Karl Kraus und die JudenDichter Innenteil

Anstiftungen zum Wiederentdecken von Karl Kraus, Teil 27

Einem Juden zu begegnen ist eine Wohltat, gesetzt, dass man unter Deutschen lebt. Die Gescheitheit der Juden hindert sie, auf unsere Weise närrisch zu werden, zum Beispiel national.

Friedrich Nietzsche

K. ist nicht der gemütliche Haussatiriker, der gewöhnlich wohlwollend und launisch über die menschlichen Schwächen spöttelt. Er ist ein unbeirrbarer Hasser und er hasst von ganzem Herzen. Das ist vielleicht das Urjüdische in seiner Persönlichkeit und auf derselben Linie liegt auch sein stilistischer Radikalismus. Er verfolgt den Gedanken bis zu seiner letzten Möglichkeit und er lässt nicht eher vom Worte ab, bis es ganz seinen Willen getan hat.

Moses Gras, in Die Neue Zeit, Tel Aviv 1924

Nichts ist engherziger als Chauvinismus oder Rassenhass. Mir sind alle Menschen gleich, überall gibts Schafköpfe und für alle habe ich die gleiche Verachtung. Nur keine kleinlichen Vorurteile.

Karl Kraus

Die Verdienste des Karl Kraus hätten ihm mehr Schwächen erlaubt, als sich ihm nachweisen lassen, und ein geistiges Oeuvre von 36.000 Seiten zeitigt nicht nur Widersprüche, sondern gedeiht auf diesen. Widersprüche und Schwächen, die er sich getrost hätte ersparen können, aber bestimmen sein Verhältnis zum Jüdischen. Neben seiner Häme gegen den Intellekt der Frau stellen antijüdische Ausbrüche die unverzeihlichen Widerwärtigkeiten seines Werks dar. Die folgende Differenzierung will diese nicht rechtfertigen, lediglich ins rechte Licht rücken.

Mein Vater erzählte mir stets stolz vom Eindruck, den die Marinekadetten von Pola darunter mein Großvater auf Karl Kraus gemacht hatten, als er vor ihnen 1913 aus seinen Werken las. Der Blick in die Fackel Nr. 387 setzte meine Idealisierung unter kalte Dusche, denn Kraus Text über die Pola-Reise konzentriert alles, was an seinem Denken am Vorabend des I. Weltkrieges bedenklich war (und später größtenteils revidiert wurde). Der Anblick der Offiziere hätte in ihm das Gefühl gestärkt, dass der Militärhass der Demokratie die Überlegenheit des Misswachses über die Männlichkeit und den tiefer liegenden Unterschied von Menschenwert und Fliegenplage offenbare. Was er unter Fliegenplage versteht, veranschaulicht er an einem Dialogfetzen, den er auf der Heimreise aufschnappt: Wo steht geschrieben, es brocht einer zum Leben haben zu müssen dreißigtosend, man kann auch leben mit zwanzigtosend!

Jiddeln kommt in der Fackel nur als Ausdruck seines satirischen Ekels vor. Doch vor wem? Vor den Juden? Keine Ehrenrettung, so doch eine Relativierung ist die Feststellung, dass sein Abscheu sich mit keinem gängigen Antisemitismus deckt, dass er den Antisemiten weitaus größere Verachtung entgegenbringt als bestimmten Ausformungen der Gesellschaft, welche er mit dem Judentum assoziiert, dass er jene dermaßen gering schätzt, dass sie nicht einmal als Objekte seiner Kritik in Frage kommen, im Gegensatz zum assimilierten jüdischen Bürgertum, dessen Vertretern er fortwährend den Geschäftsgeist unter der freigeistigen Maske nachweist.

Selbst seine Anhänger versuchten Kraus antijüdische Sentiments mit dem Schlagwort des jüdischen Selbsthasses zu verzeihen, doch hat Kraus selbst dieses für seine Person mehrmals mit überzeugendem Spott zurückgewiesen, ebenso wie den Vorwurf eines jüdischen Opportunismus. Ob sie mich wirklich für einen solchen zielstrebigen Trottel oder auf den Kopf gefallenen Haderlumpen halten, dass ich Händlern und Wechslern nur nahe trete, um ihr eigenes Geschäft zu machen. Ob sie wirklich glauben, dass ich darauf aus sei, das Judentum, dem ich entstamme, zu verleugnen, um etwa mit Grafen, Offizieren und Prälaten verkehren zu dürfen.

