Mein Sinn des ReisensDichter Innenteil

«Woher kommst du?», werde ich von den Menschen, denen ich auf meiner Reise begegne, gefragt. Keine leichte Frage, da ich auch keine Antwort auf «Wohin gehe ich?» weiß.

Illu: Karl Berger

Freundlich antworte ich, je nach der Sprache des Fragenden, Austria, Österreich, Autriche, Austriacha. Dann werfe ich weiterhin ein, dass ich aus Wien, Vienna, Vienne, Beč stamme. Darauf reagieren alle auf dieselbe Weise, «Ah, was für eine wundervolle Stadt, que bella, magnifique, lovley city!» Mir ist bewusst, dass ich aus dem schönsten Reiseziel der Welt komme und mich alle darum beneiden, dass ich in dieser, wie alle betonen, «sauberen Stadt» lebe. Sie wollen auch noch wissen, ob Wien gefährlich sei? «Nein gar nicht», erwidere ich, da Wien ja keine Metropole, damit meine ich Mega-City, ist.

Ich empfinde bei Städten, die ich bereise, sogar ein heimliches Verlangen, mich in Gegenden zu begeben, die mir einen gewissen Respekt einflößen. Das löst bei mir einen Kick aus, der zur Erhöhung meines entspannten Wiener Adrenalinspiegels sorgt. In Frankreich sind es die Voyous. In Italien Männer, die sich an meine Fersen heften, um mich auf einen Teller Pasta und noch so allerlei einzuladen. In Deutschland war ich auf der Suche nach der Inkorrektheit, die sich vor mir geschickt versteckt hielt, und in Tschechien fühlte ich der unerträglichen Leichtigkeit des Seins eines Schriftstellers nach.

Per Autostopp nach Italien

Als Sechzehnjährige trat ich im Sommer 1980 meine erste Reise mit meiner besten Freundin an. Es ging per Autostopp nach Italien. Unsere Eltern durften nichts davon wissen. Logisch. Doch unser Drang nach Abenteuer und so lange wie möglich mit einem bescheidenen Budget unterwegs zu sein, wischte alle Zweifel, dass wir das Richtige taten, vom Tisch. Kaum hatten wir die Grenze überschritten, änderte sich das Aussehen der Häuser und ihrer Fensterläden, der Putz bröckelte leicht von den Wänden ab, die Menschen und ihre Sprache klangen lebhafter. Die Katzen liefen frei am Straßenrand entlang. Wir planten nichts, sondern ließen uns einfach treiben. Die anhaltenden Autos nahmen uns in alle Ecken und Enden Italiens mit. Wir verbrachten auch ein paar Tage in Bologna, einer beeindruckenden Stadt, die einer Theaterkulisse gleicht und dessen Menschen auf der Bühne des Lebens in der «Comédie humaine» ihr Bestes gaben. Wir entschieden uns am 2. August 1980 einen Teil unseres Wegs mit dem Zug fortzusetzen. Mit dem Frühstück ließen wir uns Zeit, dann bummelten wir über den belebten und bunten Markt, kauften Tramezzini als Proviant und bestiegen den Bus Richtung Bahnhof. Wir kamen dort nie an. Glück muss man haben! Der Bahnhof war abgeriegelt, ein Bombenanschlag hatte kurz vor elf Uhr stattgefunden. Wir wussten nur, dass Bologna eine hochpolitische Stadt ist. Vorerst wurden die Linken beschuldigt. Schlussendlich wurden Neofaschisten angeklagt und verurteilt, das Attentat verübt zu haben. Bis heute ist es durch die Behinderung der Justiz nicht geklärt, wer ihre wahren Hintermänner sind. In unserer jugendlichen Unbeschwertheit freuten wir uns unseres Lebens und setzten unsere Fahrt per Autostopp fort. Endlich landeten wir an irgendeinem Strand an der Adria. Damals war Italien noch billig. Wir ernährten uns von Melonen, Käse und Chianti. Durch eine Passkontrolle wurden wir in eine andere Welt versetzt. In das Leben einer anderen Kultur, die sehr spannend war zu entdecken. Wir wurden in den meisten Fällen liebevoll behandelt und neugierig nach unserem Leben befragt. Reisen hat für uns bedeutet, unseren Horizont zu erweitern und offen am Leben teilzuhaben. Bis heute kann ich mir nicht vorstellen, eine Pauschalreise zu buchen und in einem Ressort, das vom wirklichen Dasein der Menschen abgeschottet ist, meinen Urlaub zu «konsumieren».

Die romantische Idee des Reisens erfüllt Nizza mit seiner Altstadt. Zu Mittag am Platz Saleya ein Glas Rosé und gefüllte Sardinen am Tisch. Englische Tourist_innen im Ohr. Schreiende französische Kellner, die ihre Plateaus über deinem Kopf vorbei balancieren. Die Urlauber ziehen durch die Bazare und kaufen unnötiges Klimbim, das zu Hause in einer Schublade verstauben wird. Vacances, das französische Wort für Ferien, bedeute sich leer machen.

