„Institution“ an der Pestsäule: Lucia WesterguardHeroes

Die alte Dame und ihr Saxophon

Gemeinsam mit ihrem über 123 Jahre alten Musikinstrument ist das innerstädtische Original ein leiser und unaufdringlicher Zeitzeuge dieses lauten Jahrhunderts, das sich hysterisch und schrill im Ausgehen oder Auszucken befindet. Grund genug für den AUGUSTIN, Lucia Westerguard kurzerhand zum Hero des Monats zu küren!“Die Leute schauen auf die anderen zuwenig“, sagt Lucia Westerguard. Kein Mund wäre berufener für diese Aussage als der ihrige. Zeitlebens hat sie Sorge getragen für andere. Sie, die vieles erlebt hat, könnte als positives, lebensbejahendes Beispiel für die lamentierende Heerschar von Handy-, Cabrio- und Designerklamottenbenützern herangezogen werden. Mittlerweile – so scheint es – sind Tugenden wie Zufriedenheit und Demut gänzlich aus dem Wort- und Selbsterfahrungs-Schatzkästchen einer Generation verbannt worden. Unermüdlich und mit grosser Freude geht sie beinahe täglich ans Werk, um mit ihrem Saxophonspiel ein Lächeln auf die Gesichter der Vorübereilenden zu zaubern. So wie es immer schon Brauch von Artisten war.

Der Ort ihrer Auftritte ist die Pestsäule am Graben. Die 87jährige Saxophonspielerin ist beinahe zu einer Institution – wenn auch zu keiner „bleibenden Einrichtung“ – geworden. Seit über 15 Jahren spielt sie dort. So oft es der altersbedingte Allgemeinzustand infolge von Blutdruckschwankungen und die schikanösen Straßenmusik-Verordnungen erlauben. In wöchentlicher Abfolge begibt sie sich zum Magistrat in die Volksgartenstraße und ersteht zwei Platzkarten zu je 45 Schilling. Damit darf sie von Rechts wegen Saxophon spielen und die Herzen der flanierenden Touristen und promenierenden Stadtbewohner auch rechtmäßig erfreuen. Keinesfalls will sie Mitleid, da wäre ihr wahrscheinlich die Pest lieber!

Am meisten fürchtet sie wieder die winterlichen Nachmittage, weil Lippen und Zunge am Blechinstrument anfrieren. Auch Ventile und Herzen können erstarren. Aber das ist selten. Viel öfter passiert es, dass sich Passanten öffnen. „Ich bin eine Künstlerin und brauche das Publikum. Weil ich keinen anderen Auftrittsort habe, nehme ich die Straße; ein hartes Pflaster. Da kommen viele von weit her und streiten um die Plätze, aber ich habe keine Angst, ich habe schon so viel erlebt.“

„Niemals um was bitten, schon gar nicht betteln!“ Diese Einstellung geht auf die kargen Kindheitstage zurück. 1912 in Wien geboren, suchte sie mit 3 Jahren an der Hand ihrer verzweifelten Mutter – ihr Vater war mit 36 Jahren kurz zuvor gestorben – die öffentliche Fürsorgestelle auf. Die Mutter wollte „Klapperln“ für das frierende Kind. Aber die zuständige Dame, die über einen Berg dieser schützenden Überschuhe wachte, hatte – wenn überhaupt – ein noch kälteres Herz in der Brust und verweigerte:“Wenn Sie ihre Kinder nicht versorgen können, dann müssen’s es in a Heim geben!“

Diese Erinnerung blieb Klein-Lucia nachhaltiger in Erinnerung als der Frost im ersten Kriegswinter. Ihre Familie hauste in einer Dachkammer im Ledererhof, wo 1583 Wiens letzte Hexe gewirkt und auf dem Scheiterhaufen am Hohen Markt ihr Hexenleben verwirkt hatte.

