Herr Groll auf Reisen. 273. FolgeDichter Innenteil

Die Zieselbrücke und das «Krüppellied»

Herr Groll und der Dozent standen hinter dem Heeresspital an der Brünnerstraße am Marchfeldkanal. Sie bewunderten eine schmale Brücke, elegant wölbte sie sich über den künstlichen Fluss. Mit einer weit ausholenden Geste, die einem Südstaaten-Plantagenbesitzer des achtzehnten Jahrhunderts alle Ehre gemacht hätte, sprach Herr Groll:

Auch an der Drina wird gebaut

Foto: Mario Lang

«Verehrter Freund! Sie stehen hier vor einem Meisterwerk der Brückenkunst, der Brücke über den Douro bei Porto oder jener über den schottischen Firth of Forth nicht unähnlich und der neuen Brücke von Santiago Calatrava in Venedig zum Verwechseln ähnlich, so ähnlich, daß in Expertenkreisen davon gemunkelt wird, man habe die Pläne einfach abgekupfert. Darf ich Ihnen den Stolz Floridsdorfs vorstellen! Die Zieselbrücke, auf Englisch: European Ground Squirrel-Bridge. Ein Bauwerk, das wie keines sonst die Verbindung von Ökologie und Immobilienentwicklung verkörpert. Das in Mitteleuropa selten gewordene Ziesel, ein possierliches Nagetier, das in Erdhöhlen haust und einen ausgeprägten sozialen Sinn hat, pflegt seit ewigen Zeiten hinter dem Munitionsdepot der Kaserne zu siedeln. Da dieses Terrain aber mit mehreren Wohnhäusern bebaut werden soll, stellte sich die Frage, wohin mit den angestammten Bewohnern?»

«Vergiften? Abschießen?» Der Dozent verzog den Mund zu einem Lächeln. «Sie verzeihen den schlechten Scherz.»

«Ich hab´ ihn schon vergessen», sagte Herr Groll gönnerhaft und setzte fort. «Nach langem Hin und Her, dutzenden Pressekonferenzen und hunderten Lokalaugenscheinen fand man eine zukunftsweisende bautechnische Lösung. Die Ziesel, deren Status als Wirtschafts- und Ökologieflüchtlinge außer Zweifel stand, bekamen für ihre Auswanderung in ein Wäldchen am anderen Ufer des Marchfeldkanals ein eigenes Übersetzbauwerk – so der Fachausdruck.»

«Da wird die Freude unter den kleinen Nagern aber groß gewesen sein», sagte der Dozent und hielt Umschau. «Dort vorn hat einer aus dem Bau herausgeschaut, und dort auch.» Und schon sah er Dutzende Ziesel, die, wie es schien, ihm die Aufwartung machten. «Es hat nicht den Anschein, als hätten die Ziesel die Brücke angenommen», bemerkte Grolls Freund.

«So ist es. Sie bleiben. Und sie bekommen Zuzug von Mäusen und Maulwürfen.» Groll fuhr ein paar Meter weiter, der Dozent folgte ihm leichten Fußes. «Die einen machen Streitereien unter den verschiedenenen Fraktionen der Ziesel für die fortgesetzte Sesshaftigkeit verantwortlich, die anderen führen berechtigte Ängste der Tiere vor dem scharfen Wind auf der Brücke ins Treffen. Er könnte den einen oder anderen Ziesel in den Kanal werfen, worauf die armen Nager zur Beute der fleischfressenden Biber würden.»

«Ich dachte, Biber seien Pflanzenfresser!» Der Dozent hockte sich auf die Fersen und beobachtete einen Foxterrier, der einen Schwan jagte.

«Üblicherweise schon», sagte Groll. «Aber die Floridsdorfer Biber haben sich angesichts der politisch angespannten Situation radikalisiert und sind zu fleischlicher Kost übergegangen. Wenn der Foxl nicht aufpasst, wird es um ihn geschehen sein. Neulich wurde ein Neufundländer von zwei Jungbibern auf das Entsetzlichste zerfleischt. Die Hundebesitzerin erlitt einen Nervenschock. Sie ist noch nicht ansprechbar.»

«Irgendetwas Böses geht in der Stadt um. Die Kreaturen verlieren ihren Halt. Sie haben sicher davon gehört, dass ein Mitarbeiter des Sozialministers und nunmehrigen Präsidentschaftskandidaten Hundstorfer dem freiheitlichen Behindertensprecher im Parlament, Hofer, über die sogenannten Sozialen Medien den Text des ‹Krüppelliedes› zuschickte. Der Mann heißt Pöchhacker. Er gilt als Spezialist für Meinungsumfragen.»

«Der Autor des ‹Krüppellieds›, Peter Hammerschlag wurde in Auschwitz umgebracht», erwiderte der Dozent. «Helmut Qualtinger hat das Lied gesungen. Ich fand es widerlich.»

«Ist es auch», bekräftigte Groll. «Weil es sprachlich schlecht ist, geht die Ironie nach hinten los. Im Text heißt es: ‹Ich sprach zu einem Mägdelein: ‚Du hast nur einen Haxen! Mach Dir nichts draus, sei trotzdem mein! Er wird Dir eh nicht wachsen.‘ Da bracht‘ sich mir das Mägdlein dar, im weißen Bettgehege. Der abgeschnitt’ne Haxen war durchaus mir nicht im Wege.›»

«Wie lustig.»

«Ich sagte es ja. Sprachlich stümperhaft. Norbert Hofer ist durch einen Sportunfall behindert. Dass er bei der FPÖ ist, steht auf einem anderen Blatt, wobei angemerkt werden muss, daß Hofer sich in Behindertenfragen anständig benimmt. Was muss er sich denken, wenn ihm ein politischer Gegner das ‹Krüppellied› zuschickt?»

Der Dozent zuckte die Achseln. Der Schwan hatte mittlerweile die Geduld mit dem Foxl verloren. Mit ausgestellten Flügeln und einem bedrohlichen Krächzen jagte er den Hund im flachen Wasser vor sich her.