Bier & Sonnenbrand? Nur für Reiche!tun & lassen

Gesundheits-Apps und Datenkörper – eine kleine Dystopie

Ein Bier zu viel? Lieber mit der U-Bahn gefahren? Einen Sonnenbrand riskiert? Die Versicherung wird’s verrechnen! Alban Knecht und Martin Schenk malen sich aus, wie sich das menschliche Verhalten direkt auf die Versicherungsleistung auswirken könnte – und umgekehrt. Das sind längst nicht nur dystopische Hirngespinste.

Foto: Magdalena Blaszczuk

Sie haben Platz genommen an einem kleinen gemütlichen Tisch in ihrem Lieblingsbeisl. Nina und Kurt gehen gerne hierher. Das Internet ist schwach in der hinteren Ecke beim Hofausgang. Das hat den Vorteil, dass die Krankenversicherung nicht checken kann, was sie essen und trinken. Nina bestellt ein Bier und auch gleich eines für Kurt mit. Ihre Smartphones legen sie vorsichtig neben sich. Alles bleibt ruhig. Bis das Bier serviert und der erste Schluck gemacht ist. Kurts Handy beginnt rot zu blinken und heftig zu vibrieren. Verdammt, das Netz geht heute auch hier hinten. Kurt schaut Nina an. Die zuckt mit den Achseln. Die App der Krankenversicherung hat das Bier erkannt. Das wird den Versicherungstarif im nächsten Monat für Kurt hinaufschnalzen lassen. Ungesundes – dazu zählt die App ein Glas Bier – wird bestraft.

Am Nachbartisch sitzen zwei Männer, die sich bereits das zweite Bier bestellen, ohne dass die Gesundheitskontrolle angeschlagen hätte. Kurt und Nina schauen sich vielsagend an. «Sind wahrscheinlich in anderer Einkommensklasse», sagt Nina. Kurt nickt. Personen mit höherem sozialem Status dürfen mehr trinken, weil der Algorithmus der Versicherung das sinkende Krankheitsrisiko bei steigendem Einkommen miteinberechnet. Der finanzielle Vorteil kommt den reicheren Nachbarn gleich mehrfach zugute.

Kurt und Nina haben genug für heute Abend. Sie lassen die vollen Gläser zurück, zahlen und machen sich auf zur U-Bahn. Sie ergattern die letzten freien Sitzplätze und starren müde ins Leere. Sie bemerken das kleine Werbeplakat ihnen gegenüber nicht, das mit der eingebauten Gesichtserkennung bereits einen schnellen Check veranlasst hat. Das Smartphone in Ninas Tasche beginnt auffordernd zu vibrieren. Sie holt es aus dem Mantel und liest die rot blinkende Nachricht: «Sie steigen jetzt aus und gehen die letzten Stationen zu Fuß. Ihre Gehbilanz ist unterdurchschnittlich. Mit gesundheitlichen Grüßen, Ihre Versicherung.» Nina wirft Kurt einen verzweifelten Blick zu: «Wir können uns höhere Tarife nicht mehr leisten. Ich steig aus.» Andere steigen erst ein.

 

Transparente Datenkörper

Schaut die Geschichte von Kurt und Nina wie eine erfundene Zukunftsvision aus? Der Versicherungskonzern Generali hat bereits heute Preisnachlässe angekündigt, wenn seine Kund_innen ihm die Körperdaten per App zusenden und so beweisen, dass sie etwas für die Gesundheit tun. Wer den günstigen Tarif bekommen möchte, muss der Versicherung regelmäßig Daten zu seinem Lebensstil und zum Zustand seines Körpers übermitteln. Sie wollen uns nicht nur an die Wäsche gehen, sondern auch unter die Haut. Die Gesundheitsapp stellt dabei eine Steigerung gegenüber Tarifen dar, bei denen das Fit-Sein durch regelmäßige Fitnesstests und die Teilnahme an Fitnessprogrammen honoriert wird, wie sie beispielsweise die SVA mit ihrem Gesundheitshunderter anbietet. Die App setzt noch eins drauf und geht weiter: Für das Versprechen von mehr Gesundheit sollen wir unseren Körper ausliefern. Mit diesem Versprechen kann geschickt der Widerstand gegen Techniken aufgeweicht werden, die in den Raum des Privaten und Intimen eindringen. Der Mensch, die Bürgerin, die Person wird in einen transparenten Datenkörper verwandelt, dessen Handeln in den Schaltzentralen der Versicherungsmathematiker_innen bestimmt wird: hohe Zuckerwerte, weil man Süßigkeiten gegessen hat? Semmel verdrückt statt Vollkornbrot? Zu viel Zeit vor dem Computer oder Fernseher verbracht? Zu lange draußen gewesen und sich einen Heuschnupfen oder einen Sonnenbrand geholt?

