Erinnerung an Lienz, OsttirolDichter Innenteil

Wiener Ausfahrten

An einem lauen Sommerabend saß Groll beim Binder-Heurigen in Groß-Jedlersdorf und las Zeitung. Hochwasser hatte einige Täler Tirols und Vorarlbergs schwer in Mitleidenschaft gezogen. Ortschaften waren verwüstet, Tausende verloren ihr Hab und Gut. Groll war allein, der Dozent weilte in Osttirol bei einer Sportveranstaltung, die sich „Iron Man“ nennt. Nicht dass der Dozent sich selber den Strapazen aussetzte, er wollte die Teilnehmer aus der Nähe studieren, wollte ihre Motive und Leidenschaften kennen lernen, um einen Artikel für eine sportsoziologische Zeitschrift zu verfassen.

An den Dozenten und Lienz denkend, erinnerte Groll sich einer Geschichte, die er vor Jahren erlebt hatte.

Spätabends waren sie in den Katastrophentagen des Februar 1999, als Lawinen in Nordtirol Dutzende Todesopfer forderten, beim Laserz-Wirt zusammengetroffen: Sepp, der pensionierte Bezirksjägermeister, der getrockneten Wildschweinschinken dabei hatte; Alois, der ehemalige Häuslerbub aus dem Villgratental, der in den 50er Jahren von DDSG-Keilern zur Schifffahrt geholt wurde und es bis zum Maschinenmaat auf der „Röthelstein“ gebracht hatte; der groß gewachsene Wirt mit den schalkhaften Augenwinkeln – und Groll, der das abgelegene Hotel am Ende des Talbodens schätzte, weil es über ein rollstuhlgerechtes Hallenbad und einen gut sortierten Weinkeller verfügte. Nachdem bei einigen Vogelbeerschnäpsen die Lawinenlage erörtert wurde – der Tauerntunnel war noch immer gesperrt, in Galtür wurden die Leichen mit Pressluftbohrern aus der betonharten Lawine gebrochen -, ging es ans Erzählen.

Alois berichtete von seinen Abenteuern als Donauschiffer. Von Passau bis Sulina nahe des Schwarzen Meers wusste er über jede Stadt, jede Anlegestation unterhaltsame Schnurren zu erzählen. So auch jene von dem kleinen von Donauschwaben bewohnten Dorf unterhalb Budapests, das seit der Mitte des 19. Jahrhunderts die Kesselmeister für die DDSG-Dampfschiffe stellte und durch die Schifffahrt reich und angesehen wurde. Wenn die Linienschiffe zu den vorgegebenen Zeiten am Dorf vorbeikamen und das Stampfen der Schaufelräder von den Lössklippen widerhallte, war das ganze Dorf auf den Beinen, um den Vätern, Brüdern und Geliebten, die mit nacktem Oberkörper aus dem Maschinenraum gekrochen waren, zuzujubeln. Vor 1913 befuhren allein für die DDSG, die damals als die bei weitem größte Flussreederei der Welt galt, über hundert grenzüberschreitende Schiffszüge den Strom. Leider waren Kesselexplosionen in diesen Tagen keine Seltenheit, in manchen Saisonen mussten vier oder mehr Schiffe infolge hochgegangener Kessel als Totalverlust gebucht werden und meist kamen die Kesselmeister dabei zu Tode. Natürlich wusste man im Dorf um die Gefährlichkeit der Arbeit, daher fiel, wenn ein Schiff durchkam, der Jubel der Dorfbewohner dementsprechend groß aus.

Wie viele Matrosen hatte Alois, der auch heute noch ein gut aussehender Mann ist, in mehreren Donaustädten eine Geliebte. Einige Jahre lang genoss er die Abwechslung, bis er eines Tages eine Weißnäherin aus Wien kennen lernte, die ihn so beeindruckte, dass er sich ernsthafte Gedanken machte. Den Heiratsantrag nahm Henriette, so hieß die junge Frau, erfreut, aber nicht sehr überrascht entgegen. Die Antwort sollte Alois nach der Rückkehr von seiner nächsten Reise erhalten. Diese führte nach Reni in der Ukraine, erst nach acht Wochen erlöste ihn ihr Jawort. Der Termin für die Hochzeit wurde für den 11. Mai festgesetzt. Am vereinbarten Hochzeitstag war alles bereit – nur Alois fehlte, sein Schiff hatte nahe der ungarischen Stadt Érd Defekt. Erst nach Tagen gelang es ihm, mit Henriette Kontakt aufzunehmen. Am 6. Oktober sollte es aber endlich so weit sein. Wieder war Henriettes Familie versammelt, und wieder blieb Alois aus. Diesmal dauerte es nur zwei Tage, bis er sich meldete – im Hafen von Belgrad hatte ein Flussbagger Alois` Schiff gerammt, er musste die Reparaturarbeiten überwachen. Zurück in Wien, ging Henriette grußlos an ihm vorüber. Alois war wie von Sinnen. In seiner Verzweiflung verbrühte er sich die rechte Hand mit kochendem Wasser und musste ins Spital eingeliefert werden. Bald saß Henriette an seinem Bett, und nachdem die Tränen getrocknet waren, fand sich auch ein Hochzeitstermin, der dank Alois Verletzung auch wirklich eingehalten wurde.

Groll hob das Glas und gratulierte zur erfolgreichen Selbstverstümmelung. Alois aber wehrte ab, es sei nur ein Unfall gewesen, sagte er, aber das glaube ihm niemand, am allerwenigsten seine geliebte Henriette.

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