Flanieren in HavannaDichter Innenteil

Havanna.jpgJeden Morgen zwischen 7 Uhr und 7.30 Uhr höre ich einen Reisigbesen über den Asphalt kratzen. Es ist der Straßenkehrer, ein junger Mann, der jeden Abfall, jedes Stückchen Papier penibel auf seine große Schaufel aus Pappkarton kippt. Noch habe ich Zeit, im Bett zu bleiben, denn das Frühstück wird mir nicht vor 8.30 Uhr serviert. Ich wohne bei Estrella und Lourdes in einer ehemaligen Kolonialvilla in Havanna.

Die dunklen Möbel aus Mahagoniholz, die weitläufige Bibliothek erinnern noch an vorrevolutionäre Zeiten, als der Vater von Lourdes Professor für Physik an der Universität von Havanna war. Lourdes ist 46, geschieden, Mann und Tochter ausgewandert, er in die USA, sie nach Spanien. Ich zahle hier 25 CUC pro Nacht und 3 CUC fürs Frühstück (ca. 24 Euro). Jeder Kubaner versucht irgendwie an die begehrte Ausländerwährung, die konvertiblen Pesos oder Dollars zu gelangen, mit denen man einiges von dem kaufen kann, was das übliche monatliche Durchschnittseinkommen der Inselbewohner niemals zulässt.

Ja, das Frühstück! Es wird auf den Restbeständen des väterlichen Porzellans serviert. Ein Stück Butter (fingernagelgroß), 1 Tasse schwarzen Kaffees (Milch gibt es keine, evtl. in CUC-Läden), 2 geröstete Weißbrotscheiben, manchmal eine Banane oder ein Stückchen Melone. So versorgt mache ich mich heute auf den Weg. Noch riecht es im Haus nach Desinfektionsmittel, denn gestern kamen große Spritzwagen und uniformierte Männer, ausgerüstet mit langen Schläuchen, und versprühten Chemikalien gegen zu erwartende anstürmende Mosquitos. Es rauchte bald aus allen umliegenden Häusern, und die Bewohner waren über längere Zeit angehalten, die Räume nicht zu betreten. Eine angeblich äußerst wirkungsvolle Maßnahme.

Mein Weg führt mich täglich zunächst durch den Lennon-Park. Tatsächlich sitzt hier eine lebensgroße bronzene John-Lennon-Figur auf einer der gusseisernen Bänke. Und nicht unweit davon der Parkwächter, der ausschließlich dazu angehalten ist, die Lennon-Brille aus seiner Tasche zu holen und sie dem Idol aufzusetzen und wieder abzunehmen, wenn natürlich ein Tourist das Foto geschossen hat. Denn dieses bewegliche Utensil soll angeblich schon mehrmals entwendet worden sein. Vorbei am Teatro Amadeo Roldan, einem der wegen seiner hervorragenden Akustik bedeutendsten Konzertsäle Havannas. Da lese ich die überraschende Ankündigung des nächsten Events: Gidon Kremer wird hier mit seiner Camerata Baltica gastieren. Noch befinde ich mich in einem der schönsten Wohnviertel Havannas, in Vedado, ehemals Barrio der Reichen.

In Leos winzigem Laden wird Luft verkauft

Noch immer gibt es die hübschen kleinen Gärten vor den Villen, aber heute werden dort Hühner, Gänse und Enten gehalten, und ältere Frauen bieten auf wackeligen Tischchen Selbstgebackenes, Obstsäfte oder schwarzen Kaffee in zerbeulten Thermosflaschen an. Manche von ihnen bitten mich hinein, und wir nehmen uns Zeit für ein Gespräch. Im Friseurladen an der Ecke melde ich mich für den nächsten Tag an. Ich kenne schon das Interieur mit seinen vielfach geflickten Stühlen, aus denen da und dort Rosshaar quillt. Der freundliche Afrokubaner wird um fast nichts meine Haare waschen und schneiden und mir ein Stück Pizza gratis anbieten. Schon stehe ich vor dem Hotel Havanna Libre, einem der besten in diesem Viertel, suche die Internationale Apotheke, um dort gute Oropax-Stöpsel um heiße 7 CUC zu erstehen (ein Viertel eines durchschnittlichen kubanischen Monatsgehalts!), wenn die mitreißenden Salsa-Rhythmen in meiner Nachbarschaft wieder einmal bis tief in die Nachtstunden hinein zu hören sind.