Nichts verabscheut Kraus mehr als Journalismus und Kommerz. Ersterer verflache geistige Werte, um sie den Vorgaben Letzteren auszuliefern. In beiden Sphären waren Menschen jüdischer Herkunft überproportional präsent. Kraus scherte sich nicht um historische und soziologische Gründe. Warum die Juden des Abendlandes vorrangig in der Zirkulationssphäre gelandet waren und nach vollzogener Assimilation auch enthusiastisch die intellektuelle Sphäre usurpierten, interessiert ihn wenig. Jedoch lässt sich ihm in keiner Zeile das antisemitische Vorurteil nachweisen, er halte Handel und Schacher für Wesenszüge eines jüdischen Volkscharakters. Wohl aber hält er sie für Charakteristika eines Komplexes verirrter Moderne, den er auf technisch-kapitalistisch-jüdisch-preußische Weltanschauung tauft.

Der Krämergeist ist ihm der verhasste Ungeist seiner Zeit, im Deutschnationalismus wie später im Nationalsozialismus erkennt er das Ressentiment des Kleinkrämers gegen den Großkrämer. Und ebenso schwer gelingt der Nachweis, dass seine Kritik des Kapitalismus die eines ständischen Konservatismus ist, jene des Waffen tragenden Edlen am geschlechts- und ehrlosen Bürger, denn obwohl sie durchaus Elemente jenes integriert sind ihr gleichermaßen aufklärerisch-liberale und sozialistische Motive eigen.

In Nationalismus und Heroenkult ideologisiert das Bürgertum bloß seine Defizite, die es allesamt in die Juden projiziert. Die Wiener Bourgeoisie verwendete gerne die Zeilen Nestroys aus Judith und Holofernes: unsere Leut sind gar gscheit, habn zum Kriegführn ka Freud für ihren antisemitischen Spott, der sein Ziel wie Kraus 1923 sowohl Nestroy als auch die Juden verteidigt von einem überlebten und durch diesen Schandkrieg entehrten Tapferkeitsideal bezogen habe, und unsere Leut nicht als Vorbild der Feigheit, sondern eher der Weisheit erscheinen lasse, durch welche sie sich von allen anderen Völkern vorteilhaft unterscheiden würden, die leider Gottes samt und sonders zum Kriegführn noch immer a Freud haben.

Ich weiß nicht, was heute jüdische Eigenschaften sind, schreibt Kraus 1913 in dem Schlüsseltext Er ist doch ä Jud. Wenn es nur eine gibt, die alle andern, besseren verstellt, Machtgier und Habsucht, so sehe ich die auf alle Völker des Abendlandes gleichmäßig und nach dem Ratschluss teuflischer Gerechtigkeit verteilt Und merkt an anderer Stelle an: Ich weiß nicht, ob es eine jüdische Eigenschaft ist, das Buch Hiob lesenswert zu finden, und ob es Antisemitismus ist, das Buch Schnitzlers in die Ecke des Zimmers zu werfen. Und zu sagen, dass die Schriften der Juden Else Lasker-Schüler und Peter Altenberg Gott und der Sprache näher stehen, als alles was das deutsche Schrifttum in den letzten fünfzig Jahren, die Herr Bahr lebt, hervorgebracht hat. Und schließlich weiß Kraus auch nicht, ob es eine jüdische Eigenschaft ist, einen alten Schnapsschänker im Kaftan kulturvoller zu finden als ein Mitglied der deutsch-österreichischen Schriftstellergenossenschaft im Smoking.

