Einfach weg!Dichter Innenteil

Wie konnte die Sonne scheinen. Ausgerechnet heute. Ich stehe tatsächlich hier und sehe das Flugzeug fliegen. Es fliegt einfach weg.Für mich bedeutet dieses Flugzeug das Ende meines bisherigen Lebens, und hier am Flughafen startet ein Flugzeug nach dem anderen, als ob es nichts Besonderes wäre. Er sitzt tatsächlich in diesem Flugzeug, und ich stehe hier im Flughafenrestaurant mit unserem vierjährigen Sohn an der Hand. Es war ein Fehler, ihn mitzunehmen. Wie konnte ich das tun?! Ob er versteht, dass sein Vater hier gerade abgeschoben wird und es erst einmal keine Möglichkeit geben wird, ihn wiederzusehen?

Ich hoffe, er versteht es nicht. Aber so wie in den letzten Tagen wird er wohl weiterhin fragen, wo sein Papa ist. Aber irgendwann wird er aufhören zu fragen. Was werde ich ihm in den nächsten Jahren erklären, und was wird er wohl den Menschen sagen, denen er in Zukunft begegnen wird? «Mein Papa wurde aus Österreich abgeschoben, als ich vier Jahre alt war.»

Julia riss mich aus meinen Gedanken. Sie berührte mich an der Schulter und hatte diesen hilflosen Blick, den mir in letzter Zeit die Menschen immer häufiger zuwarfen: «Möchtest du noch hierbleiben? Komm, ich gehe mit Jeremy mal ein wenig rumgucken!» Sie nahm mir den Kleinen aus der Hand und verschwand mit ihm in der Menschenmenge.

Ich finde, es müsste regnen und stürmen. Der Himmel müsste wolkenverhangen und tief verdunkelt sein. Irgendetwas müsste anders sein. Es kann doch nicht sein, dass die Erde sich weiter dreht und alles seinen normalen Lauf nimmt! Und nur ich stehe hier und verliere meinen langjährigen Lebensgefährten und Vater meines Sohnes.

[Fortsetzung Seite 32:]

Langsam sinkt mein Kopf gegen die riesigen Flughafenfenster, trotz der Sonne sind sie kühl. Es ist ein angenehmes Gefühl. Vielleicht kann ich hier einfach stehen bleiben und mich an dem Fenster abstützen. Nur so lange, bis ich mich ein wenig gesammelt habe. Am liebsten ließe ich mich hier in aller Öffentlichkeit auf den Boden sinken und möchte nicht mehr aufstehen. Was wohl mögen die Leute sagen, wenn ich einfach ausraste. Einfach gegen die Fensterscheiben schlagen und trommeln, schreien und weinen, hysterisch werden! Wahrscheinlich hielte man mich für verrückt. Die Polizei oder der Notarzt kämen, und ich wäre nur eine von vielen, die durchdrehen, und die Menschen sähen mich mitleidig an, schüttelten den Kopf, gingen vorbei, und schon hätten sie mich vergessen.

«Ich hasse dich, Jerry. Ich hasse dich dafür, dass du mich in diese Situation gebracht hast. Wären wir uns nur nie begegnet!»

Es war der Sommer der Europameisterschaft, als ich Jerry zum ersten Mal traf. Ich traf meine Freundin Stavi im Universitätspark. Wir hatten beide keine Lust auf Fußball, setzten uns daher auf eine Parkbank. Während wir dort saßen, kamen zwei junge Männer und sprachen uns eigentlich freundlich an, ich jedoch herrschte sie übertrieben unfreundlich an, dass wir kein Interesse hätten. Sie schlenderten weiter, und Stavi und ich unterhielten uns; ich hatte sie schon vergessen, und da kamen sie wieder zurück. Dieses Mal stellten sie sich direkt vor, sodass wir gar nicht die Möglichkeit hatten, sie zu ignorieren. Jerry und sein Freund waren sehr nett, und wir saßen noch lange auf der Bank und lernten uns kennen. Jerry und ich verabredeten uns für den nächsten Abend. Es wurde ein schöner Abend. Ab diesem Abend trafen wir uns ständig. Wir gingen essen oder saßen lange in Cafés und Bars und unterhielten uns einfach. Er war sehr aufmerksam, und ich fühlte mich in seiner Gesellschaft wohl.

[ZWI-TI:] Was bedeutet schon ein Stück Papier?

