Die Kunst, mit Gewinn ein Buch zu lesenDichter Innenteil

Aus der Schreibwerkstatt

Lesen ist immer ein sich Auseinandersetzen mit beidem dem Stoff, den man liest und der eigenen Lesart. Und gar, wer schreiben will, muss lesen! Deshalb ist das jüngst erschienene Hitlerbuch des mehrfach preisgekrönten Schriftstellers, Fotografen und Filmemachers Uwe Bolius eine Fundgrube für uns tapfere Schreiberleins, weil er darin auch sehr ausführlich seinen eigenen Zugang zur Autorentätigkeit offen legt. Und dann: Er ist im selben Bezirk zu Hause wie der Augustin, und die Hauptfigur seines Buches ist eine Frau, die im selben Alter wie Hertha Kräftner und wie diese als Folge männlicher Brutalität in den Freitod gegangen ist. Und: Es besteht die Möglichkeit, ihn zu einer Lesung und Diskussion in die Schreibwerkstätte einzuladen. Jedenfalls werden wir das versuchen. Aber nun zum Buch Hitler von innen.

Bitte von hinten ins Buch schlüpfen!

Hitler von innen? Kann/soll ein Mann in einen anderen schlüpfen? Im letzten Kapitel, einem autobiografisch gestalteten Nachwort, gibt der Autor Einblick in sein Ringen um das Wie und seine aufgeregte Begeisterung, mit der sich der mehr als dreißigjährige Ideenstau Luft macht und das Buch, oder besser seine Niederschrift, dann in kürzester Zeit entsteht. Man sollte dieses Kapitel 39 beim Lesen unbedingt vorwegnehmen. Das Bild des von den eigenen Entdeckungen faszinierten, von einer Vielzahl emotionaler Widerstände gebeutelten Schreibers wird einen dann das ganze Buch hindurch begleiten und alle Gereimt- und Ungereimtheiten im Lichte des Ihm-beim-Schreiben-Zuschauens erscheinen lassen.

Das als Roman etikettierte Werk ist eine eigens vom Autor geschaffene Konstruktion, um ein Portät des Bösen aus seiner Sicht zu zeichnen. Es stützt sich auf eine dokumentierte Zeitspanne von vier Jahren, von der ersten Begegnung Hitlers mit seiner Halbnichte Angelika Raubal bis zu deren Selbstmord in seiner Wohnung.

Die Hauptfigur

Mann schlüpft erzählend in Mann. Dazu braucht er eine Frau. Jedenfalls wählt der Autor die Halbnichte Hitlers zur Nabe des Rades, das die Erzählfäden spinnt. Sie ist die Lichtquelle, die den Schatten Hitler detailreich ausmalt, die anderen Figuren in der Begegnung mit und in der Beziehung zu ihr sichtbar macht. Sie bestimmt Zeit und Ort der Handlung. Sie ist sogar das Geschenk, an dem sich das Geschick der ganzen Welt, Holocaust und Ausbruch des Zweiten Weltkriegs entscheiden. Hätte Hitler es angenommen, wäre beides nicht geschehen. Eine Darstellung, die sehr an Götterstreit und Schicksalsmacht in antik griechischen Tragödien erinnert. Sie ist die Person, an der Hitler in seiner Auseinandersetzung mit seiner Sexualität scheitert. Sie ist der mögliche Wendepunkt im Leben von Hitlers Chauffeur, weckt im bisexuellen, mit dem Schlagring Kommunistengesichter zerdreschenden Genitalpartner des Führers zärtliche heterosexuelle Anwandlungen.

Der Autor verhält sich schreibend ihr gegenüber wie ein Verliebter, was er auch wörtlich bekennt. Seine Verliebtheit geht offenbar weiter, als ihm selbst bewusst wird. Vehement nimmt er sie sogar in winzigen Details gegen die Beschreibungen ihrer Feinde in Schutz. Nennt der Hitlerkumpane Hanfstaengl Geli eine üppige Blondine, bestreitet Bolius das sofort und verleiht ihr im Verlauf der Erzählung schwarze Locken. Warum soll der missgünstige Hitlerjünger aber dem Objekt seiner Abneigung arisches Blond verleihen statt der dunklen Locken, die der erste Jude hat, an den Hitler sich erinnert. Später wird das Judentum für Hitler als ein Symbol verhasster, weil seine Schwulität entlarvender und daher bedrohlicher Weiblichkeit gedeutet, und der ebenfalls schwarz gelockte Chauffeur und erste Nebenbuhler des Führers wird von ihm politisch und menschlich vernichtet. Eine Erklärung der schriftstellerischen Haartönung bleibt uns der Autor schuldig. Gleichzeitig zählt die subtile Schwarzlockenmetapher zu den Beweisen seines sprachlichen Könnens. Überall dort, wo er es dem Leser überlässt, Andeutungen zu Ende zu denken, zeigt er die hohe Kunst des Schreibens. Eine weitere subtile Metapher ist das Hitlerbärtchen, das er im Gesicht trägt, weil er sich schämt. Er überlässt es dem Leser, daraus den Satz ein Despot trägt Schamhaar im Gesicht zu machen. Das ist wunderbarer Erzählstil.

