Kalt erwischt. Eine Berlinerin in WienDichter Innenteil

Als ich an einem knackig kalten Februartag in meiner Wunschstadt Wien nach durchfahrener Nacht am Westbahnhof todmüde ankam, durchströmte mich dennoch ein Glücksgefühl, obwohl mich mein voll gepackter Trolley mit jedem Schritt fast zu Boden riss in meinen vor Kälte abgestorbenen Fingern auf der Suche nach einem Zimmer.Alles halb so schlimm, dachte ich, meine Hände reibend, bis ich sie wieder zum Leben erweckt hatte. Hier wird alles anders. Habe ich erst einmal eine Unterkunft, gehe ich auf Jobsuche, und dann wird alles besser!

Nur nicht mehr einsam und arbeitslos in meiner kleinen Wohnung in Berlin sitzen müssen, um langsam, aber sicher zu verblöden!

Nach stundenlanger Suche fand ich schließlich ein kleines möbliertes und vor allem auch bezahlbares Zimmer. Die erste Hürde wäre genommen, dachte ich mir. Sie kommen aus dem reichen Deutschland, um hier zu arbeiten? – die erstaunte Frage meines freundlichen Vermieters. Das reiche Deutschland ist längst nicht mehr das Paradies bei fünf Millionen Arbeitslosen, die am Rande des Existenzminimums ihr Leben fristen müssen. Ich möchte endlich wieder arbeiten als Deutschlehrerin, denn ich habe viel über Österreich und speziell über Wien in Vorbereitung auf meine Reise gelesen. Jedes fünfte Kind, das eingeschult wird in Wien, hat ungenügende oder gar keine Deutschkenntnisse.

Lächelnd musterte mich der freundliche hagere Herr im mittleren Alter wie ich. Ganz schön mutig von Ihnen, diesen Schritt zu wagen!

Es ist der Mut der Verzweiflung. I can and I will! – Na, dann – good luck.

… dass man nicht schwimmte, sondern schwamm

In den ersten Tagen in der fremden schönen Stadt, wieder im Vollbesitz meiner Kräfte, checkte ich nun stundenlang einschlägige Stellenangebote des AMS, schrieb unentwegt Bewerbungen, telefonierte mir die Finger wund, stapfte bei minus 10 Grad Celsius zu Vorstellungsgesprächen und Schnupperstunden. Nach der fünften Ablehnung war ich am Boden zerstört und war drauf und dran, meinen Koffer wieder zu packen. Das Glück ist mit dem Tüchtigen, jetzt bloß nicht aufgeben, redete ich mir immer wieder ein. Und dann ging plötzlich alles ganz schnell.

Ich bekam nach wenigen Wochen der Suche endlich meinen heißersehnten ersten Dienstvertrag als Nachhilfelehrerin bei einer renommierten Schülerhilfe der Hauptstadt mit Herz. Halleluja!

Nach anfänglichen Vertretungskursen bekam ich nach und nach weitere fixe Kurse in Deutsch, und ich arbeitete endlich wieder. Das tat so gut, gebraucht zu werden. Das ist ja das Beste, was unseren Schülern passieren kann – eine jahrelange erfahrene Deutschlehrerin aus Deutschland!

Dankbar lächelte ich diese sympathische junge Lehrerin an. Sie war mir gleich so sympathisch gewesen auf den ersten Blick. Na, ich hoffe es, erwiderte ich schmunzelnd. Für einen Augenblick vergaß ich meine täglichen Existenzsorgen. Ich lehrte die Kinder aus ägyptischen, pakistanischen und auch chinesischen Familien, die schon im österreichischen Dialekt sprachen, dass es nicht das Keks, sonder der Keks und nicht das Dativ, sondern der Dativ heißt.

Und dass man nicht schwimmte, sondern schwamm, weil stark konjugierte Verben den Stammvokal wechseln. Die Schüler wiederum bewiesen mir, dass plötzlich im Lehrbuch das Komma durch den Begriff Beistrich ersetzt wurde oder aber Präteritum nicht mehr Präteritum war, sondern Mitvergangenheit. Sie erläuterte mir, was man unter Schlagobers und heuer verstand und dass Paradeiser nicht mehr in die Tüte gehören, sondern ins Sackl! Das führte oft zu komischen Situationen, wobei einer dem anderen am Leiberl riss vor Lachen.

Lehrer und Schüler profitierten so voneinander! Nicht selten staunte ich über die Phantasie manches Schülers, die es beim Schreiben einer Bildgeschichte oder Lügengeschichte entwickelte. Da wuchs plötzlich aus einer Bohne, unter Wasser gepflanzt, ein mächtiger Stamm bis zum Mond hinauf, auf dem sich Zyper und Venediger bekämpften.

