Karl Kraus und der Sozialismus II: Zu Unbotmäßigkeit und Adel verpflichtetDichter Innenteil

Anstiftungen zum Wiederentdecken von Karl Kraus, Teil 20

Sie sagen: Wer nicht arbeitt, der soll auch nicht essen und wissen gar nicht, wen Sie allen mit diesem Ausspruch zum Hungertod verurteilen.

Johann Nepomuk Nestroy

Die Demokratie teilt die Menschen in Arbeiter und Faulenzer. Für solche, die keine Zeit zur Arbeit haben, ist sie nicht eingerichtet.

Karl Kraus

Mitgefühl und Liebe zu Leidenden ist bequemer als die Liebe zum Denken. Daher machen sie sich mit bewundernswertem, obschon falsch gerichteten Eifer sehr ernsthaft und gefühlvoll an die Arbeit, die Übel, die sie sehen, zu kurieren. Aber ihre Mittel heilen diese Krankheit nicht; sie verlängern sie nur. Ihre Heilmittel sind geradezu ein Stück der Krankheit.

Oscar Wilde

1924 schickte sich der sozialdemokratische Parteipublizist Oskar Pollak mit dem Artikel Ein Künstler und Kämpfer an, der großen linken Anhängerschaft von Karl Kraus die Augen für dessen wahren ideologischen Standort zu öffnen. Sein Hauptvorwurf zielte auf Kraus vermeintlich konservative Kapitalismuskritik. Er verwerfe den Liberalismus als den Zerstörer einer vergangenen, aus der beschaulichen Primitivität der feudalen Ausbeutung erwachsenden Einzelkultur, anstatt ihn als die Halbheit künftiger allgemeiner Höhe ungenügend zu finden. Pollak billigt Kraus moralische Gesellschaftskritik bloß als probate Durchgangsphase zu einem theoretisch fundierten sozialistischen Bewusstsein, denn die Schlacht, die jetzt kommt, wird nicht mehr um die Vorstellungen der bürgerlichen Geistigkeit, sondern um die Hauptstellungen der kapitalistischen Wirtschaftsmacht geschlagen. Dieser Kampf gegen das Kapital findet Karl Kraus nicht mehr an der Front. Die folgenden zehn Jahre sollte Kraus dieser Sozialdemokratie auf Schritt und Tritt nachweisen, dass sie es sei, welche die Front habe zusammenbrechen lassen, und dass die Schlacht um die Vorstellungen der bürgerlichen Geistigkeit nicht abgeblasen wurde, um besser gegens Kapital zu kämpfen, sondern um die Operettenränge eben dieser Geistigkeit zu usurpieren.

Aus marxistischer Perspektive mag vieles an Kraus Kritik tatsächlich wie eine bürgerliche Vorstufe der sozialistischen Gesellschaftskritik wirken, doch und hier die These des Artikels gibt Kraus so viel her und passt so schlecht in nur irgendeine Konservatismus-Schablone, dass er ebenso zu einer Weiterentwicklung jener Kritik taugt, und diese ehrenvolle Rolle gilt es herauszustreichen.

Es mag stimmen, dass er der great civilizing influence of capitalism (Marx) mit Skepsis begegnet, doch nicht um sich zivilisierenden Einflüssen allgemein zu versagen. Denn keinesfalls ist Kraus ein Apologet einer vorkapitalistischen Gesellschaft, seine Ansichten über Architektur, Technik und soziale Ungleichheit weisen ihn als pessimistischen Modernisten aus; er flieht nicht vor der Stadt aufs Land, sondern vor den Wienern, und dankt es der Erfindung des Automobils; er verherrlicht nicht die Vergangenheit, sondern fahndet in ihr nach den Momenten, als sie noch eine Zukunft hatte. Sein Faible für Aristokratie gilt auch vor dem Weltkrieg weniger einer Klasse und ihren Angehörigen als dem normativen Habitus von Ritterlichkeit, Stil und stolzer Unbeugsamkeit, einem ideellen Adel, den er zeitlebens in allen Klassen, bei Proletariern wie bei Revolutionären suchen, finden und ehren wird.

