Vom Leid der strategischen VisionäreDichter Innenteil

Herr Groll auf Reisen. 243. Folge

Der Dozent und Groll trafen sich am Allerheiligenplatz im zwanzigsten Wiener Gemeindebezirk, um neuere Entwicklungen in der gesellschaftlichen Hauptabteilung «Reichtum und Verwahrlosung» zu besprechen.

Er komme immer wieder gern an diesen Ort im Schatten des Millennium-Towers, meinte der Dozent, der auf einer Bank Platz genommen und einige Zeitungsausschnitte aus seiner Aktentasche geholt hatte. «Bei fröhlichem Kinderlärm und dem Duft von frischem Fladenbrot können wir uns, von Bekannten und Freunden aus dem Kultur- und Bankenmilieu gänzlich unbehelligt, über die basalen Fragen des gesellschaftlichen Fortkommens austauschen.»

Er verkehre prinzipiell nicht mit Bankern und Kulturfunktionären, erwiderte Groll, man sehe ja an den Skandalen in Burgtheater und Staatsoper, wie verkommen diese Sphäre sei. «Ein am Rande der Illegalität lebender Kleinstrentner wie ich mag mit diesen Kulturgaunern nichts zu tun haben. Im Übrigen würde ich gern wissen, was das Wort basal bedeutet.»

Man könne auch «grundlegend» sagen, erwiderte der Dozent.

«Dann sagen Sie ’s doch!», forderte Groll ihn auf.

«Sie müssen entschuldigen, geschätzter Freund. Ich bin nach der Lektüre eines verstörenden Dokuments sprachlich etwas verstrudelt. Darf ich Ihnen den Text zu Gehör bringen?»

«Bitte.»

«Es diskutieren Neos-Chef Matthias Strolz und der neue Staatssekretär im Wirtschaftsministerium, Harald Mahrer, über die Unterschiede von Neos und ÖVP», begann der Dozent. «Wie zu erwarten, finden sie keine, also versuchen die beiden, die fehlende inhaltliche durch sprachliche Distinktion wettzumachen. Statt Distinktion können Sie auch «Unterschied» sagen.»

Das müsse nicht sein, entgegnete Groll. Er trage keine Distinktionszeichen.

Der Dozent schaute verblüfft auf.

«Rangabzeichen auf Uniformen von Heer, Polizei, Feuerwehr», erläuterte Groll.

Der Dozent dankte für die Belehrung und setzte fort. «Strolz will von Mahrer eine Festlegung zur Schulpolitik. Der jedoch windet sich in Satzgirlanden. Darauf angesprochen, erklärt Mahrer: «Ich leite den Evolutionsprozess der ÖVP (…) wir haben sichergestellt, dass jeder seine Positionen einbringen kann. Dann werden wir evidenzbasiert und faktenorientiert in die Debatte gehen und um eine Mehrheitsmeinung ringen, das Momentum ist ja vorhanden.»*) Strolz protestiert, die Lehrergewerkschaft blockiere jeden Fortschritt. Darauf Mahrer: «Seit wann möchtest du keine evidenzbasierte Politik mehr machen? Die Zeit, zuerst das Big Picture zu entwickeln, die strategische Vision, die müssen wir uns nehmen.»»

«ÖVP und strategische Vision. Der Mann hat Humor», sagte Groll. «Fortsetzung Mahrer: «Du bist hypernervös, lieber Matthias. Zu viel Ungeduld macht krank.» Und Replik Strolz: «Ich war heute schon Yoga».»

Groll lehnte sich zurück. Er habe gewusst, dass die Leute für ihre fetten Gehälter viel leisten müssten. Dass sie aber am Rande des sprachlichen Wahnsinns wandelten, habe er nicht vermutet.

«Ein Mann der heute schon Yoga war, versucht einen Gesinnungsfreund, der seinerseits ein Momentum verspürt und evidenzbasiert sowie faktenorientiert ein Big Picture in die Klomuschel donnert, davon zu überzeugen, dass man sich Zeit für den sprachlichen Stuhlgang, die strategische Version, nehmen müsse. Eine bürgerliche Offenbarung», schloss Groll.

«Und der Vorgänger Mahrers als Staatssekretär kündigt an, er werde künftig in der «Privatwirtschaft» arbeiten. Und wissen Sie, geschätzter Freund, was Privatwirtschaft im Falle Danninger bedeutet?»

«Verehrter Dozent, ich befürchte das Schlimmste.»

«Und das ist eine Untertreibung», erwiderte der Dozent. «Für Herrn Danninger wird bei der Hypo Bank NÖ, die sich zu hundert Prozent im Landesbesitz befindet und jeden Fingerzeig Erwin Prölls als Zeichen Gottes deutet, ein hochdotierter neuer Job geschaffen **). Wie bei Josef Pröll, für den man im Raiffeisenkonzern ebenfalls einen Vorstandsjob erfand. Maria Fekter kroch bei den Salzburger Festspielen unter und Wilhelm Molterer bei der Europäischen Investitionsbank. Herr Spindelegger, der nie zu den Schnellen zählte, bemüht sich noch.»

«Ja, die ehemaligen ÖVP Finanzminister sind schwere Versorgungsfälle. Da stößt sogar die ruhmreiche Partei der Privatisierer an ihre Grenzen», resümierte Groll.

*) Kleine Zeitung, 17. 9. 2014

**) Presse, 4. 10. 2014

INFO:

Erwin Riess liest aus seinem neuen Roman «Herr Groll und das Ende der Wachau» (Otto Müller Verlag) am 30. 10. um 19 Uhr in Klagenfurt in der Buchhandlung Heyn, Kramergasse 2, sowie am 13. 11. um 20.30 Uhr in der Buchhandlung Erlkönig, Strozzigasse 19, 1080 Wien.

Weitere Termine auf www.omvs.at/de/veranstaltungen