Karl Kraus bringt der Ursprünglichkeit von Volkskultur einen gewissen Respekt entgegen, weiß aber, wo er zu stehen hat, wenn diese national gegen die von ihm geliebten Sprachschätze einer transnationalen Hochkultur gerüstet wird. Entgegen der Authentizitätsvergötzung und der Fetischisierung kultureller Differenz, wie sie heute in der Linken dominieren, sind für Kraus Jiddisch ebenso wie Wienerisch, Berlinerisch und Tirolerisch nicht Ehrfurcht gebietende Kulturgüter, sondern schlechtes Deutsch. Nationale Identität ist ihm ein Gräuel, sei es deutsches Erwachen oder aber der Zionismus da ihm eine Verminderung der Nationen, deren es ja schon genug gibt, sympathischer wäre als eine Vermehrung, und dass nicht so sehr die jüdische Ertüchtigung, als der Gedanke der Ableitung des jüdischen Elends als ein soziales Problem meine respektvolle Teilnahme findet.

Auch das ist Kraus!

Hier könnte man, nachdem man den Juden Karl Kraus per selektivem Zitat vom Vorwurf des Antisemitismus entlastet hat, den Aufsatz enden lassen und jene linke Lesart befriedigen, die, anstatt sich davon befruchten zu lassen, woran es ihr wirklich mangelt nämlich seiner Sprachkritik, Kraus gegen die Evidenz eines Lebenswerks mit den 20 ewig gleichen Zitaten über ihren Leisten biegen und Kamm scheren muss, um aus ihm einen linken Ideologiekritiker nach ihrer Facon zu schneidern. Doch diesen Gefallen tut ihr Kraus nicht. Seinen Positionen mangelt es oft an jener inhaltlichen Konsistenz, die einem wissenschaftlich geschulten Denken auch gegen ihn zur Ehre gereicht. Und es gilt in jedem Fall separat zu analysieren, ob sein Mangel an Systematik diese dialektisch überwindet oder fahrlässig hinter sie zurückfällt. Wer seine Judenkritik nur als polemisch übersteigerte Kapitalismuskritik verstehen will bedenklich genug , der kennt die Fackel nicht, die zumindest die ersten 18 Jahre gespickt ist mit antijüdischen Stereotypen, die wenn schon nicht in ihren Motiven, so doch in ihrer Form von der völkischen Hetzpropaganda nicht weit entfernt ist.

Und noch bedenklicher ist der konservativ-religiöse Bodensatz dieses Judenhasses, der von der linken Rezeption konsequent totgeschwiegen wird und den er sich mit dem jüdischen Pseudophilosophen Otto Weininger teilt, welcher wie er das Ideologem vom jüdischenMangel an einer wurzelhaften und ursprünglichen Gesinnung reproduziert. Seine Kritik am Ritualmordmythos wendet Kraus zum Beispiel aphoristisch gegen die Gesinnungslosigkeit der liberalen assimilierten Juden, die nicht einmal fähig seien, nur irgendein Ritual zu begehen. Deren Hände nicht fähig wären, Blut zu opfern. Nur fähig sind, Geld zu gewinnen. Und das Blut, das sie verwenden, ist nicht dem Leib des Christen, sondern dem Geist des Menschen abgezapft! An anderer Stelle erlaubt er sich die Geschmacklosigkeit, vom Pogrom der Juden an den Idealen zu schreiben.

Wer in Kraus gar einen Komplizen der eigenen antiklerikalen Blasphemie sucht, wird in ihm seinen schlimmsten Feind finden. Als 1913 jüdische Bürger in Bad Ischl den katholischen Gottesdienst besuchen und das Aufstehen der Gläubigen beim Evangelium mit Wos haißt dos? Sitzen bleiben! Mer seht doch nix! quittieren, lässt er eine Breitseite der Verachtung gegen diese Menschen los, derselbe Karl Kraus, der fünf Jahre zuvor immerhin geschrieben hatte: Den Hut vor der Monstranz zu ziehen, ist bei weitem kein so schönes Verdienst wie ihn jenen vom Kopfe zu schlagen, die kurzsichtig oder andersgläubig sind.