Am Eingang zur Calle Neptuno mache ich kurz Halt. Hier beginnt das an Vedado angrenzende Viertel: Havanna Centro. Vielfach wurde ich schon gewarnt, alleine durchzugehen, durch das Viertel der Armen, durch die Tristesse der heruntergekommenen, baufälligen Häuser, durch die engen Straßen mit Schlaglöchern, aufgerissenen Gehsteigen, arbeitslosen Jugendbanden. Ich bin also gewappnet und bin doch wieder fasziniert von der Freundlichkeit, mit der man mir begegnet, wenn ich freundlich bin und meine spärlichen Spanischkenntnisse mir dabei hilfreich sind. Ich bin beeindruckt von der Zähigkeit der Menschen, die sich im alltäglichen Überlebenskampf durchschlagen müssen. Carlos zum Beispiel füllt auf seinem wackeligen Stühlchen leer gewordene Billigstfeuerzeuge wieder mit Gas. Oder Leo er hat einen winzigen Laden, in dem er aire, also Luft verkauft, er ist Besitzer einer funktionierenden Fahrradpumpe. Und Gustavo repariert alle Arten von Gasherden. An einer abbröckelnden Hauswand sind, mit Spagatschnüren befestigt, Bücher von privater Hand zum Verkauf angeboten. Alle in ziemlich schlechtem Zustand, zerlesen, abgegriffen. Darunter Che Guevaras Bolivianisches Tagebuch. Die Alte will dafür 10 CUC (fast einen halben kubanischen Monatslohn). Ich verzichte darauf. Viele Hausfassaden werden gestützt von Rohren, Balken, die selbst zusammenzubrechen drohen. Die Luft ist stickig. Von der Straße hat man direkten Einblick in das Innere der engen, armseligen Wohnungen. Aber da ist kein Moment, in dem ich mich bedroht fühle, keine Anbiederung, keine Aggression. Dennoch atme ich auf, als ich dieses Viertel verlasse und vor mir das Capitolio, die überdimensionierte Kopie des römischen Kuppelbaues, sehe. Somit bin ich in Havanna Vieja, in Althavanna gelandet, Weltkulturerbe der UNESCO, begehrtes Ziel des Massentourismus.

Dirty Havana Trilogy

Althavanna ist tatsächlich ein Stadtteil mit hervorragend restauriertern historischen Gebäuden aus der Kolonialzeit. Da stehen Paläste aus dem 17.,18.und beginnenden 19.Jahrhundert mit prachtvollen Innenhöfen, in denen orchideengeschmückte Brunnen plätschern, in hohen Käfigen bunte Vögel und Papageien gehalten werden, Tische mit kunstvoll gefältelten Stoffservietten und kostbaren Gläsern auf betuchte Touristen warten. Mein Weg führt mich über den Platz mit der Kathedrale. Sie ist in Stein gegossene barocke Musik, heißt es in den Reiseführern. Wieder treffe ich hier auf den gepflegt gekleideten alten Herren ein Grandseigneur alter Schule , einen Sombrero auf dem Kopf, Krawatte, Blume im Knopfloch, ein elfenbeinbesetztes Spazierstöckchen schwingend, wie er vor applaudierendem Publikum aus aller Welt seine gezielt gesetzten Tanzschritte vorführt: ein 90-jähriger Tänzer. Im Schatten des teuersten Hotels am Platz thront auf einem hohen Stuhl die Wahrsagerin und legt eben einer Touristin in Shorts und T-Shirt die Karten auf. Das alles kenne ich schon.

Schnell übequere ich die Plaza und flüchte zu meiner kleinen Oase, einem stillen Park in der Calle Empedrado. Nur wenige Menschen sind da, meist Alte. Ich setze mich an den Fuß des weißen marmornen Denkmals, von dem der spanische Nationaldichter Miguel Cervantes auf mich herunterblickt, seine Beine kokett übereinander geschlagen, gekleidet in altspanischer Tracht mit gefälteter Halskrause. Hinter ihm ein Baum, übersät mit feuerroten und orangenen Blüten. Zu müde für den Rückweg zu Fuß, hoffe ich, dass ein Sammeltaxi mich mitnimmt. Solche sind eigentlich nur Kubanern vorbehalten. Lazara, eine Reisebegleiterin für deutschsprachige Gruppen, schlug mir vor, mich im Notfall als Russin auszugeben soy rusa dann hätte ich mit diesem Transportmittel kein Problem.

Ja, immer wieder erfahre ich einiges von den Überlebensstrategien der Kubaner. Mein Freund Leo, 87-jähriger Theologe, kann mit seiner Frau nur deshalb die zweite Monatshälfte sorgenfrei leben, weil seine nach Spanien ausgewanderte Tochter kräftig finanziell aushilft. Mein Freund Damian, ein liebenswerter homosexueller Kunsthistoriker, hat gute Kontakte zu einer Fleischfabrik. Von dort bezieht er wöchentlich illegal 2 Kilo Rindfleisch, das er dann per Rad an private Kunden ausliefert. Ein gefährliches Unternehmen. Im schlimmsten Fall droht Gefängnis. Meine Freundin Valia, Professorin für Mathematik, bittet mich verschämt um 3 Liter Benzin, damit wir gemeinsam zur Kanonade auf die Festung La Moro fahren können.

Ein Sammeltaxi hat bestimmte festgelegte Routen, man kann aber innerhalb dieser je nach Bedarf aussteigen. Es ist deshalb nur mehr eine kurze Strecke zu meinem Quartier, zu Lourdes und Estrella. Hier wartet auf offener Veranda ein Schaukelstuhl auf mich, um den Tag in Stille ausklingen zu lassen. Die Schönheit der üppig wuchernden karibischen Vegetation im Vorgärtchen verführt mich immer wieder dazu, von meiner Lektüre aufzusehen. Es ist die Dirty Havana Trilogy von Pedro Juan Gutierrez, ein Roman, der in Kuba vor allem wegen seines pornographischen Inhalts verboten ist, der aber im vornehmsten Hotel der Stadt, im Hotel Nacional, von den Zimmermädchen unter der Hand zu erhöhten Preisen an interessierte Gäste verkauft wird.

Für den nächsten Tag nehme ich mir vor, durch andere Viertel zu vagabundieren. Meine Neugierde ist groß.