Ein besonders pfiffiger Schreiber erläuterte die Vorzüge aus Ab-King pro, indem er die provokative Frage erörterte: Lacht man Sie auch aus, wenn Sie in der Schwimmhalle ihren Top ausziehen?

Dann zögern Sie nicht mehr lange. Schluss mit Schwabbelbauch und Schwimmreifen! Der Ab-King pro macht Sie zum King. Drei Minuten täglich, und man wird sich vor Ihnen niederknien, nur um zu wissen, woher Sie Ihre Muskeln bekommen! Und ich dachte, aus diesem Schüler wird vielleicht mal ein tüchtiger Verkäufer. Aber am Ausdruck muss er noch arbeiten, vor allem an der Grammatik.

Im Moment kann ich mir nicht mal Zahnschmerzen leisten

Mein Gehalt steigerte sich von Monat zu Monat. Zwar reichte es noch immer nicht, um davon auch meine monatliche Miete bezahlen zu können, aber ein mitleidiger, sich mit meiner Situation solidarisierender junger Bankbeamter der Erste Bank räumte mir einen kleinen Dispokredit ein angesichts meiner ersten erfreulichen Gehaltszettel. Deutsch wird immer gesucht, und Schüler werden auch in Zukunft damit Schwierigkeiten haben! Und überhaupt finde ich es bewundernswert, dass Sie selbst ihr Geld verdienen wollen und dafür sogar ins Ausland gegangen sind. Wie viele Arbeitslose, auch hier in Österreich, lassen sich vom Staat ernähren und rühren keinen Finger!

Was für ein bemerkenswerter junger Mann! Hoffentlich bewahrt er sich seine Menschenkenntnis.

Dazu kam mir mein freundlicher Vermieter noch kulanter Weise mit der Kaution für mein Zimmer entgegen, so dass ich wieder aufatmen konnte. Kein Mietrückstand mehr. Wieder eine Hürde überwunden. Es geht in kleinen Schritten aufwärts bis, ja bis sich mit Riesenschritten das Schuljahr seinem Ende näherte. Und es mich kalt erwischen sollte.

Auslöser ein kleiner scheinbar belangloser Zettel, der im Büro der Schülerhilfe darauf hinwies, dass alle Lehrenden mit Auslaufen des Schuljahres per 30. Juni von der Versicherung abgemeldet werden. Ich las es, nahm es zur Kenntnis, aber die ganze Tragweite dieser Mitteilung erschloss sich mir erst in den nächsten Tagen mit ihrer brutalen Konsequenz.

Über mir schwebte ein Damoklesschwert, das sich von nun an Tag für Tag tiefer senkte.

Am letzten Nachhilfeunterrichtstag der freundliche Rat der Bürodirektorin: Schauen Sie sich anderweitig um. Für die Sommerkurse sind noch keine Kinder gemeldet und wann und ob überhaupt wird es erst im September weitergehen! Und ich dachte noch in meinem naiven Optimismus, na, irgendwie wird das Sommerloch doch zu überbrücken sein. Ich könnte auch zum Beispiel Privatunterricht geben. ! Wo sind Sie versichert? die freundlich durchs Telefon tönende Stimme der Sprechstundenschwester auf meinen Versuch, einen Termin beim praktischen Arzt zu vereinbaren. Versichert? Oh Gott, ja, natürlich, aber ich bin vorübergehend abgemeldet. Dann müssen Sie privat mit ca. 400 bis 500 Euro für Ihre Behandlung rechnen! Wie bitte? Dann streichen Sie bitte den Termin. Resigniert begriff ich endlich. Ich kann mir im Moment nicht mal Zahnschmerzen leisten.

Als schmarotzender Ausländer blieb mir nur die Häme

Ich betrachtete meine Zähne im Spiegel und betastete sie vorsichtig. Ihr habt euch jetzt zu benehmen, und macht mir bloß keine Scherereien in den nächsten 2-3 Monaten. Erst wenn ich wieder versichert bin, könnt ihr wieder muckern!

Von da an überlegte ich mir beim morgendlichen Müsliessen, ob ich auf die Nuss beißen sollte oder sie lieber ausspucken. Ich entschied mich für die sicherste Variante! Das kann ja heiter werden, kreisten meine Gedanken im Stillen. Was ist, wenn mich plötzlich ein wild gewordener Boxerhund auf der Straße anfällt? Von nun an machte ich vorsichtshalber einen großen Bogen um jegliche kleine und größere Vierbeiner auf der Straße. Bloß jetzt kein Risiko eingehen. Und wieder hörte ich das imaginäre Schwert des Damokles, wie es sich knarrend und unaufhaltsam Stück für Stück heruntersenkte.

