Sex auf dem Diwan statt auf ethischer GrundlageDichter Innenteil

Anstiftungen zum Wiederentdecken von Karl Kraus, Teil 10

Der Mann hat keinen persönlicheren Anteil an der Lust, als der Anlass an der Kunst. Und wie jeder Anlass überschätzt er sich und bezieht es auf sich. Der einzelne Lump sagt auch, ich hätte über ihn geschrieben, und hält seinen Anteil für wichtiger als den meinen. Nun könnte er auch noch verlangen, dass ich ihm treu bleibe. Aber die Wollust meint alle und gehört keinem.

Karl Kraus

Die Befreiung des Sexus von seiner juristischen Bevormundung möchte tilgen, wozu ihn der soziale Druck macht, der in der Psyche des Menschen als Hämischkeit, Zote, grinsendes Behagen und schmierige Lüsternheit sich fortsetzt. Die Libertinage des Amüsierbetriebs, die Anführungszeichen, in die ein Gerichtsreporter das Wort Dame setzt, wenn er ihr Privatleben betasten will, und die offizielle Entrüstung sind von gleichem Blute. Kraus wusste alles über die Rolle des Sexualneids, der Verdrängung und der Projektion in den Tabus.

Theodor A. Adorno

Der Stegreifdichter Anton Kuh, ein immer noch geschätztes Steinchen jenes Baukastens, der sich als das intellektuelle Wien der Zwischenkriegszeit in Touristenshops verkauft, legte am 25. Oktober 1925 im Wiener Konzerthaus beredtes Zeugnis davon ab, was ihm Klaus Mann später als äffische Bosheit bescheinigen würde. In seinem Vortrag mit dem Titel Der Affe Zarathustras warf er Karl Kraus unter anderem vor, von der Itzigseuche befallen zu sein, nannte ihn einen Intelligenzplebejer, ein von unangenehmen Familien-Kohns beschwertes Wesen aus Dreck, Dunst, aus engem Staub stammend und dergleichen mehr. Man sollte wissen, dass er seine Hasspredigt im Solde des kriminellen Medientycoons Imre Békessy hielt, gegen den Kraus seit zwei Jahren einen einsamen Kampf austrug. Und man sollte wissen, dass Kuh es nie verwunden hat, nicht einmal ins Pantheon von Kraus satirischen Opfern geschafft zu haben. So musste er mit Zeugnissen aus zweiter Hand vorlieb nehmen und unterstellte Kraus in seinem Vortrag, er habe über ihn gesagt, er Kuh komme gern von hinten.

In seiner Klage erwiderte Kraus: Die inkriminierten Worte des Beschuldigten machen mir zum Vorwurf, dass ich auf seine erotischen Neigungen angespielt habe. Diese Behauptung ist vollständig unrichtig, beinhaltet eine schwere Ehrenbeleidigung, da ich die Verwertung von Tatsachen des Privat- und Sexuallebens im öffentlichen Kampfe wirklich stets perhorreszierte und aus diesem Grund auch gegen Harden einen langen und energischen Pressekampf führte.

Dieser Pressekampf lag 1925 nunmehr zwanzig Jahre zurück. Zur Erinnerung: Der deutsche Publizist Maximilian Harden, ein liberaler Kritiker der Monarchie und Kraus liebster Reibebaum, hatte Graf Kuno Moltke und den Fürsten Eulenburg, zwei Aristokraten aus dem Umkreis des deutschen Kaisers Wilhelm II., der Homosexualität beschuldigt.

Solche Art journalistischer Sensationshascherei zu geißeln, die sich bei ihrer inhaltslosen Kritik der Herrschenden hinter der herrschenden Moral verschanzt, war seinerzeit äußerst mutig gewesen, noch mutiger aber war es, Homosexualität an sich vor ihrer Verfolgung zu verteidigen, Kraus erfüllte beide Aufgaben en passant und zerrte den journalistischen Denunzianten samt der Gesellschaft vor sein satirisches Sprachgericht und dort wurden die Proportionen klar gestellt: Wenn es eine päderastische Orgie gebe, dann die, in welcher sich beim Prozess Moltke und Eulenburg forensischer Pöbelsinn und journalistischer Kleingeist verewigten. Ihr Anstifter sei der Unlustknabe, der Strichjunge des Geistes Maximilian Harden.

Die Schwulenbewegung ist sich kaum bewusst, welch radikalen Vorkämpfer sie in Kraus hat, und zieht als geistigen Ahnen den Eugeniker und Rassisten Magnus Hirschfeld vor, aus dem einzigen Grund, weil der homosexuell war. Die Parteinahme für Homosexualität kam um 1900, als man sich vor Scham sogar Schwulenwitze verbat und der bloße Verdacht homosexueller Neigung den gesellschaftlichen Ruin bedeuten konnte, einem Outing gleich. Doch der Vorwurf, ein Warmer zu sein, ließ Kraus kalt. Die Anwaltschaft für beinahe jede Abweichung vom horizontalen Pfad der Tugend ist ihm weder bloß dekadente Koketterie noch nur Mittel, die verhasste bürgerliche Moral zu attackieren, sondern aus tieferer Quelle gespeist: seiner Idealisierung einer allseits dämonisierten Sexualität als Lebenselixier und Gradmesser menschlicher Freiheit. Kraus, bei dem sich wie Walter Benjamin erkannt hat alles in der Sphäre des Rechts abspielt, interveniert vor allem in Theorie und Praxis einer Justiz, die stets dort eifert, wo Trieb und freier Wille mündiger Menschen ein Einverständnis schufen. Bei allen sexuellen Möglichkeiten. Wie erst bei den homosexuellen!