Daher muss vom autobiografischen Bekenntnis … Hitler zu erzählen ist möglich, das habe ich inzwischen erfahren … ausgehen, und von der Beschreibung der Begeisterung, als endlich der Schlüssel zum Erzählen gefunden wird, um zu verstehen, warum ihm im Umfeld der wichtigsten beiden Figuren auch angestrengte Metaphern passieren. Hitler starrt seiner Halbnichte, hinter ihr stehend ein Loch in den Unterleib. Loch ist vermutlich das am häufigsten verwendete Hauptwort, es wird unzählige Male verwendet. Gelis Brüste (sie hat doch wohl nur zwei?) regnen auf ihren Liebhaber herab. Auf einem Foto, auf dem sie als Bursche posiert, hat sie eine Zigarette im Mund, … als hätte sie das Mädchen sich absichtlich zwischen die Lippen geklemmt … Tut sie es also normalerweise unabsichtlich? Oder heißt absichtlich zwischen die Lippen, dass der Gegenstand sonst immer woanders hingeklemmt wird? Die Suche nach besonders prägnanten Ausdrücken, wenn es um Geli geht, verführt den Autor bisweilen zu einer grotesken und unangemessenen Bildwahl. Wohl ein Zeichen, von welch aufregender Wichtigkeit Geli beim Schreiben für ihn war. Dankbar, dass sie so viel klarer und leichter fassbar ist als das dämonische Zeitgeschichtegespenst Hitler, macht er ihr mit kleinen Fehlern den Hof und sich als Schreiber sympathisch. Ob er das Attribut geil vielleicht deshalb so oft verwendet, weil es ein Anagramm von Geli ist? Sogar die Kastanienbäume blühen bei ihm maigeil.

Die indirekte Hauptfigur

Für Hitler genügt eine direkte Beschreibung im Erzählteil nicht. Er wird indirekt durch das, was er anrichtet, beschrieben und direkt in mehreren übereinander gelegten Skizzen. Eine dieser Skizzen ist die pseudoreligiöse Facette seiner Selbstsicht. Bibelanspielungen sind über die ganze Erzählung verstreut. … Wahrlich, ich sage dir: Ich bin dein Gott und du bist mein Sohn … Quasi empfangen vom heiligen Richard Wagner fühlt er sich als Erlöser des Deutschtums gesandt. Er ist Gottes Sohn und Partner, ihm gleichgestellt und zeitweise sogar sein Kommandant, der ihm befiehlt und droht. Gleichzeitig hält sich der Berufene an das altjüdische Namensverbot, vermeidet es, Gott auszusprechen, codiert ihn als Vorsehung. Wie Christus fällt er unter dem Kreuz, nur dass es ein Gipfelkreuz ist. Wie Abraham wird ihm befohlen, zu töten, nur dass er nicht zurückgerufen wird. Nach gottbefohlenem Töten oder Tötenlassen steigt er in die Badewanne und kommt wie nach einer urchristlichen Taufe gereinigt heraus. Das Taufsakrament ist einzig für ihn wiederholbar geworden. In einem Gebet vor dem Bronzekopf Gelis (Hitlers goldenem Kalb und gleichzeitig seiner marienhaften Fürsprecherin?) dankt er seinem Gott für die Absolution, … ermorden zu dürfen. Natürlich kann hier nicht Absolution gemeint sein, sondern Erlaubnis oder sogar Befehl, aber der Autor stellt Emotionalität über die Sachlogik und bekennt sich an vielen Stellen des Buches auch dazu.

Alltagsverhalten, Parteiführerverhalten, homosexuelle Objektübertragungen …, Skizze um Skizze verhilft der Autor seiner Figur zu einer Plastizität, die der Leser letztlich auch als aufdringlich und irritierend empfinden kann. Irritierend sind auch Sprache und Stimme, die der Hitlerfigur verliehen werden. Von Gelis Stimme hat kaum jemand eine Vorstellung, aber das beschwörende, suggestive Bellen des Führers bei seinen Reden, das auch von Charlie Chaplin, der des Deutschen nicht mächtig war, in Fantasielauten in täuschend ähnlichem Tonfall nachgemacht wurde, haben viele Leute im Ohr. Da klingen Wendungen wie Hitler lächelte seinen Sekretär mit bezaubernd dunkler Stimme an nicht plausibel, abgesehen davon, dass es nicht möglich ist, jemanden mit seiner Stimme anzulächeln. Vielleicht wollte Bolius mit dieser mutwilligen Verfremdung das Signal setzen: Ihr müsst euch von euren Doku-Film-Bildern trennen, wenn ihr mir folgen wollt.