Die Mutter konnte den frühen Tod von Lucias Vater nicht verwinden. Die Zeiten waren zu hart für eine alleinstehende Mutter. Unfähig, als Schneiderin zu arbeiten und fürs Kindeswohl der 3 zu sorgen! Die ältere Schwester blieb während der immer häufiger werdenden Depressionen bei der Mutter.

Lucia war die jüngste und voller Tatendrang. Der Kampf ums nackte Überleben hatte Vorrang. Lucia begann früh, für den Unterhalt zu sorgen. Das frohe Kind ging vor Schulbeginn auf den Markt Am Hof und trug Milch aus. Dafür gab es ein paar Groschen und übriggebliebene Milchprodukte. Nach der Schule bei der Kirche Maria am Gestade half sie wieder beim Markt mit. Das aufgeweckte Kind erzählte überall gerne von seinem grossen Lebenswunsch – vielleicht eine Form der Verdrängung?

Selbst die härtesten Verrichtungen wurden im Laufschritt getätigt. Meist war die Zeit knapp bemessen. In der damaligen Zeit, die gerne als „die gute alte“ abgetan wird, musste man höflich sein und immer ein Knickserl machen. Der gestrenge Herr Schuldirektor duldete keine Verspätung. Die belieferten Kunden wollten ihre Milch immer frisch und rechtzeitig – noch vorm Frühstück. Lucia sicherte – gemeinsam mit Bruder Hans, der bei einem Bäcker arbeitete – Mutter und Schwester das Überleben. „Milch und Brot waren das Wichtigste damals, ich habe für die Milch gesorgt, und der Hans fürs tägliche Brot!“ Fleisch war alles andere als alltäglich.

Danach arbeitete sie als Teppichknüpferin bei angesehenen Leuten. „Die eigene Würde ist noch wichtiger. Die Reichen haben immer schon alles gehabt, aber die haben, was sie nicht mehr brauchten, lieber weggeschmissen, als es weiterzuschenken. Die haben nicht einmal gesehen, dass wir Kinder nichts zum Anziehen hatten, denen ist das gar nicht aufgefallen!“ sagt sie.

Blieb ein bisschen Zeit übrig, nahm sie Tanz- und Rhythmikunterricht bei einem Ballettmeister. Ihre eigene Welt half die schlimmsten Entbehrungen zu überstehen. Zu Ende ihrer Schulzeit schien sich ihr Traum zu erfüllen. Eine deutsche Akrobatikschule wurde auf das Talent aufmerksam und wollte sie zur Ausbildung mitnehmen. Die Mutter hatte andere Pläne: eine Fleischselcherlehre. Lucia fügte sich dem Schicksal. Trotzdem zog es sie zum fahrenden Volk, das noch fixe Stätten bespielte. Zirkus Renz und Hagenbeck im 2. Oder Ronacher im 1. Bezirk waren solche Orte, zu denen sie pilgerte wie unsereins auf die Donauinsel. Dort lernte sie die Welt der Artisten und Akrobaten kennen. Lucia war fasziniert vom Zusammengehörigkeitsgefühl. Sie wuchs in die Truppe hinein und bekam Soloauftritte in Varietes oder durfte bei anderen assistieren.

Bruder Hans arbeitete als Kellner und absolvierte sein Musikstudium. Die Familie war aus dem Gröbsten. Dunkelbraune Gewitterwolken brauten sich zusammen. Lucia kannte Josef, Filialleiter bei Julius Meinl, sieben Jahre, ehe beide heirateten. Die Mutter zog zu ihnen, und es gab Streit wegen Lucias circensischer Vorlieben.

Mittlerweile war Hitler einmarschiert. Josef wurde eingezogen und fiel an der Front. Lucias Zuflucht wurde immer mehr der Hagenbeck, wo es auch häufig Vorstellungen für Kriegsopfer und Versehrte auf Heimaturlaub gab. Niemals verschloss sie ihre Augen vor dem Leid. Auch heute noch verkauft sie Kriegsopferlose und ist schockiert über Reaktionen. Besonders als sie vor Kinos des „Soldaten James Ryan“ ihre Blindenlose feilbot, musste sie von Besuchern hören, daß sich diese ja ohnehin schon eine Kinokarte gekauft und damit ihren Obolus für die Kriegsopfer bereits entrichtet hätten!