Lediglich der Schutz der Wehrlosigkeit, der Unmündigkeit und der Gesundheit obliege dem Staat, ansonsten habe dieser keinerlei Recht, in die Privatsphäre des Bürgers einzugreifen. Es lässt sich heute schwer ermessen, welche Arglosigkeit es zu Kraus Zeit erforderte, sich breitbeinig wie der Hero eines Italo-Westerns hinzustellen und den Verfolgern sexueller Abweichung ins Gesicht zu sagen, dass sie die wahren Perversen seien. Während Betroffene erst scheu und schamvoll über Generationen hinweg die bürgerliche Ordnung um Erlaubnis, um das Zugeständnis anbetteln müssen, gleichrangige Menschen zu sein, und ihre Parteigänger sich hinter wissenschaftlichen Expertisen verstecken, um ja nicht selbst in den Verdacht sexueller Devianz zu kommen, lässt Kraus mit bewährt überheblicher Gelassenheit erst gar keinen Zweifel zu, dass alle Formen freier Sexualität, so sie nicht die oben genannten Rechtsgüter der Wehrlosigkeit, Unmündigkeit und Gesundheit verletzen, die einzig gesunde Norm darstellten; Perversion, Abartigkeit, Krankheit, Prostitution, Schande hingegen Wesensmerkmale genau der Gesellschaft seien, die jene am Sexus ahndet. Das ist keine satirische Retourkutsche, sondern todernst gemeint. Kraus liefert die gesellschaftstheoretische Fundierung seiner Inquisition gegen die Inquisitoren nicht etwa nach, Analyse ist schon die Salzlauge, in die er seine Peitsche tunkt, jeder Hieb muss als Wahrheit schmerzen. Dem Bürgertum verschlägt es den Atem bei solch Unverfrorenheit, und in seiner Konfusion flüchtet es sich in die Gewissheit, ein satirischer Wirrkopf necke sie wieder mal mit dekadenter Übertreibung.

Vom Regen in die Traufe

Aber Kraus distanziert sich auch von der Libertinage der Dekadenzler, die an der bürgerlichen Norm ja parasitenhaft zehren, um in den geschützten Werkstätten ihrer Ateliers und Literatencafés als verruchte Normübertreter zu posieren. Doch das sind kleine Fische. Eine weitaus größere intellektuelle Leistung besteht schon darin, dass er als Pionier der sexuellen Befreiung freie Sexualität nicht nur gegen ihre spießigen Unterdrücker, sondern auch gegen ihre Befreier verteidigt. Sexualreformer bedienten sich naturwissenschaftlicher Theorien, um sexuelle Devianz vor der Strafverfolgung zu schützen. Diese hatte Schwule, Perverse und Ehebrecherinnen immerhin als verwerfliche Subjekte ernst genommen, die Wissenschaft hingegen bot ihnen Straffreiheit an, so sie sich ihrer Definitionsmacht unterwürfen und zu pathologischen Objekten degradieren ließen. Ob die sexuelle Abweichung wie Krafft-Ebing und Hirschfeld postulierten als Stigma nun in im Erbgut liege oder wie die Psychoanalyse abschwächte ein Produkt misslungener psychosexueller Entwicklung sei, bedeutete nur einen graduellen Unterschied. Der Tausch von Verachtung gegen Mitleid rüttelte nicht an der sexuellen Norm, die einzig und allein von Kraus in Frage gestellt wurde. Das und nicht allein das unterscheidet ihn von Freud, der wie er die Homosexualität legalisieren wollte, aber nicht an ihrer Widernatürlichkeit zweifelte.

Kenner des Krausschen Werkes könnten nun zu Recht einwenden, er selbst habe eine Unterscheidung zwischen widernatürlicher und akzeptabler Homosexualität getroffen, nämlich zwischen dem effeminierten Schwulen und dem kreativen Wüstling. Dazu muss man wissen, dass Kraus Zeitgenossen eher geneigt waren, reine, allgemein als Verweiblichung empfundene Homosexualität zu dulden, so sie einbekannte, eine bedauerliche Abirrung von der Natur zu sein, während dem polysexuellen Libertin, der seine Libido auf jedes Objekt richten konnte, die höchste Verachtung entgegenschlug schon allein deshalb, weil er noch in der Perversion seinem Anspruch auf Subjektivität nicht abschwor. Klarer Fall, dass für Kraus letztere Spielart der Homosexualität eine kreative Erweiterung der Hetero-Norm darstellte, während Erstere hinter diese zurückfiel. Perversität, schreibt er, ist entweder ein Zustand oder eine Fähigkeit. Die Gesellschaft wird eher dazu gelangen, den Zustand zu schonen als die Fähigkeit zu achten. Auf dem Weg des Fortschritts wird sie so weit kommen, auch hier der Geburt den Vorzug zu geben vor dem Verdienst. Aber wenigstens wird sich die Norm dann nur mehr über das Genie entrüsten, das heute diese Ehre mit dem Monstrum teilen muss.