Aufnahmestopp für rumänische Flüchtlinge

Bereits 1900 wettert er, einige Seiten nach einer Eloge auf die noble Seele des Kaisers, gegen die Immigration rumänischer Juden mit denselben Argumenten, mit denen heutzutage die politische Rechte gegen den Zuzug von Ausländern polemisiert: Pauperisierung, erhöhte Kriminalität und Konkurrenz zur heimischen Arbeiterschaft. Mehr noch bagatellisiert er die miserable Situation der Juden in Rumänien und kokettiert mit dem Vorwurf, diese würde von der jüdischen Neuen Freien Presse hochgespielt. Ein Satz wie der folgende zählt auch sprachlich zu den Scheußlichkeiten im Werk des Karl Kraus, die leider keine Ausrutscher sind: Spät genug erinnerte sich die österreichische Regierung ihrer Pflicht und traf Anstalten, die rumänischen Einwanderer von Wien abzuschaffen. 15 Jahre später nimmt Kraus mehr Anteil am Schicksal der Pogromopfer in Russland, verhöhnt wenigstens nur mehr die Solidarität der jüdischstämmigen Bürger Wiens mit ihnen als Heuchelei.

Mit Ausbruch des Weltkrieges lässt Kraus die konservativen Anteile seines Weltbilds größtenteils hinter sich, seine antijüdischen hingegen erleben einen letzten Höhepunkt und beschmutzen Brillanz und ethische Größe der Antikriegssatire Die letzten Tage der Menschheit, indem er nicht etwa jüdische Schieber und Kriegsgewinnler darstellt, sondern diese als jüdisches Problem, wie exemplarisch mit den Worten des Nörglers: Wissen Sie, wie der Ares dieses Krieges aussieht? Dort geht er. Ein dicker Jud vom Automobilkorps. Sein Bauch ist der Moloch. Seine Nase ist eine Sichel, von der Blut tropft. Seine Augen glänzen wie Karfunkelsteine. Auch das leider kein Einzelfall. Die Fackel strotzt vor antijüdischen physiognomischen Gehässigkeiten, sei es die tapirartige Visage des Herausgebers der Neuen Freien Presse, Moritz Benedikt, oder die lange Nase der Schalek, die einen militärischen Stützpunkt verrate, überall erblickt er die Judasfratze des Jahrhunderts und ist sich der politischen Verantwortungslosigkeit einer solchen Diktion nicht bewusst.

Auch wenn Kraus als einer der wenigen seiner Zeit das Konzept der Rasse energisch ablehnte und das der Nation verspottete, so war er doch herderianischen Konzepten von Kulturseele und kollektiven ethnischen Eigenschaften weniger abhold und somit ein Kind seiner Zeit.

Der alte Antijudaismus verachtete die konfessionelle und ethnische Differenz der Juden, der Rassenantisemitisums verband diese Verachtung mit der von Moderne und Aufklärung, als deren Unglücksbringer der assimilierte urbane Jude ihm erschien. Kraus kritisiert diesen nur, sofern er die ideellen Werte von Moderne und Aufklärung an einen menschenfeindlichen Materialismus verrät und versagt jüdischer Tradition keinesfalls seinen Respekt. Hierin offenbart sich sowohl sein aufgeklärter Konservatismus als auch die problematische Assoziation von Kapitalismus, Personalisierung und Volkscharakter.

Nach dem I. Weltkrieg, als der Antisemitismus in Westeuropa Worten Taten Folgen lässt, revidiert Kraus seine Ablehnung des Zionismus, verzichtet weitgehend auf antijüdische Polemik und bekennt angesichts der ersten Nazigräuel, dass er in Ehrerbietung für das geschändete Leben und die besudelte Sprache die Naturkraft eines unkompromittierbaren Judentums dankbar erkennt und über alles liebt: als etwas, das von Rasse und Kasse, von Klasse, Gasse und Masse, kurz jeglichem Hasse zwischen Troglodyten und Schiebern unbehelligt in sich beruht.

Karl Kraus war kein Wolf, der mit dem Hyänen heulte, dessen Heulen sich aber fahrlässigerweise zu wenig von dem der antisemitischen Hyänen abgrenzte.