Lucia wandte sich dem kranken Sattlermeister Rudolf zu. Sie holte ihn zu sich und brachte dann später unter unsäglichen Bedingungen im Luftschutzkeller „einen Traumsohn“ zur Welt. Am Tag der Taufe erlebte Wien einen schlimmen Bombenangriff. Das Kindchen bekam eine schwere Infektion und starb drei Monate später. Rudolf wurde nach Dresden beordert und fiel in einem Phosphorangriff.

Die Nazis luden Bruder Hans wegen einer Gefälligkeit, die er einem jüdischen Schulfreund erwiesen hatte, in das Hauptquartier am Morzinplatz vor und verhörten ihn. Zurück kam er mit einer Kopfverletzung und bekam eine Gehirnhautentzündung, wovon er sich nicht mehr erholte. Wenig später starb der geliebte Bruder unter unmenschlichen Schmerzen, ohne medikamentöse Linderung. Als der Arzt wieder Penicilin hatte, war es schon zu spät.

In der Zeit des Wiederaufbaus und der Trümmerweiber lernte sie Dick Westerguard kennen. Schwerverletzt aus Stalingrad zurückgekehrt, wollte er wieder als Kraftakrobat arbeiten. Lucia pflegte den „Kraftmeier“ wieder zu seinen früheren Kräften. Gemeinsam wurde etwas einstudiert. Seine ursprüngliche Partnerin war ihm abgesprungen, weil sie nach der Schußverletzung nicht mehr auf ihn setzen wollte. Es gab eine vielbejubelte Vorstellung zu Sylvester. Dick Westerguard, „der kräftige Untermann, gebaut wie ein junger Gott“ zog mit Lucia durch Europa. In der Schweiz gaben sich beide das Ja-Wort und lebten endlich glücklich und zufrieden….

Vor elf Jahren traten sie das letzte Mal gemeinsam mit ihrer Artistennummer auf. Damals war Dick rüstige 86. Mittlerweile hat Lucia sich ganz dem Saxophonspielen verschrieben und wird des öfteren von Szene-Lokalen um Auftritte gebeten.

Und bevor die Artistin mit Leib und Seele den beschwerlichen Anstieg zum fünften Stock ohne Lift in Angriff nimmt, stärkt sie sich im Café. Zu erzählen hat sie genug: Vor drei Jahren wurde sie auf der Rotenturmstraße von einem Radfahrer über den Haufen gefahren. Im Lorenz-Böhler bekam sie ein künstliches Hüftgelenk, und drei Wochen später brachte sie der Ärzt- und PflegerInnenschar ein Ständchen. Sechs Wochen nachher spielte sie im Theater am Auersperg: „Eine Nacht für einen Clown“. Vor Gericht bekam der Radfahrer Recht, übrigens.

Aber es gibt sogar noch Unangenehmeres. Vor geraumer Zeit schlichen sich Trickdiebe ein und stahlen ihren Notgroschen. Dennoch verliert sie nie den Mut. Für ihren grössten Lebenswunsch, den sie sich noch nicht erfüllen konnte: Ein eigenes Variete. Unterstützung erhielt sie von einem Regisseur, der ein Porträt über die lebende Legende anfertigen wollte, aber damit immer wieder bei den zuständigen Stellen abblitzte. [Jawoll – wir sind in Österreich!] Seine filmische Hommage sollte in der Manege, mit der Hauptperson Lucia Westerguard, spielen. Sie selbst möchte noch mal eine richtige Show aufziehen, Artisten akrobatisch durch die Luft wirbeln sehen. Ihre ureigenste Nummer müsste aber jemand anderer machen, aber so genau weiss man das bei Zirkusleuten ja nie…

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