Selbst sein Antiparlamentarismus der Vorkriegszeit lässt sich weniger mit nietzscheanischem Elitarismus oder der Loyalität zum K.u.k.-Absolutismus erklären als mit seiner Verachtung gegen die liberalen Repräsentanten des Reichsrats. Zur Erreichung sozialer Ziele sympathisiert er wiederholt mit außerparlamentarischem Aktionismus, mit Streik und syndikalistischen Tendenzen, sein Anarchismus ist also weit entfernt von jenem bürgerlich-romantischen, der die spätmittelalterliche Handwerkerkommune zum gesellschaftlichen Maß nimmt. Allerdings hört sichs mit seinem Anarchismus bei der Kritik des Staates auf, dessen Rolle als Bändiger der Kartelle, Trusts und Monopole ihm unerlässlich scheint: Und so bekenne ich, dass ich den Standpunkt des Staatsfreundes, der von der Gesetzgebung immer wieder das verlangt, was der manchesterliche Schwindelgeist höhnisch Bevormundung nennt, ausschließlich dann beziehe, wenn ich das Geltungsgebiet ökonomischer Werte betrachte.

Karl Kraus sucht weder außerhalb noch vor noch nach der bürgerlichen Welt das soziale Ideal, doch scheint ihm nicht nur als polemische Volte jede Gesellschaft besser, deren Vorstellungskraft und Denkpotenzial noch nicht von Markt, Wissenschaft und Presse formatiert ist anhand vieler Beispiele belegt er etwa die Überlegenheit des geistigen Bewusstseins im Vormärz, als Journalismus noch eher in schnörkelloser Berichterstattung denn in feuilletonistischer Meinungsbildung bestanden haben soll.

Kraus ist sich des zivilisatorischen Fortschritts der liberalen Epoche wohl bewusst. Wann immer diese aber ihre Überlegenheit anhand ihrer ökonomischen Verfasstheit behauptet, ein Fortschritt, in dem er bloß ein Fortschreiten der Barbarei erblickt, weiß er, wo er zu stehen hat. Als zum Beispiel der Polarforscher und Friedensnobelpreisträger Fridtjof Jansen begann, seine Schilderung der Eskimositten und die daraus abgeleitete Zivilisationskritik auf ein sozialpolitisches Fundament zu stellen, erntete er von vielen Seiten Spott und Empörung. Kein Wunder, hatte er doch geschrieben: fast kommunistisch sind ihre Leitmotive. Ihre Regel heißt: Ich habe heute einen schlechten Fang getan, gib mir von deinen Fischen; morgen, wenn es dir schlecht geht, will ich aushelfen. Den Spöttern spottete Kraus in einer Glosse: Was diese Europäer anlangt, so haben sie allerdings mehr Kunst und leben nicht sich selbst, sondern vom Nebenmenschen. Ihre Regel heißt: Ich habe heute einen guten Fang getan, indem ich mir von deinen Fischen nahm; morgen, wenn es dir schlecht geht, will ich mir aushelfen.

