Zurück zur Natur: Der edle Wilde triumphiertDichter Innenteil

Der Fußball in Polen und in der Ukraine hat ausgespielt. Was bleiben wird: Wie der «edle Wilde» triumphierte für den Moment.

Es geschah am 28. Juni 2012, Rousseaus dreihundertstem Geburtstag, als der «edle Wilde» in Gestalt von Italiens Mario Barwuah Balotelli zuschlug und über die hochtechnische Zivilisiertheit in Gestalt der deutschen Titelfavoriten triumphierte; zumindest für diesmal.

 

Der Philosoph Jean-Jacques Rousseau galt als Vordenker, als Vater der großen Revolution in Frankreich, man meißelte sein Porträt auf das Gestein der Pariser Bastille, nachdem diese erfolgreich erstürmt worden war. Er galt als Paranoiker und wurde auch real verfolgt. Ein Selbstzerstörer, der im Abweichen von der geltenden Norm ein Erlösungspotenzial sah. In der etablierten Gesellschaft verortete er nur falsches, sich selbst entfremdetes Leben. Er stilisierte sich zum Taugenichts aus eigenen Stücken, verwies jedoch auf seine Tugenden ein Mensch voller Widersprüche.

Rousseau ist umstritten. «Meine Geburt war mein erstes Unglück, ich kostete meiner Mutter das Leben», heißt es in seiner Autobiografie mit dem Titel «Bekenntnisse». Ein wohlstandsverwahrloster Uhrmachermeistersohn als Außenseiter und Herumtreiber, der Bettelei und Kleinkriminalität nicht abhold. Ein Clochard, Sandler, Augustin ein Asozialer?

 

Nach seinen Querdenker-Erfolgen und dem Motto «Zurück zur Natur» will der König mit Namen Louis und der Ordnungszahl XV (der mit der Frau Pompadour) diesem Rousseau ein bedingungsloses Grundeinkommen zahlen, doch der schlägt es aus. Er ist unangepasst bei Hofe und in der Pariser Gesellschaft. Als er sich immer obskurer gebärdet, verschreckt er seine letzten Getreuen. Sein zweiter «Discours», die «Abhandlung über den Ursprung der Ungleichheit unter den Menschen» erscheint 1754, als er 42 Jahre alt ist. Darin beklagt er den Verlust der Selbstliebe des Menschen vom Naturzustand aus. Er sieht die Abhängigkeit des vergesellschafteten Menschen in der Arbeitsteilung und der Tauschwirtschaft, was den ursprünglichen Menschen in Knechtschaft zwingt. Diese umstürzlerischen Gedanken irritieren weite Kreise. Nach der Lektüre schreibt der große und anerkannte Voltaire: «Das Lesen Ihres Buches erweckt in einem das Bedürfnis, auf allen Vieren herumzulaufen.»

 

Rousseaus Idealbild gilt in der modernen Ethnologie als längst überholt. Nach der europäischen Eroberung Amerikas hatte die Projektion des «edlen Wilden» Hochkonjunktur. Später in der Romantik fand diese Vorstellung erneut Anklang und konnte sich bis heute in sozialromantischen Kreisen halten.

Auftritt des «edlen Wilden» am 300. Geburtstag von Rousseau. Der 21-Jährige ist Mario Balotelli. Bei der Hymne, «Fratelli d’Italia» (Brüder Italiens, bislang noch ungegendert) sang er begeistert mit. Spätestens in der 36. Minute des Semifinales von Warschau war alles klar gemacht. Der Sohn ghanaischer Einwanderer wurde von einer Pflegefamilie großgezogen und durchlebte eine schwierige Kindheit verletzt und auch verletzend. Alleine diese Heldensaga birgt Vorbildcharakter. Der «edle Wilde» kam, sah und triumphierte. Dabei zog er das Leibchen aus und verharrte in der Pose eines Gladiators, in Stein gemeißelt wie eine Statue. Ein Kriegerdenkmal der besonderen Art. Die gesamte Welt geriet in Verzückung. Eine pseudophilosophische, küchenpsychologische Interpretationsweltmeisterschaft brach los.

 

Szenenwechsel: «Junge Männer kommen für Jobs draußen in der Welt nicht mehr infrage, weil sie gefährlich sind. Es entsteht eine Ikonografie des gefährlichen Schwarzen, mit dem alle möglichen Produkte beworben und verkauft werden», schrieb der Augustin exakt zwei Jahre zuvor, im Juni 2010 (Ausgabe 276). Die Filmemacherin Katharina Weingartner berief sich auf Robin Kelley. Der Experte für Anthropologie und afro-amerikanische Studien in den USA hat als Fachgebiet die afrikanische Diaspora und soziokulturelle Geschichte. Der Buchautor über die schwarze Arbeiterbewegung nennt es eine doppelte Kriminalisierungs-Strategie, wie Produkte in den urbanen Zentren für Sportartikel vermarktet werden. Erstens, das Bild des gefährlichen jungen Schwarzen und zweitens: «Das Streben nach dem teuren Schuh führt dazu, dass die Schwarzen zu Geld wie ihre Idole kommen wollen. Und weil keine Jobs da sind, greift man zu anderen Mitteln, wie etwa Drogenhandel.»

 

Ein Sportartikel- und Schuhkonzern, der gerne mit teuren Rechtsanwälten auffährt, ließ die Theorie von Robin Kelley aus einem kritischen Konsumentenführer zum Schuleinsatz entfernen. Der gefährliche Schwarze als Mittel zum Zweck, um ein aggressives Image zu transportieren solange er nützlich ist für diesen Image-Transport?

«Es gibt noch viel zu tun, um eine fundamentale Erneuerung durchzuführen aber spreche ich über Italien oder über Fußball?», sang Italiens Staatspräsident Giorgio Napoletano beim Empfang der Squadra Azzura Lobeshymnen auf den neuen Shootingstar (was nichts anderes heißt als «Sternschnuppe» im wörtlichen Sinn). «Mario Balotelli gehört nicht nur die Zukunft, mit ihm kann nicht nur in Italien der Rassismus bekämpft werden. Nun soll er auch im Kampf gegen Fremdenfeindlichkeit das neue Gesicht Italiens werden», tickerten die Eilmeldungen der Agenturen. Natürlich nur solange, bis

 

Bis er wieder stolpert, strauchelt, einen Fehler begeht. Dann ist er nicht mehr der «edle Wilde», sondern der gefährliche, unbezähmbare Schwarze und es geht zurück zur Natur.

 

«Die Menschen sind böse; eine traurige und fortdauernde Erfahrung erübrigt den Beweis; jedoch, der Mensch ist von Natur aus gut, ich glaube, es nachgewiesen zu haben; [] Man bewundere die menschliche Gesellschaft, soviel man will, es wird deshalb nicht weniger wahr sein, dass sie die Menschen notwendigerweise dazu bringt, sich in dem Maße zu hassen, in dem ihre Interessen sich kreuzen, außerdem sich wechselseitig scheinbare Dienste zu erweisen und in Wirklichkeit sich alle vorstellbaren Übel zuzufügen.»

Jean-Jacques Rousseau