Die GabelDichter Innenteil

Meine Mutter war ein sehr lieber, aber auch ein sehr einfacher Mensch, und sie hatte eine regelrechte Phobie vor Gabeln. Woher das kam, weiß ich nicht; jedenfalls gab es in unserem Haushalt keine einzige Gabel, und so konnte ich als Kind auch nicht den Umgang damit erlernen.Ein Gulasch zum Beispiel aßen wir mit dem Löffel, und ein Schnitzel nahmen wir in die Hand und bissen davon ab – wie die Steinzeitmenschen. Lange Zeit kam mir das völlig normal vor, weil mir jegliche Vergleichsmöglichkeit fehlte.

Das änderte sich schlagartig, als wir in der dritten Hauptschulklasse den ersten Kochunterricht hatten, anschließend nämlich auch aßen. Eine meiner Mitschülerinnen deckte den Tisch und legte Besteck auf. Ich erstarrte, als ich es sah: Gabeln!? Panik ergriff mich. Ich kann mit dem Ding nicht umgehen, dachte ich, die anderen werden mich auslachen. Fieberhaft suchte ich nach einer Ausrede. Dann sagte ich der Lehrerin, dass mir schlecht sei und ich daher nichts essen könne. Es gab damals noch alte Haushaltsgeschäfte, wo man einzelne Besteckteile erstehen konnte. Ich kaufte mir also eine Gabel und trainierte damit zuhause verbissen, bis ich mir sicher war, dass niemandem auffallen würde, dass ich erst seit kurzem gelernt hatte, mit Messer und Gabel zu essen. Seither bestand ich meiner Mutter gegenüber darauf, dass für mich immer eine Gabel im Haushalt vorhanden sein musste.

Viele Jahre später – ich war mittlerweile längst erwachsen – war ich mit einem Mann liiert, der vom sozialen Status her das totale Gegenteil von mir war: Sein Großvater war Generaldirektor bei der Länderbank gewesen, und er selbst wurde als Kind in einer Limousine ins französische Lyzeum gebracht. Also ein Unterschied wie Tag und Nacht. Dieser Mensch wohnte nun für etwa drei Wochen bei uns, weil zwischen dem Auszug aus seiner Wohnung und dem Einzug in sein neu erbautes Haus eine zeitliche Lücke klaffte. Für gewöhnlich aßen wir im Restaurant, aber dieses eine Mal eben nicht. Meine Mutter hatte Fleischlaibchen zubereitet, und weil mein Bekannter seit einem Autounfall blind war, hatte sie ihm das Essen auch schon kleingeschnitten. Ich achtete nicht weiter auf ihre Vorbereitungen, bis Thomas voller Entsetzen zu mir sagte: «Deine Mutter hat mir einen Löffel gegeben!» Offenbar dachte er, das wäre eine Vorsichtsmaßnahme wegen seiner Blindheit, damit er sich nicht verletzen sollte. In meiner Panik rief ich meiner Mutter zu: «Sag einmal, wo ist denn unsere Gabel?», woraufhin mein Bekannter irritiert fragte: «Habt ihr denn nur eine einzige?»

Ich wünsche wirklich niemandem blind zu sein, aber damals war ich froh, dass Thomas mich nicht sehen konnte …