Mit der Zeit erfuhr ich, dass Jerry einen Asylantrag gestellt hatte. Zu Beginn setzte ich mich nicht wirklich damit auseinander, was sein Status als Asylbewerber für unsere Beziehung bedeutet oder bedeuten könnte. Ich habe erst zu spät bemerkt, dass dieser uns bei negativem Ausgang unsere Beziehung kosten konnte. In der ersten Zeit war der Asylstatus einfach nicht wichtig. Ich hatte mich in diesen Mann verliebt. Was bedeutete da schon ein Stück Papier?! Jerry und ich verbrachten jede freie Minute miteinander. Ich lernte seine Freunde kennen und er meine. Wir gingen auf Partys, spazieren, ins Kino oder saßen einfach nur zusammen auf der Couch. Es war eine ganz normale Beziehung, so wie sie jeder andere auch hat. Ich war glücklich, und ich fühlte mich geborgen.

Zu Beginn war Jerry sehr zurückhaltend und erzählte wenig über sein Asylverfahren. Die Belastung, nicht zu wissen, wie es weitergeht und ob er morgen wieder zurück geschickt werden kann, war zunächst nicht offensichtlich.

Hinzu kam auch, dass er als Asylbewerber nicht arbeiten durfte und dazu verdammt war, die Tage langsam vorbeiziehen zu lassen.

Jerry lebte weiterhin im Asylheim, allerdings war er die meiste Zeit bei mir. Ich war nur ein paar Mal in all den Jahren im Asylheim, und war schockiert über die Zustände, in denen manche schon jahrelang lebten. Es war dreckig. Ich traute mich kaum die Toilette zu benutzen. Die Farbe blätterte von den Wänden ab. Die Möbel hatten ihre besten Zeiten schon lange hinter sich. Es erinnerte an ein abgewracktes Jugendwohnheim, nur dass hier Männer aus den unterschiedlichsten Nationen auf engstem Raum zusammen wohnten. Die Wörter, die ich hörte, waren ein Mix aus den verschiedensten Sprachen. Unter den Männern half meist nur Zeichensprache. Die jungen Männer hockten in den Ecken, guckten fern oder spielten irgendwelche Spiele. Natürlich war nicht alles schlimm und furchtbar, aber dennoch strahlte das Haus Verzweiflung aus. Es war so hoffnungslos. Das Leben schien hier drinnen still zu stehen.

Nach einigen Monaten kam ein Bescheid vom Bundesasylamt.

Er war negativ.

Im ersten Moment war ich wie gelähmt. So war das wohl, wenn man mit der Wirklichkeit plötzlich konfrontiert wird. Ich wusste zunächst nicht, was als Nächstes zu tun war; aber Jerry wusste von seinen Freunden, dass es Hilfsorganisationen gibt, die Rechtsberatung durchführen und die Beschwerden gegen die Bescheide erheben. Als wir dort ankamen, saßen in dem viel zu kleinen Warteraum viel zu viele Menschen: Junge und Alte, Frauen mit ihren Kindern, Österreicher mit ihren Partnern. Alle diese Menschen brauchten rechtliche Hilfe, und nun war ich eine von ihnen. Hier saß ich mit meinem Freund und wollte so gerne hören, dass es ganz einfach ist und er sicher in Österreich bleiben kann.

Jerry veränderte sich nach diesem Bescheid. Die Angst vor einer drohenden Abschiebung wich nicht mehr von ihm. Ich denke, es hätte geholfen, wenn er wenigstens eine Aufgabe gehabt und sich hätte beschäftigen können.

Ein zusätzliches Problem war auch die finanzielle Lage. Ich machte gerade meine Ausbildung zur Medienkauffrau, und mein Lehrgehalt war für mich ausreichend, aber da Jerry kaum Geld hatte, war mein Geld meist unser Geld. Aber trotz dieser Schwierigkeiten hatten Jerry und ich eine tolle Zeit. Seine Beschwerde war eingereicht worden, er hatte eine neue Verhandlung bekommen und seine Fluchtgründe noch einmal detailliert darlegen können. Nun würde in den nächsten Monaten oder Jahren die zweite und letzte Entscheidung fallen. Inzwischen hatte ich mich eingehender mit dem Thema beschäftigt und erfahren, dass manche Verfahren Jahre dauern können und dass die Einreichung einer Verfassungsbeschwerde die letzte Möglichkeit ist. Diese war aber zumeist wenig aussichtsreich, und zudem benötigte man einen Anwalt, der natürlich Geld kostet. Wir verdrängten das Thema und erschufen uns eine Realität, in der keine Gefahr bestand.