Aus dem Paradies vertrieben

Dieses Idyll, das man von Wien in eineinhalb Stunden erreichen kann, ist seit einer Woche zerstört. Ein Mann fuhr während der Feierlichkeiten des 14. Juli 2016 in die Menschenmenge. Mit einem Coup aus dem Paradies vertrieben, in das sich andere hineinwünschen. Am nächsten Tag schien wieder die Sonne, der Strand blieb leer. Buchungen werden storniert, die Angst sitzt im Nacken, keiner will die erschöpften Flüchtlinge an griechischen und italienischen Stränden mitbekommen. Wohin soll die Reise gehen im wohlverdienten Urlaub? Da hat man das ganze Jahr sich auf die zwei Wochen am Meer gefreut, und dann platzt die Bombe. Das unbeschwerte Dahintreiben der Gedanken am Lido wird gestört durch die täglichen Meldungen über Unruhen, einen Putsch, eine Messerattacke, einen Amoklauf und die Präsidentschaftskandidat_innen.

Als die Welt noch in «Ordnung» war, verschlug es mich in eine Kleinstadt Frankreichs, abseits der Fußgängerzone, in eine Seitenstraße. Die Türglocke eines Ladens, den ich betrat, bimmelte. Der Besitzer, der still hinter seinem Schreibtisch saß und seine Augen von einem Wort zum anderen über ein Buch gebeugt gleiten ließ, hob seinen Blick. Ich fand ein Buch von einer längst verblichenen Schriftstellerin im Regal seines Antiquariats. Aufgeregt blätterte ich in dem vergilbten Band und roch die Vergangenheit von einer Stadt und ihrer Schicksale. Da der Geruch der instinktsicherste Sinn ist, kaufte ich es.

Im nahen Bistro hole ich es aus meiner Tasche, um mich in die Erzählung zu vertiefen und werde vom Aroma eines Espressos bei guter Laune gehalten. Ich stolpere mit der Lektüre in ein Szenario des vergangenen Jahrhunderts. Nach dem Vorwort der Autorin gelange ich ins Café Elefant auf der Esplanade von Karlsbad. Ins Böhmen der Monarchie, das alle europäischen Metropolen in seiner Architektur zu vereinen vermochte. Auf der Terrasse des Cafés sitzt eine Lady mit weißen Handschuhen. Sie hebt ihr Likörglas zum Mund, nimmt einen Schluck.

Ihr Blick schweift über die vorübergehenden eleganten Damen und Herren. Sie tupft ihre Lippen mit ihrem Damasttaschentuch ab. Meine Augen, verdeckt durch meine schwarze Sonnenbrille, folgen einer Reisegruppe aus Deutschland, die in einem «Einheitsbeige» gekleidet und im Rentenalter ist. Madame scheint Gefallen an der Welt, so wie sie damals war, zu finden. Während ich die Mode, wie sie sich beliebig verändert hat, nicht aufregend finde. Ich kritzle meine besten Grüße auf eine Postkarte mit einem imperialen Motiv von Karlsbad um 1889.

Nach Frankreich von meiner Zeitreise zurückgekehrt, streune ich durch die Gassen. Vor der Auslage einer Maison Boutique mache ich Halt. Ich werde von den schön drapierten Kristallgläsern made in Czech Republic geblendet. Aus einem offenstehenden Fenster dringt Klaviermusik zu mir herunter. Ein zauberhafter Augenblick, der mich meinen Gedanken nachhängen lässt. Diesen Moment machte sich ein Unbekannter zu Nutze. Er langte sachte von hinten in meine Tasche. Ich spürte nicht den Hauch einer Berührung. Leider.

Ein letzter Blick aufs Meer

Das Beobachten, Bewundern und die Orientierung mit Hilfe des Stadtplans zu behalten, machte mich hungrig. Der Kiosk an der Ecke bietet süß und sauer duftende Crêpes an. Ich krame in meiner Tasche nach meinem Portemonnaie, ohne Erfolg. Mein Hang zum aufregenden Leben wurde Realität. Ich betrachtete meinen Verlust als Spende für die Ausbildung der Tochter des Diebes und tröste mich mit einem letzten Blick auf das Meer, das in der Mittagssonne golden glänzte.

Nachdem ich ohne Geld nach Wien zurückkehren musste, schlendere ich mit leerem Magen über den prunkvollen Michaelerplatz nach Hause. Vorbei an den Fiakern, die auf Touristen warten. Wien hat sich verändert, die Polizei ist präsenter als vor meiner Abreise. Sie kontrolliert Plätze, die von vielen Menschen besucht werden. Meine Hand gleitet über die Nase eines weißen Rosses. Der Fahrer am Kutschbock versucht mich auf Englisch mit Meidlinger Akzent zu einer Rundfahrt zu animieren. «Ich bin eh von da!», gebe ich ihm zu verstehen. Denn welche «echte Wienerin» ist jemals mit einem Fiaker gefahren? Von weitem erkenne ich die elegante Dame aus dem Café Elefant in Karlsbad. Wer es sich leisten kann, kommt heute gerne nach Österreich, das als sicheres Reiseziel eingestuft wird. Sie nähert sich dem Fiaker. Sauberes Wasser, blühende Almwiesen, fesche Dirndln. Madame fordert den Kutscher auf, ihr die Wagentüre zu öffnen. Prompt zückt er seine Melone und hilft ihr in den Wagen. Mein Blick folgt ihr, wie sie klappernd durch den Torbogen an der unbesetzten Hofburg vorbeirollt.