Phobien und Warten auf das SüßeDichter Innenteil

Die Abenteuer des Herrn Hüseyin (72)

Nachdem Herr Hüseyin mit Zahnschmerzen in das neue Jahr 2017 gerutscht ist, wartet er am ersten Tag des Jahres einige Stunden in der Zahnklinik in der Sensengasse auf die Betreuung durch einen Zahnarzt.

Man wollte ihm gleich einen Zahn ausreißen. Eine Entzündung unter dem Zahn, der wurzelbehandelt wurde. Jedoch hat der Hüseyin darauf bestanden, seinen Zahn zu behalten, wenn ausreißen, dann nur durch seine Zahnärztin. Die war auf Urlaub. Er lässt sich irgendwelche Antibiotika verschreiben, dazu Schmerztabletten. Am Tag hat er keine Schmerzen. Ab dem Zeitpunkt des Schlafengehens fängt es an, höllisch weh zu tun. Herr Hüseyin versucht immer wieder Zahnarztbesuche aufzuschieben. Diese Phobie vor dem Zahnarzt hat er immer gehabt. In dem Dorf, in dem er als Kind nie einen Zahnarzt besucht hat, hatte er auch nie Zahnschmerzen. Einmal im Jahr kamen die Beamten vom Staat und versuchten die Kinder zu impfen. Das waren die schlimmsten Momente im Leben eines jeden Kindes. Das Geschrei der Kinder hallte im ganzen Dorf. Viele versuchten sich zu verstecken. Mit der gleichen Injektionsnadel impften sie die Kinder nacheinander. Diese verdammten Nadeln waren damals riesig. Die waren eher für Elefanten als für Kinder. Jetzt denkt sich Hüseyin: Damals waren die medizinischen Gerätschaften nicht so entwickelt. Aber sie hätten ruhig zumindest die Nadeln auswechseln können. Oder waren sie der Ansicht, für ein kurdisches Kind reicht das schon? Aus diesem Grunde seine Phobien vor den Injektionen. Wahrscheinlich geht es vielen Kurden ähnlich wie dem Hüseyin. Als er sechzehnjährig mit seinem Vater nach Österreich kam, musste er eine Gesundenuntersuchung über sich ergehen lassen, ob er gesund genug für eine Straßenbaufirma ist. Als er mit der Blutabnahme, die Zähne zusammenbeißend, fertig war, macht er den Fehler, auf die Stelle zu schauen, wo der Nadel sich befunden hat. Aus seiner Haut ein winziges Blutströpfchen! Er fällt in Ohnmacht. Ab dem Zeitpunkt merkt er, woher diese Phobie kommt. Er möchte möglichst wenig mit Injektionen zu tun haben. Sogar bis heute kann er keine Szenen im Fernsehen oder im Kino anschauen, in denen man mit Injektionen hantiert.

Im Dorf bekamen sie auch nie Schokolade. Zucker wurde für die Speisen nicht verwendet. Die Salate bekamen auch keinen Zucker zur Verstärkung des Geschmacks. Auf das Süße mussten sie warten. Nämlich auf das Obst, das sehr spät im Sommer reif wurde. Mitte Juni wurden als Erstes die Maulbeeren reif. Das war die Zeit, wo Kinder und Vögel sich sehr freuten. Hüseyins Frühstück war, nach dem Aufwachen zuerst in den Garten hinter dem Haus auf einen Maulbeerbaum zu klettern. Es war kühl. Die besten Früchte befanden sich auf den höheren Ästen. Neben ihm auf den anderen Ästen sehr viele Spatzen, die sich auch ihren Anteil an Süßem holten. Herr Hüseyin bekam die Schokolade dann, als der Vater im Dezember aus Österreich für zwei Monate nach Hause ins Dorf kam. Das war die schönste Zeit für den Hüseyin. Auf die neuen Kleider freute er sich nicht. Eher auf die Schokolade. Davor wussten sie nicht einmal, dass es Schokolade gibt. Weil die Farbe so dunkel ist, konnten die Kinder sich gar nicht vorstellen, dass dieses Ding so süß ist. Das einzige Süße, was sie kannten, war der Würfelzucker. Außer Früchten. Im Winter hatten sie auch keine Orangen oder Mandarinen.

Ihr Hüseyin