Und es sollte noch schlimmer kommen. Mir blieb nichts anderes übrig, als wieder meinen Canossagang zum AMS anzutreten, von dem ich schon geglaubt hatte, es nie mehr wieder zu sehen. Mit süffisantem Lächeln, aber bestimmt fertigte mich die unfreundliche AMS-Beraterin ab. Arbeitslosenhilfe steht Ihnen als Ausländerin nicht zu, da Sie nur einen Dienstvertrag hatten.

Aber ich hatte doch jede Menge Abzüge, wagte ich zu entgegnen. Aber nur für sich, keine Arbeitslosenversicherung!, zischte sie mich böse an, indem sich ihr Mund verzog, so angewidert wie sie war. Wieder eine Fußangel, die ich nicht sehen konnte. Sie können nur noch zum Sozialamt und dort ihr Glück versuchen – he, he, he, lachte sie schadenfroh.

Und wo ist dieses Amt für meinen Bezirk? Breites Grinsen übers ganze Schadenfreude ausdrückende Gesicht. Dort, wo Sie sich damals angemeldet haben, als Sie hierher gekommen sind! Wobei sie dieses hierher betont scharf in meine Richtung schleuderte.

Als schmarotzender Ausländer blieb mir obendrein noch die Häme.

Ich fühlte, wie mir das Blut vor Wut in den Kopf schoss, und würden Blicke töten, gäbe es eine Rassistin in Austria weniger. Doch nicht mit mir, hämmerte es hinter meiner Stirn. Nicht provozieren lassen! Abrupt drehte ich ihr den Rücken zu und bemühte mich sogar, die Tür hinter mir betont leise zu schließen.

Am Boden zerstört trottete ich meiner Penthousbehausung zu. Na, fein, hatte ich das nötig? War ich doch aus freien Stücken in die Alpenrepublik gekommen, in das wunderschöne Wien, in dem ich schon immer wohnen wollte, um kleine Ausländerkinder der viel gepriesenen multinationalen Gesellschaft Deutsch zu lehren. Musste ich mich obendrein noch verhöhnen lassen?

Was geht vor in diesem ruhigen, gemütlichen Wien?

Während ich missmutig in der U-Bahn noch dieses Gespräch Revue passieren ließ, holte mich ein überlauter Disput in die Gegenwart zurück.

Können Sie nicht deutsch sprechen?, attackierte eine mollige mit Schmuck über und über behängte ältere Dame eine ihr gegenübersitzende Muslimin mit Kopftuch aus böse blitzenden Augen, da sie es gewagt hatte, sich in ihrer Sprache mit ihrer mitfahrenden Verwandten zu unterhalten. Ich möchte in Ruhe hier fahren. Wenn Sie schon hier sind, müssen Sie sich auch anpassen! Stimmts?

Zustimmung erheischend blickte sie sich triumphierend im Wagen um. Aber keiner pflichtete ihr bei. Und ich dachte, zum Glück ist es noch nicht so weit.

Stattdessen schauten die betroffen blickenden Fahrgäste plötzlich ganz interessiert aus dem Fenster oder auf ihre Schuhe, die zum Mittelpunkt der Betrachter geworden waren.

Meine Kinnlade war unwillkürlich heruntergeklappt. Was ging hier vor?

Während die angepöbelten Frauen verschämt die Blicke senkten und abrupt aufhörten, sich weiter zu unterhalten, konnte die jüngere der beiden Frauen, sich krampfhaft am Griff ihres mitgeführten Kinderwagens festhaltend, gerade noch dem Ellenbogen der inzwischen aufgestandenen Megäre ausweichen, als diese zeternd und außer sich vor Zorn, wahrscheinlich, da keiner der Insassen ihr beigepflichtet hatte, der Wagontür zuwackelte. Nur wenige Augenblicke hatte dieses Schauspiel gedauert, aber im Nu breitete sich eine merkwürdige Totenstille aus, die jegliche Gespräche verstummen ließ, nachdem der Geruch des Chauvinismus aus der offenen U-Bahntür entwichen war.

Ist das möglich in diesem ruhigen, gemütlichen Wien? Sind wir schon wieder so weit? Wie geprügelte Hunde den Tränen nahe, verließen schließlich auch die beiden muslimischen Frauen wortlos das Abteil, bewusst den Blicken der anderen Fahrgäste ausweichend beim nächsten Halt.

Wieso war ich eigentlich nicht eingeschritten?, fragte ich mich. Aber bin ich nicht selbst eine Ausländerin, eine Deutsche und Saupreußin, wie man mich hier auch schon bezeichnet hatte.

Hauptwohnsitz, Nebenwohnsitz Folgen eines gedankenlosen Kreuzchens

Meine rosarote Brille rutschte mir vom Gesicht, mit der ich bisher die viel gerühmte Weltstadt mit Herz betrachtet hatte, und zerbarst in hundert Scherben.

