Wien-Floridsdorf.Dichter Innenteil

Lob der Post!

Der Dozent saß in einem Café am Floridsdorfer Spitz und schrieb in sein Notizbuch. Hin und wieder hob er denBlick und starrte in den dichten Schneefall, der Straße und Gehsteig bedeckte. Nur wenige Passanten waren unterwegs, der scharfe Wind und die tiefenTemperaturen machten den Aufenthalt im Freien unerquicklich. Groß war daher die Überraschung des Dozenten, als er einen weiß angezuckerten Rollstuhlfahrer insLokal rollen sah. Umständlich schlüpfte der Mann aus der nassen Lederjacke.Dann wischte er Schneereste von Kappe und Hose und von den Speichen des Rollstuhls. Der Dozent sprang auf und eilte auf den Mann zu.Freund Groll! Ich hätte nicht erwartet, Sie bei diesem Wetter anzutreffen. Was um alles in der Welt treibt Sie bei diesen unwirtlichen Verhältnissen ins Freie?“

„Das Euthanasieprogramm der Post Aktiengesellschaft“, erwiderte Groll und nahm die Hilfe des Dozenten dankbar an.

Wenig später saßen die beiden an einem Tischchen. Der Dozent wartete auf Grolls Erzählung, der aber wärmte zuerst seine Hände an einer Tasse Tee.

„Reden Sie doch!“, sagte der Dozent. „Ich habe Ihren Anfangssatz nicht verstanden.“

„Ich bin auch erst heute draufgekommen“, sagte Groll und hüstelte. Er nahm einen Schluck vom Tee, stellte die Tasse zurück und fuhr fort. Er habe einen Brief aneine Behörde aufgeben wollen, sagte Groll. Bis vor kurzem sei das kein Problem gewesen, denn ein Postkasten befand sich in unmittelbarer Nähe von Grolls Wohnungseingang. Ein vor längerer Zeit verstorbener Nachbar Grolls, der schwerbehinderte Albert Freitag, hatte der seinerzeitigen Postführung diese Einwurfmöglichkeit abgetrotzt. Im Verein mit Bezirksvorsteher und dem Mieterkomitee war es gelungen, einen Postkasten in der Nähe der Behindertenwohnungenzu erkämpfen. Mehrfach war dieses Service in den Folgejahren in Frage gestellt worden, einmal wurde der Briefkasten auch ein Stück weiter verlegt, aber allen Anfechtungen zum Trotz blieb er bestehen und leistete den vielen Gehbehindertenund auch allen anderen Mietern gute Dienste.

Groll lehnte sich ein wenig zurück.

„Es bedurfte des segensreichen Wirkens der neuen Postführung, die anfängt, die Wonnen der Privatisierung mit Preiserhöhungen und einer Verschlechterung des Services für sich fruchtbar zu machen, dass diese Dienste beendet wurden. Unter den Tausenden Briefkästen, die vor Weihnachten in einer Nacht- und Nebelaktion von der Post AG abmontiert wurden, befand sich auch unser Behinderten-Briefkasten, was immerhin zeigt, dass die hochlöbliche Post Aktiengesellschaft samt ihren kampfgestählten Gewerkschaftern der Gleichbehandlung behinderter Menschen einen hohen Stellenwert einräumt. Wir werden in keiner Weise bevorzugt und dürfen wie alle anderen bei Schnee und Eis belebende Gewaltmärsche auf uns nehmen, um einen Postkasten zu erreichen. Als ich heute früh ein Schreiben an das Bundessozialamt verfassen musste, machte ich mich nach Fertigstellung der Arbeit sogleich auf die Suche nach einem Briefkasten. Das war vor drei Stundenund in zirka vier Kilometern Entfernung.“

„Ein bisschen viel Aufwand nur für einen Brief“, meinte der Dozent.

„Der Brief war wichtig“, entgegnete Groll. „Außerdem gab mir der Gewaltmarsch die Möglichkeit über die tiefer sitzenden Motive der Briefkastensäuberung nachzudenken.

„Es scheint, als wären Sie zu einem Ergebnis gekommen“, meinte der Dozent.

„So ist es auch. Ich habe entdeckt, dass hinter dem Rücken der Bevölkerung ein umfassendes Fitnessprogramm gestartet wurde. Die Bevölkerung hat gesund zu sein, anders, so sagen die Sozialpolitiker täglich, sei der Sozialstaat, seien die Pensionen und die Steuerbefreiungen für Großverdiener nicht mehr zu finanzieren. Das Ziel iste in Sozialstaat, der von niemandem mehr in Anspruch genommen wird und daher auch nicht modernisiert zu werden braucht. Und jenen, die beim Fitnessprogramm nicht mitkommen, fällt die ehrenwerte Aufgabe zu, sich auf der Suche nach dem Sozialstaat und seinen Leistungen psychisch und physisch so zu zerrütten, dassein baldiges Ableben in Aussicht steht.“

„Wie immer übertreiben Sie“, sagte der Dozent und legte einen Zeitungsartikel auf den Tisch.

„In diesem Fall untertreibe ich, werter Dozent. Es wäre ein Wunder, wenn ich mir auf dem Weg zum einsamen Briefkasten keine Lungenentzündung zugezogen hätte.“

Er nahm einen weiteren Schluck vom Tee und atmete mehrmals durch. Es war ihm, als hörte er tief im Innern seiner Lunge ein hässliches Rasseln. Daraufhin schob er den Tee von sich und bestellte einen halben Liter Zweigelt. Außergewöhnlichen Belastungen soll man mit gewöhnlichen Handlungen begegnen, erinnerte er sich einer Lebensregel seines Freundes Schebesta Karl, seines Zeichens Platzwart des FC Wien Nord. Der Dozent mochte sich der Lebensklugheit dieser Maßnahme nicht verschließen.