Wohltätigkeit und Weltanschauung

Kraus gab von seinen Fischen gerne ab. Durch Erbschaft zeitlebens vom Überlebenskampf entlastet, ließ er seine Einkünfte aus Lesungen stets karitativen Zwecken zukommen, konterkarierte diese Praxis aber mit Aphorismen wie: Man sollte die Wohltätigkeit aus Weltanschauung bekämpfen, nicht aus Geiz. Die christlich-soziale Ethik fundiert die Barmherzigkeit auf individueller, die Sozialdemokratie auf nationaler, die Antiglobalisierungsbewegung fundiert sie auf internationaler Basis was den Kapitalismus abmildern mag, aber in seiner Totalität nicht in Frage stellt. Kraus wusste, dass Mitgefühl strukturelle Kritik nicht ersetzen könne, aber gleichfalls wusste er, dass es sich mit einer solchen Kritik leicht vorm Mitgefühl drücken ließ. Sein Zweifel an der Wohltätigkeit ist nicht von Marx inspiriert, sondern vom Dandy und Lilienpoeten Oscar Wilde, dessen kaum beachteten Essay Der Sozialismus und die Seele des Menschen er 1904 in der Fackel als das Tiefste, Adeligste und Schönste, das der vom Philistersinn gemordete Genius geschaffen habe, als das wahre Evangelium modernen Denkens bezeichnete. Wiewohl man Wilde solch ein Werk nicht zugetraut hat, enthält es viele Stellen, welche den antiliberalistischen Sternsingern dringlicher denn je ins Poesiealbum geschrieben gehören wie die folgende: …aber die besten unter den Armen sind niemals dankbar. Sie sind undankbar, unzufrieden, unbotmäßig und aufsässig. Sie haben ganz Recht, so zu sein. Sie fühlen, dass die Wohltätigkeit eine lächerlich ungenügende Art der Rückerstattung ist oder eine gefühlvolle Spende, die gewöhnlich von einem unverschämten Versuch seitens der Gefühlvollen begleitet ist, in ihr Privatleben einzugreifen. () Unbotmäßigkeit ist für jeden, der die Geschichte kennt, die recht eigentliche Tugend des Menschen. Durch die Unbotmäßigkeit ist der Fortschritt gekommen, durch Unbotmäßigkeit und Aufsässigkeit.

Gott erhalte uns den Kommunismus!

Es gibt viele Verbindungen zwischen Kraus Gedankenwelt und der des Linksradikalismus, gerade dort aber sind sie nicht zu finden, wohin linke Kraus-Verwehrer gerne verweisen, zu seiner Sympathie für Einzelmenschen, für Luxemburg, Liebknecht Vater und Sohn, Brecht, zu Mühlen oder Dimitrov, die er nicht wegen ihres Kommunismus verehrt, sondern wegen jenes Surplus, den ihre Persönlichkeiten auf ihre Doktrinen draufschlagen Doktrinen, mit denen sich Brecht zum Beispiel in Kraus Worten als eigener Vampir das Blut abzapfe. Dass der Musikwissenschaftler Georg Knepler, der Kraus vier Jahre lang bei seinen Offenbach-Rezitationen am Klavier begleitet hat, Marxist war, beweist auch nicht viel. Der bulgarische Kommunist Georgi Dimitrov wird von Kraus als der wertvollste Vertreter der eigenen Sache geachtet, nicht jedoch der Sache wegen, sondern aufgrund seiner heroischen Beweislastumkehr gegen die Nazis als Angeklagter beim Reichstagsbrandsprozess 1933. Und die kommunistische Schriftstellerin Hermynia zu Mühlen, weil sie ihren Adel verloren, aber nicht eingebüßt und auch nichts davon an die Gesellschaft abgegeben hat, die sie genössisch umgibt. Wenn er Rosa Luxemburg in seiner Antwort auf die Unsentimentale aber als Bändigerin von Menschenbestien und Gäterin menschlichen Unkrauts ehrt, erweitert das seine Sympathie für den Adel ihrer Person bereits auf ihre politische Funktion und erhellt sein zwiespältiges Verhältnis zum Kommunismus.

Kraus Ablehnung der revolutionären Bestrebungen nach dem I. Weltkrieg speist sich aus dem Vorurteil, bei den Revolutionären handele es sich durchwegs um zweitklassige Journalisten und Dichter, die ihre Chance witterten, nicht mehr in den Cafés, sondern in Arbeiter- und Soldatenräten zu posieren. Nur zu gern glaubte er jede Propaganda der bürgerlichen Presse über deren Gewaltbereitschaft.