Doch der Höhepunkt meines Dilemmas sollte mir noch bevorstehen. Inzwischen schon Wochen ohne Gehalt, setzte ich nun meine ganze Hoffnung auf das Sozialamt, um wenigstens eine Grundsicherung für meinen Lebensunterhalt bis zum nächsten Schuljahr zu erhalten.

Tja, die Sache ist die, wand sich der wenigstens diesmal freundlich mich behandelnde Berater, als Ausländerin haben Sie Ihren Hauptwohnsitz in Deutschland, also sind Sie hier nicht gemeldet, d.h. nur mit Nebenwohnung in Wien. D.h. im Klartext: Keine Berechtigung zur Sozialhilfe! Hier steht’s auf dem Meldezettel!

Zur Salzsäule erstarrt schwamm das Kreuzchen auf dem Meldezettel vor meinen Augen, das der Beamte damals bei der Anmeldung gedankenlos bei Wien als Nebenwohnung gemacht hatte. Ja, und was soll ich jetzt machen? Wovon soll ich in den nächsten Wochen leben?

Da bleibt Ihnen nur eins übrig, nach Berlin zurückzufahren, um dort Sozialhilfe zu beantragen!

Wütend knallte ich meine Brille auf den Tisch. Das kann doch wohl nicht wahr sein. Bin ich hier im falschen Film? Ich kniff mich heimlich unter dem Tisch in mein Bein, dass es schmerzte. Nur die Ruhe bewahren.

Unter Aufbringung meiner restlichen Geduld, mir die Schweißtropfen von der Stirn wischend, konnte ich mir aber doch nicht verkneifen zu entgegnen: Na, fein auch, geben Sie mir wenigstens das Fahrgeld? Denn meine Reserven sind völlig erschöpft. Im Übrigen bin ich definitiv in Deutschland abgemeldet, weil ich hier schon Monate gearbeitet habe.

Da bleibt Ihnen nur noch eine Einmalspende vom roten Kreuz oder von der Caritas. Aber ich kann Ihnen ein paar Einkaufsgutscheine geben, damit sie wenigstens übers kommende Wochenende kommen.

Jetzt war’s soweit. Mit lautem Knall sauste das Todesschwert auf mich herunter. Mit letzter Kraft schleppte ich mich auf die Straße. Und was wird, wenn diese mildtätigen Almosen aufgegessen sind?

Ja, dann EU-Bürger, nicht berechtigter Ausländer in der Hauptstadt als Nebenwohnsitz, wo aber doch mein Lebensmittelpunkt war bis jetzt, dann hast du nur noch eine Möglichkeit – dich in die schöne blaue Donau zu stürzen, die der geniale Schani schon besungen hat vor meiner Zeit.

Der Formfehler ist mein Schicksal

Das ist nicht mehr lustig. Konnte es sein, dass mir vor wenigen Wochen noch mein Leben so hoffnungsvoll in der Musikstadt erschienen war? Lichtjahre entfernt!

Die lakonisch nachwirkenden Worte des jungen Beamten noch im Ohr steuerte ich dem Ausgang zu: Das hätte Ihnen doch bewusst sein müssen, dass Sie nicht abgesichert sind mit einem Dienstvertrag. Natürlich ist das arg, von einem auf den anderen Tag gekündigt worden zu sein, und selbst, wenn Ihre Hauptwohnung hier ist in Zukunft, haben Sie noch drei Monate Wartezeit, um eine Unterstützung zu bekommen.

Da bin ich ja beispiellos ausgetrickst worden. Welche Möglichkeit habe ich nun noch? Entweder mit rotem Lacktäschchen auf die Straße stellen oder die Donau! Eine Möglichkeit hat der Mensch immer, so dick es auch kommt!

Das Zeitungshoroskop für diesen rabenschwarzen Tag, an dem ein Formfehler über mein Leben hier entschied:

Wenn Sie jetzt nicht dorthin gelangen können, wo Sie hinwollen, ist das noch kein Grund, aufzugeben.

Sie haben weder einen Fehler gemacht, noch sind Sie am falschen Platz. Manchmal geht einfach nix. Üben Sie asiatische Gelassenheit. Ihre Zeit wird kommen.

Das basst – wie der Wiener es ausspricht – wie die Faust aufs Auge. Wann aber? Das ist hier die Frage, die schnellstens geklärt werden muss!

Reiner Galgenhumor! Aber vielleicht drucken Sie meinen Tatsachenbericht, damit ich wenigstens von dem Honorar Lebensmittel kaufen kann, denn das nächste Schuljahr ist noch weit.

Das würde einer mittellosen deutschen Lehrerin hier im schönen Wien, das immer noch schön ist, sehr helfen. Denn ich denke, Ausnahmen bestätigen die Regel. Und das Geschilderte war sicherlich die berühmte Ausnahme! Oder?

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