Auch seine Hitlerfigur nimmt ihn emotional stark mit. Und auch bei ihr merkt man es an der Anhäufung kleiner Ungereimtheiten. Hitler will seinen schwammigen Körper nicht sehen, bringt ihn aber bei der täglichen Waschung zum Glänzen, weil er vor Kraft nur so strotzt. Die Vernichtung seiner selbst findet erst am Ende statt. Wie kann eine Person, sieht man von Ghoststorys ab, sich am Anfang ihrer Geschichte vernichten?

Lust am Hass lässt ihn erruptiv Sperma ausstoßen. Hassorgasmen und manch anderes wird in unmittelbarer Genitalität ausgelebt. Das will nicht recht ins Bild des raffinierten Wahnsinnigen passen, dessen Aufstieg für ihn das Allerheiligste ist. Ebenso, dass Hitler im beschriebenen Zeitraum sich die Blöße gibt, die biederen Wirtshausgäste eines Münchner Beisls durch eine wilde und todernst gemeinte Rauferei zu amüsieren.

Dokumentation und philosophischer Essay

Die Kapitel, in denen der Autor Bezüge zwischen seinen Thesen und dem Quellmaterial herstellt, bieten eine Fülle von Anregungen und Hinweisen, die den Interessierten animieren, ebendort nachzulesen. Auch das Wie der Konstruktion oder Entdeckung diese Bewertung sollte dem Leser vorbehalten bleiben ist durchaus spannend. Spannend auch, wie er seines Hitlers Liebe zum Hass aus einer Fülle von Argumenten, Parallelliteratur und Quellzitaten herleitet, mag man seiner Meinung folgen oder nicht.

Da ist es dann ein wenig schade, dass der Autor sich von seiner Begeisterung für seine im Material gefundenen Thesen ein wenig zu sehr mitreißen lässt. Auf der Suche nach Superlativen für ihre Beschreibung und Deutung erfindet er eine Geschichte der Physik, in der das einzige unumkehrbare Ereignis die Kernspaltung ist und eine Psychoanalyse, in der die Abwehrmechanismen der Verleumdung und der Verwerfung zusammengenommen als Verdrängung bezeichnet werden, während Verdrängung, wo sie denn vorkommt, unetikettiert bleibt. Die Objektübertragung wird zur Projektion, diese wieder bleibt ebenfalls unettikettiert. Für die Aussagen des Buches sind diese Ungenauigkeiten völlig belanglos, schließlich ist es weder ein Physik- noch ein Psychologie- oder Zoologiebuch. Also könnte man auch über das Märlein vom (bestechend guten) Elefantengedächtnis hinwegsehen.

Weil der Autor aber an den Verfassern seiner Quellen sehr vorwurfsvoll kritisiert, dass sie in dokumentativer Sachlichkeit verharren, verführt er den Leser zu einem kritischen Blick darauf, ob ihm (dem Autor) nicht die Logik (auch die Logik der Sprache) etwas zu gleichgültig ist. Dass ein überschäumend emotionaler Autor überschäumend emotional schreiben darf, damit seine Leser sogar mitreißt, ist o. k. Aber warum dürfen Daten sammelnde HistorikerInnen sich dann nicht die Abstinenz von der Interpretation auferlegen?

Bolius ist z. B. bitter enttäuscht, dass die Geschichtsschreiber und Dokumentesammler auf den Fotografien der Dreißigerjahre Angelika Raubals Gesichtsausdruck nicht als Beweis ihres Unglücklichseins interpretieren. War damals Fotografiertwerden nicht immer eine lange und mühsame Prozedur? Gibt es auf den Fotos aus dieser Zeit nicht sehr häufig angestrengte, keinesfalls glücklich wirkende Gesichter? Gelis Unglücklichsein passt in die Erzählung von Bolius, er darf erzählend so interpretieren, es wirkt plausibel und ohne Bruch. Aber warum die Vorwürfe an Leute, die nicht erzählend berichten, sondern deren Job es ist, Dokumente zur Verfügung zu stellen (wie zum Beispiel den Autoren, die mit ihrer Kunst dann episches Fleisch an das Datenskelett zaubern dürfen).

Insgesamt: Ein interessantes Buch mit sehr subjektiven, aber überreich dokumentierten, quellbezogenen Thesen. Eine berührende Beschreibung der Auseinandersetzung des Autors mit seinem Thema. Ein Buch mit vielen Seiten, und damit ist nicht nummeriertes Papier gemeint.

Der daraus hergeleitete Tipp: Verliebt euch in eure Erzählfiguren, lasst der Fantasie freien Lauf aber gebt Acht auf die Fallen des Verliebtseins.

Franz Blaha

Uwe Bolius: Hitler von innen. Hohenems. Limbus Verlag 2008.

19,80