 

Elektronische Gesundheitsfessel

Die Vorstellungen, die wir heute davon haben, was gesund ist, werden überholt sein, wenn erst einmal die Versicherungen damit begonnen haben, all die erhobenen Daten über das Alltagsleben ihrer Versicherten auszuwerten. Mit der Chefin gestritten? Arbeitsplatz riskiert? Überflüssiger Beziehungsstress? All das könnte unsere Gesundheit gefährden. Aber sind die Krankenkassen nicht letztendlich auch an hohen und sicheren Einkommen ihrer Beitragszahler_innen interessiert? In die Sonne gegangen, statt sich um einen besser bezahlten Job zu kümmern?

Was heute noch wie Bonuszahlungen oder Nachlässe aussieht, wird sich ins Gegenteil verkehren. Wer sich zukünftig der Kontrolle verweigert, wird einem Generalverdacht ausgesetzt: Bist Du ein Dicker? Eine Herumsitzerin? Ein Fitness-Verweigerer? Keine Selbstoptimiererin? Die Versicherungen schaffen es so, immer mehr Risiken auf die Versicherten abzuwälzen und werden immer öfter behaupten, dass diese an ihren Krankheiten selber schuld sind. Damit entfernen sie sich von ihrer Ursprungsidee, die in der gemeinsamen Absicherung gegen Schäden besteht, die die Versicherten selbst nicht vorhersehen, meist nicht beeinflussen und erst recht nicht allein bezahlen können; um weniger Sorgen zu haben und im Notfall entschädigt zu werden – dafür zahlen die Leute ja in die Versicherungstöpfe ein. Doch wie werden wir uns fühlen, wenn jede Handlung von uns prinzipiell verdächtig ist? Wird uns dann die Gesundheits-App zur elektronischen Fußfessel?

 

Scheitern gehört zum Menschsein

Der Philosoph Konrad Paul Liessmann hält den Optimierungswahn, der den Menschen zu einem «perfekten, transhumanen Wesen» wandeln soll, «das reibungslos funktioniert und dem alles Menschliche fremd geworden ist», für den falschen Weg. Die Optimierung mache ja nicht Halt bei gesunder Lebensweise, sondern umfasse auch körperliche Eingriffe und die Einnahme von Neuro-Enhancern, die die geistige Leistungsfähigkeit steigern. Jedoch gehöre es zum Menschsein, sich seine Ziele selbst stecken zu können, und dabei auch scheitern zu dürfen.

Ein Blick auf die Verwaltung der Kindheit lässt manches erahnen. Die Lücke zwischen der Mutter-Kind-Pass- und der Schuleingangsuntersuchung ist nun durch den Bildungskompass geschlossen worden. Damit soll die soziale Entwicklung von Kindergartenkindern ab drei Jahren mit Hilfe von Tests festgestellt werden. Klingt gut – macht aber die Tür für zweifelhafte diagnostische Datensammlungen mittels weiterer Testbatterien auf. Bleiben diese Daten langfristig gespeichert und werden sie – zum Beispiel an die Schule – weitergegeben, stellt sich die Frage, wie fehlerhaft die diagnostischen Instrumente und ihre Ergebnisse sind und welche Normen sie konstruieren, denen die Kinder dann unterworfen werden.

Es sind also nicht nur die Versicherungen, sondern es ist auch der Staat, der mehr und mehr an den Daten, an der Kontrolle und den Entscheidungen seiner Bürger_innen interessiert ist. Wenn auch er Gesundheitsdaten nutzt, dann könnten diese Daten in die optimale Berufswahl eingehen, denn wieso sollte zum Beispiel die aktuell anlaufende Potentialanalyse der Schulabgänger_innen diese Daten nicht nutzen?

Ein Besuch von Kurt bei der Berufsberatung könnte dann so aussehen: «Bitte Arm freimachen zum Scannen des Datenchips unter Ihrer Haut. Danke. Ich sehe schon, Sie haben das Stressprofil von Stresstyp A3! Da müssen Sie Gärtner werden, das ist genau das Richtige für Sie.» Ob wir dann anfangen, uns nach dem Scheitern zu sehnen?