Die Fortsetzung jenes Ungeistes, den er schon an der bürgerlichen Gesellschaft verabscheut hatte, erblickte er in der technokratischen Verzahnung von Verwissenschaftlichung, Verwaltung und Zurichtung des Menschen, mit dem die vulgärmarxistische Praxis ihre idealistischen Ziele umzusetzen trachtete. Diese Praxis dürfte kaum dem entsprochen haben, was Kraus mit der Befreiung des Lebenszwecks vom Lebensmittel gemeint hatte. Am widerlichsten war ihm aber der marxistische Fachjargon, mit dessen Verspottung als Moskauderwelsch er den Konservativen einen ihrer Lieblingskalauer in die Hände spielte.

Jedoch in zweierlei Hinsicht einer ethischen und einer pragmatischen verneigt sich Kraus vor dem Linksradikalismus. So gilt seine Hochachtung dem aufrichtigen Idealismus vieler seiner Aktivisten, besonders wenn sie als Bürgerliche ihr eigenes Klasseninteresse opfern, also aus Tugend, nicht aus Not Linke werden. Ein Hungerleider, der Anarchist wird, schreibt er, ist ein verdächtiger Werber für die Sache. Denn wenn er zu essen bekommt, wird er eine Ordnungsstütze. Oft sogar ein Sozialdemokrat. Nichts ist dagegen sinnloser, als sich über die Söhne besitzender Bürger lustig zu machen, die anarchistischen Ideen anhängen. Sie können immerhin Überzeugungen haben. Jedenfalls verdächtigt kein abgerissenes Gewand die geistige Echtheit ihrer kommunistischen Neigungen. Die geistige Welt des Kommunismus, konzediert Kraus diesen Eiferern, ob mit oder ohne abgerissenem Gewand, in einem kürzeren Moratorium, vor dessen Ablauf das Machtmittel den Zweck verzehren könnte sie organisiert sich doch aus dem Gedanken jener letzten Hoffnung, die die Verzweiflung bildet, und der Mut seiner Bekenner, der volle Einsatz auf einer Barrikade, die die Sozialdemokratie vor der Stirn hat, verbindet ihn wie mit dem Tod auch mit dem Leben.

So bleibt der Kommunismus die angsteinflößendere und effizientere Rute im Fenster: Der Kommunismus als Realität ist nur das Widerspiel ihrer eigenen lebensschänderischen Ideologie, immerhin von Gnaden eines reineren ideellen Ursprungs, ein vertracktes Gegenmittel zum reineren ideellen Zweck der Teufel hole seine Praxis, aber Gott erhalte ihn uns als konstante Drohung über den Häuptern jener, so da Güter besitzen und alle anderen zu deren Bewahrung und mit dem Trost, dass das Leben der Güter höchstes nicht sei, an die Fronten des Hungers und der vaterländischen Ehre treiben möchten. Gott erhalte ihn uns, damit dieses Gesindel, das schon nicht mehr ein und aus weiß vor Frechheit, nicht noch frecher werde, damit die Gesellschaft der ausschließlich Genussberechtigten, die da glaubt, dass die ihr botmäßige Menschheit genug der Liebe habe, wenn sie von ihnen die Syphilis bekommt, wenigstens doch auch mit einem Alpdruck zu Bett gehe! Damit ihnen wenigstens die Lust vergehe, ihren Opfern Moral zu predigen, und der Humor, über sie Witze zu machen.

Und Karl Kraus bleibe einer Linken als geistiger Stachel erhalten, damit sie Wohltätigkeit aus Weltanschauung bekämpfe, Weltanschauung aus kritischer Vernunft und diese, falls zum Selbstzweck sie gefriert, aus Menschlichkeit. Damit aus seiner Haltung sie die Lehre ziehe, dass Repression man nicht mit Regression beikommt, die Underdogs nicht aufrichtet, indem man sich ihnen auf allen Vieren nähert und im Schritt beschnüffelt; dass sich der Erniedrigung des Menschen zur Massenware nicht mit fertig verpackter Diskont-Sprache widerstreben lässt, weder mit Moskauderwelsch noch mit Post-Französeln noch mit knalligem Untergrundeln; dass und jetzt das dicke Ende Adel nicht erbens-, doch erwerbenswert ist.