Eine andere Volkswagen-StoryDichter Innenteil

Herr Groll auf Reisen 178. Folge

Reifnitz am Wörthersee ist das Zentrum des alljährlichen Golf-GTI-Treffens, weit über Hunderttausend begeisterte Automobilisten aus ganz Europa kommen dort in der warmen Jahreszeit für drei Tage zu einem wilden Stelldichein zusammen. Die Einnahmen der Tourismusbetriebe aus dem Massensaufen sind aus den örtlichen Budgets nicht mehr wegzudenken.

Groll und der Dozent standen vor einem aus Stein gehauenen Modell eines VW Golf an der Seepromenade und unterhielten sich über Geschichte und Zukunft des Volkswagen-Konzerns.

 

«Vom Kriegsende bis in die siebziger Jahre führte ein alter Nazi namens Northoff den Konzern», erzählte Groll, «starrsinnig hielt er am Käfer als alleinigem Erfolgsmodell fest. Erst als der Konzern vor dem Bankrott stand, kamen andere Führungskräfte an die Konzernspitze; in letzter Minute lancierten sie das Projekt eines kompakten Mittelklassewagens mit einer für Volkswagen revolutionären Auslegung: Wechsel von Hinterrad- auf Vorderradantrieb, ein 4-Zylinder-Reihenmotor statt eines Boxermotors, damit verbunden Wasser- statt Luftkühlung und eine Ablösung des Kraft-durch-Freude-Looks durch ein modernes mediterranes Design. Es stammt von Giorgio Giugiaro und geht mittlerweile bei der siebten oder achten Neuauflage des Golf ins fünfte Jahrzehnt, so wie seinerzeit der Käfer.»

 

«Das nennt man eine beispielhafte Modellpflege», sagte der Dozent nachdenklich.»

 

«Tatsächlich hat die Einführung des VW Golf in Deutschland die Nachkriegszeit beendet», fuhr Groll fort. «Mehr als der Kniefall Willy Brandts vor den Opfern des Holocausts in Warschau war Deutschland mit dem Golf plötzlich mitten in Europa angekommen. Wenn der Wehrmachtsbetrieb «Volkswagen» solche aufregenden Autos bauen kann, ist es mit der deutschen Gefahr vorbei, sagten sich viele, vorschnell zwar, aber für ein gutes Vierteljahrhundert mit Grund. Und die jungen Leute in Europa feierten diese Friedensbotschaft, indem sie den Golf millionenfach kauften, und die jungen Leute von heute feiern die Europäisierung Deutschlands jährlich mit einem Fest für Hunderttausende am Wörthersee. Es ist einer der größten Freiluftgottesdienste der Welt, der VW Golf ist der Messias, das «Gummi! Gummi!»-Ritual, bei dem Reifengummi unter Vollgas und angezogenen Bremsen verbrannt wird und weißer Rauch aufsteigt, der die Gläubigen für Minuten einnebelt und verhüllt, ist der Höhepunkt der Messen, die Wandlung sozusagen.»

 

Groll schaute um sich und sprach mit leiser Stimme weiter. «Das Trinken und Essen von Blut und Leib des Herrn erfolgt mittels Bier und Bratwürsten, und der oberste Gott heißt Herr Piech und stammt, wie könnte es anders sein, aus Österreich. Anfeindungen kommen nur von verzweifelten und bösartigen Streifscharen von Opel- und Fordfahrern, mit einem Wort, von automobilen Schergen des amerikanischen Imperialismus.»

 

So habe er das noch nicht gesehen, gestand der Dozent.

 

«Es gibt keine andere Lesart», beschied Groll. «Im Übrigen ist der Volkswagenkonzern gerade dabei, sein Ziel größter Autokonzern der Welt zu verspielen.»

 

Der Dozent sah Groll zweifelnd an, der setzte unbeirrt fort.

 

«Kenner sahen erste Schatten am Himmel des Konzernglücks schon nach 1989 heraufziehen. Mit der deutschen Einheit verlor Volkswagen seinen strahlenden Nimbus als Technologie- und Designführer. Indem der Konzern seither beharrlich daran arbeitet, allen Volkswagen eine Einheitsuniform zu geben und den Kampfruf: Ein Volk! Eine Automarke! Ein Design! umzusetzen, arbeitet Volkswagen zielstrebig am eigenen Untergang.»

 

«Tatsächlich weisen Polo, Golf, Passat, Touareg bis hin zum Luxusmodell Phaeton alle dasselbe Design auf», bestätigte der Dozent.

 

«Es ist kein Zufall, daß die «Sonne Kärntens» in einem Volkswagen verunglückte», fuhr Groll fort. «Noch im Tod setzte er ein Zeichen aggressiven Deutschtums.»

 

«Erstaunlich, was Sie aus der Autoindustrie alles herauslesen», meinte der Dozent.

 

«Es ist nur konsequent, die Dinge so zu sehen», fuhr Groll fort. «Bruno Kreisky fuhr Rover, die DDR-Spitze Volvo, die Belgier Citroën immer schon waren führende Politiker darauf bedacht, mit der Wahl der Staatskarossen keine außenpolitischen Verdachtsmomente aufkommen zu lassen.»

 

«Also ist der Umkehrschluss auch zulässig», erwiderte der Dozent. «Berlusconi fuhr Audi. Was sagt uns das?»

 

«Dreimal dürfen Sie raten», erwiderte Groll.