Das erinnert etwas an aktuelle Verhältnisse, in denen Schwule gesellschaftliche Akzeptanz einzig dadurch erschnorren können, dass sie sich dem christlichen Weichzeichnerklischee von Händchen haltender Monogamie unterwerfen um ja nicht die Phantasie der auf pure Fleischlichkeit reduzierten Homoorgie zu bestätigen, die den Durchschnittshetero vom Büro bis ins Schlafzimmer verfolgt. Mit tiefer Empathie für die Probleme sexueller Randgruppen schrieb Kraus: Den Homosexuellen wird manchmal, auch von Wohlmeinenden, der Vorwurf gemacht, sie agitierten zu viel. Was aber sollen sie tun? Wenn sie nicht agitieren, erreichen sie ihr Ziel niemals. Und spottete den Tröpfen, die sich den Geschlechtsverkehr bloß auf ethischer Grundlage und nicht auf einem Divan vorstellen können.

Der Inzest zwischen Geist und Sexualität

Nie schrieb Kraus von Liebe, stets von Erotik. Keinesfalls wollte er, der im Privaten romantische Liebe bis zur Selbstaufgabe übertrieb, diese mit jenem heuchlerischen Prinzip verwechselt wissen, mit dem das Bürgertum Herr über seine Triebe, vor allem die weiblichen, werden wollte.

Entgegen einem weit verbreiteten Irrtum erachtet die Freudsche Sublimationstheorie Triebverzicht als notwendige Bedingung kultureller Leistungen. Kraus hält das Gegeneinanderausspielen und Einanderunterordnen von Geist und Sexualität für Unsinn; ihm sind sie komplementäre Heiligtümer, ein mythisches Geschwisterpaar, dessen Inzest erst Schönheit schafft.

Kraus, der die Aufklärung, die die Welt einst erkennen und ehren wollte, an jener Aufklärung rächt, die sie beherrschen will, feiert in einer in die Weiblichkeit projizierten Sexualität genau jene Qualitäten, von denen sich seine Zeitgenossen, Spießer ebenso wie Libertins und Sexualwissenschaftler, bedroht fühlen: ihre Inkommensurabilität, alles, was an ihr widersinnig, unwägbar, verwirrend, dunkel, identitätsauflösend ist ihre tropenhafte, verstörende Natur. Daher auch seine Verachtung der Biowissenschaften, die Sex unter dem Vorwand seiner Befreiung der Herrschaft ihrer Kategorien unterwerfen. Sexuelle Aufklärung, spöttelt er, ist jenes hartherzige Verfahren, wodurch es der Jugend aus hygienischen Gründen versagt wird, ihre Neugierde selbst zu befriedigen. Sie sei insoweit berechtigt, als die Mädchen nicht früh genug erfahren können, wie die Kinder nicht zur Welt kommen.

100 Jahre später scheint der Sexus befreit. Oder wurde er bloß losgelassen, im Kater der Orgie überrumpelt und neu eingespannt? Es lässt sich bloß erahnen, mit welch geistreichem Spott der Satiriker auf dessen angebliche Befreiung reagiert hätte. Darauf, dass sich die Sexualität aus der Domäne der sinnlichen Erkenntnis, von der utopischen Insel größerer Autonomie dem Wellness- und Leistungsprinzip auslieferte, sowie dem unerbittlichen Bekenntniszwang der Talk-Show-Kultur, kurzum: dass die Sexualität die Hamster nicht aus dem Tretrad befreite, sondern bloß deren Schritt beschleunigte.

Zum Schluss seien jene Leser und Leserinnen nicht länger auf die Folter gespannt, die sich Geistesmenschen nicht anders nähern können als Prinzen, Filmstars und Hotelkettenerbinnen und die sich zwischen all den Zeilen gefragt haben mögen: Wann erfahren wir endlich, wie s er selbst getrieben hat? Nun, die Zeugnisse ergeben kein klares Bild. Man weiß mit Sicherheit, dass er ein zartfühlender Liebender war, viele hielten ihn schlicht für asexuell, weil er mit seiner Arbeit nicht so schnell fertig wurde wie sie mit dem Sex, wieder andere für einen Perversen; ein fröhlicher Hurenbock soll er gleichfalls gewesen sein. Man sagt auch, er habe es mit der Sprache, der Wahrheit und so gehabt. Eine noch entsetzlichere Enthüllung aber stammt aus meinem Freundeskreis, von einem ausgebildeten Philosophen und talentiertem Burgenländer. Dieser lehnte Kraus Gesamtwerk mit der Begründung ab, sein Autor sei doch Onanist gewesen.

Stimmt von all dem nur ein bisschen, dürfen wir Karl Kraus um ein abwechslungsreiches Liebesleben beneiden.