Nach einiger Zeit und nach der Geburt unseres Sohnes begannen erstmals meine engen Freunde und meine Familie vorsichtige Anmerkungen zu machen. Sie fragten, wie es weiter gehen solle und meinten, ich müsse nun nicht mehr nur auf mich aufpassen, sondern auch auf meinen Sohn. Sie machten sich verständlicherweise Sorgen. Meine Schwester fragte mich, ob ich mir wirklich darüber klar sei, was passieren werde, wenn der Bescheid negativ sei. Einmal meinte ich aus falschem Trotz, ich ginge dann zusammen mit Jerry in sein Heimatland zurück, woraufhin mich meine Schwester nur entgeistert anstarrte. Ich meinte dies nicht ernst, aber ich wusste auch keine Antwort auf ihre Fragen. Ich wusste, niemand meinte es böse, und im Stillen gab ich ihnen in fast in allem Recht, denn letztlich sprachen sie nur meine eigenen Gedanken aus, aber ich wollte das nicht hören.

[ZWI-TI:] Schwindend geringe Chancen

Die Erkenntnis vom Asylgerichtshof war negativ. Nun war es also so weit.

Bei der Rechtsberatung für Asylbewerber empfahl man uns eine Anwältin, wir gingen hin und setzten unsere ganze Hoffnung darauf. Sie wurde sehr schnell zerschmettert. Zwar stellte sie Jerry Verfahrenshilfe und schien sehr hilfsbereit, jedoch machte sie deutlich, dass die Chancen grundsätzlich schwindend gering sind. Aber wir mussten es versuchen, ich wollte mir am Ende auf keinen Fall vorwerfen, nicht alles versucht zu haben. Ich musste einfach jede Möglichkeit ergreifen, die sich bot.

Die Verfassungsbeschwerde wurde nicht zugelassen. Nun wurde mir erst bewusst, dass die Angst vorher, ihn zu verlieren, nichts im Vergleich zu jetzt gewesen ist. Niemals war sie so präsent. Doch irgendwann wird auch die tägliche Angst zur Routine. Man lebt tatsächlich damit. Aber die Welt drehte sich weiter. Ich ging zur Arbeit, Jerry brachte den Jungen in den Kindergarten und die Nachmittage waren – wohl wie bei jedem anderen – mit allen möglichen Unternehmungen vollgestopft.

Er konnte und musste nun auch weiterhin im Asylheim übernachten, damit die Behörden nicht den Eindruck bekamen, er wolle untertauchen, und sie ihn somit sofort in Schubhaft stecken würden. Er bekam nun regelmäßig Ladungen bei der Fremdenpolizei. Ich ging so oft es möglich war mit ihm, um den Beamten zu zeigen: Er ist nicht alleine und hat die sogenannte soziale Verankerung, die elementar dafür ist, nicht in Schubhaft zu kommen. Ich lebte in dieser Zeit besonders – aber letztlich schon vorher – nicht in der gleichen Welt wie meine Freunde, Kollegen und Verwandten. Worüber sollte ich reden? Die ständige Angst, die mir immer öfter die Luft abschnürte? Die Wut, die ich verspürte auf den Staat, auf Jerry und auch auf mich? Den heimlichen Wunsch, in einer spießigen und ganz normalen Beziehung zu leben, in der das Schlimmste war, dass der Partner dich betrog?! Was für mich alltäglich war, war doch für die meisten außerhalb ihres Lebensbereiches. Alltäglich war für mich die Angst im Nacken, meinen Partner zu verlieren.

Gestern habe ich ihn zum letzten Mal gesehen.

Die kurzen Hoffnungsschimmer, die mich zuvor immer durchflutet hatten, ebbten ab. Das war es also. Der Flug sollte um 9.40 starten, und er tat es.

Kurz bevor er in Schubhaft kam, sah ich unsere Beziehung am Ende, aber bis zuletzt musste ich alles Mögliche tun, damit er doch noch hier bleiben konnte. Hauptsächlich brauchte ich dies wohl für mein Gewissen. Ich wollte mich nicht später fragen, was ich noch hätte tun können, obwohl diese Zweifel wohl immer kommen werden. Ich wollte auch Jeremy später reinen Gewissens sagen: «Ich habe wirklich alles versucht.»

Nun sind wir nur noch zu zweit, und Jerry ist einfach weg.

Sofia Reyes Pino