. Denn die Einrichtung einer neuen Ordination ist für viele Jungärzte fast unerschwinglich. Mit einem gesponserten System kann der Arzt aber nur Medikamente dieses Konzerns auf Rezept drucken. Konkurrenzprodukte müssen mit der Hand aufgeschrieben werden. Wer hat die Zeit dafür?

Einer meiner behandelnden Ärzte, der als Einziger seiner Fachrichtung in Österreich ein State-of-the-art-Behandlungszentrum betreibt, hat sein Konzept einem der obersten Leiter eines Sozialversicherungsträgers vorgestellt, mit der Überlegung, dass mit seiner Behandlungsmethode effektivere Reha-Maßnahmen möglich wären. Die Reaktion des Leiters: «Erstens, interessiert mi des net, wos Sie dazöhn. Zweitens, rein rechtlich existiern Sie fia mi gor net!» Das System erhält sich selbst.

Ein Bekannter hat in München die Ausbildung zum Heilpraktiker absolviert. Ist toll, wenn man in Deutschland bleibt; aber in Österreich hat man keine Chance, zugelassen zu werden. Das weiß schon die Ärztekammer zu verhindern. Das System erhält sich selbst.

Im Prokrustesbett

Als Patient fühle ich mich in den meisten Behandlungsräumen wie im Bett des Prokrustes. Das ist in der griechischen Mythologie der Gastwirt, der seine Gäste an seine Betten anpasste: Den großen trennte er die Beine ab, die kleinen streckte er auf der Streckbank. Auf das System umgemünzt: Stets wird auf ein augenscheinliches Symptom mit einem standardisierten, systemimmanenten Behandlungsverfahren reagiert. Zur Evaluation der Verfahren greift man ausschließlich auf Methoden der Statistik zurück. Man erhält dann Aussagen wie folgt: Bei einem Sample von 10.000 Patienten mit dem Symptom XY beträgt die Wahrscheinlichkeit der Besserung mit dem Verfahren Z genau 68 Prozent. Also behandelt man alle Patienten mit dem Symptom XY mit dem Verfahren Z. So wie Prokrustes allen seinen Gäste ein durchschnittlich großes Bett anbietet. Statistisch gesehen ist das eine gute Wahl. Doch für den einzelnen Gast ist die Statistik irrelevant; er möchte ein Bett, das für ihn passt, und nicht an das Bett angepasst werden.

Einer meiner Ärzte nahm einmal an einer Fernseh-Diskussion über unser Gesundheitssystem teil. Nach der Sendung sprach er den Redakteur an und sagte, dass ja inhaltlich gar nichts geboten worden sei. Darauf der Redakteur: «Das ist leider so. Es geht nur darum, das System gut darzustellen.»