Das «neunerhaus»-Experimenttun & lassen

Ist die Vision von einer «anderen Obdachlosenhilfe» Wirklichkeit geworden?

Eine den Grünen nahestehende Bürger_inneninitiative hat vor nunmehr fünfzehn Jahren für eine neue, demokratische Form von Obdachlosenunterkünften protestiert. Niemand der Beteiligten hätte damals antizipieren können, dass dieser Protest sich schlussendlich zu einer handfesten, institutionalisierten und von der Stadt anerkannten Praxis der Solidarität mit den Ärmsten veredelte – zum «neunerhaus»-Experiment mit Häusern in der Hagenmüllergasse, in der Billrothstraße und in der Kudlichgasse und mit einer Zentrale Ecke Margaretenstraße/Gürtel.

Caritas, Samariterbund, Heilsarmee, Hilfswerk, Rotes Kreuz, Volkshilfe Wien – und wie sie alle heißen – sind Vereine im Rahmen der Wiener Wohnungslosenhilfe, die über den Fonds Soziales Wien (FSW) öffentliche Gelder der Stadt Wien erhalten, die jeweils den größten Teil der Ausgaben decken. Der Verein «neunerhaus», seit 2001 sozialer Unterkunftgeber, vermittelt nach außen den Eindruck, im Rahmen des Dachverbands der Wiener Sozialeinrichtungen treibende Kraft eines Humanisierungsprozesses zu sein. Markus Reiter, «neunerhaus»-Geschäftsführer, zählt im Augustin-Gespräch einige spezielle Qualitäten des Gesamtkonzeptes seines Vereins und der inzwischen drei Wiener «neunerhaus»-Quartiere auf, die seiner Meinung nach zum Standard der kommunal geförderten Wohnungslosenhilfe erhoben werden müssten.

 

Diese speziellen Qualitäten könnten auf drei Punkte fokussiert werden: Partizipation der Bewohner_innen, «Housing First»-Modell und das einzigartige System der niederschwelligen medizinischen Versorgung. Wie weit Anspruch und Realität auseinanderklaffen, ist natürlich von außen schwer zu beurteilen. Die von den Bewohner_innen des Hauses Billrothstraße selbst produzierte Hauszeitung oder die Kantine im Haus Kudlichgasse, in der Betroffene für Betroffene aufkochen, sind Hinweise auf die Mitgestaltungsmöglichkeiten, die im «neunerhaus»-Projekt angelegt sind. «Ich glaube, wir sind die einzige Wohnungsloseneinrichtung, die den Bewohnern zutraut, ihr Beisl selbst zu führen», meint Markus Reiter.

Gefühl der Freiheit


Das Niveau der Partizipation äußert sich im Charakter der Hausordnungen. Im Vergleich mit restriktiven Regelungen anderer Trägervereine, die den Schutz der Privatsphäre der Betroffenen krass vernachlässigen und manchmal nahezu strafvollzugsartige Normen setzen, vermitteln die «neunerhaus-Gesetze» ein Gefühl der Freiheit und Selbstermächtigung: Die «Schlüsselgewalt» liegt bei den Bewohner_innen (die allerdings auch Miete zahlen müssen), Partner_innenbesuche sind selbstverständlich, Alkohol ist nicht verboten, Hunde detto. «Die Zwangshausordnungen, die du erwähnst, sind Auswüchse eines obsolet gewordenen Menschenbildes», sagt Markus Reiter. «Man muss sich vorstellen, dass im ehemaligen Obdachlosenasyl Meldemannstraße erst kurz vor der Schließung Ende der 90er die Aufseher durch Sozialarbeiter_innen ersetzt wurden.»

 

Der Verein «neunerhaus» wurzelt sozusagen in einer anderen «Kultur». Die oben erwähnten Trägervereine der Wiener Wohnungslosenhilfe sind Erscheinungsformen großer Traditionen bzw. Bestandteile althergebrachter Institutionen (Kirche, SPÖ, ÖVP etc.), während das 1998 als Bürger_inneninitiative für Obdachlose entstandene «neunerhaus»-Projekt den autoritäts- und hierarchiekritischen Zeitgeist der neuen sozialen Bewegungen ausdrückt.

Hospitalisierung vermeiden


Die nächste Spezialität einer alternativen Obdachlosenhilfe, die Markus Reiter verallgemeinern will, signalisiere einen Paradigmenwechsel der sozialen Arbeit. Die Devise heißt: Zuerst Wohnen, dann alles andere – darum der Terminus «Housing First». Es handelt sich um einen neuen Ansatz in der sozialen Arbeit. Im Unterschied zu anderen Programmen müssen sich die Obdachlosen bei diesem Ansatz nicht durch verschiedene Ebenen der Unterbringungsformen für unabhängige und dauerhafte Wohnungen «qualifizieren», sondern können direkt in eine eigene Wohnung ziehen. Das Programm unterstützt die Selbständigkeit der Neo-Mieter_innen und basiert auf einer Betreuungsform, die die «gleiche Augenhöhe» zwischen Mieter_innen und Sozialarbeiter_innen anstrebt. «Housing First», als Zukunftsmodell betrachtet, steht und fällt mit der Wohnungspolitik der Regierung. Derzeit deckt der Gemeindebau 85 Prozent aller Abgänge aus der Wohnungslosenhilfe ab. Genossenschaftswohnungen sind für ehemalige Wohnungslose praktisch nicht leistbar. Im Gemeindebau ist laut MA 50 die Kapazitätsgrenze der Wohnungsvergabe über die soziale Schiene erreicht; insgesamt liegen zurzeit 30.000 Anmeldungen für Gemeindewohnungen vor. Die neue Bundesregierung steht für eine forcierte Privatisierungspolitik, die möglicherweise auch den kommunalen Wohnungssektor heimsuchen wird. Die Widrigkeiten, die sich dadurch für ein «Housing First»-Konzept ergeben, liegen nicht im Kompetenzbereich seiner Erfinder_innen.

 

Vorreiter ist das «neunerhaus» auf dem Feld der medizinischen Versorgung für Obdachlose. Das höchst innovative Engagement auf diesem Gebiet ist die Antwort auf Untersuchungen, wonach – auch wenn Rechtsansprüche auf ärztliche Behandlung existieren – Zugangsbarrieren für obdachlose Menschen bestehen. Das «Baumaterial» für diese Barrieren sind Angst- und Schamgefühle, Misstrauen und negative Erfahrungen der Betroffenen mit medizinischem Personal, das in vielen Fällen Respekt vermissen lässt. Zugangsbarriere ist weiters eine fehlende Krankenversicherung. Das betrifft zwar «nur» rund 10.000 österreichische Staatsbürger_innen, aber einen großen Teil der aus dem EU-«Osterweiterungsgebiet» kommenden Bedürftigen. Das Projekt «medizinische Versorgung« umfasst mittlerweile vier Subprojekte: das Team der Allgemeinmediziner_innen, die seit 2006 aufsuchende Versorgung gewährleisten; die seit 2009 bestehende, auf Ehrenamt basierende Zahnarztpraxis; die eben erst eröffnete «neunerhaus»-Arztpraxis und die vor drei Jahren gegründete tierärztliche Versorgungsstelle.

Mit oder ohne Krankenversicherung


Dass diese Gesundheitsschiene des «neunerhaus»-Programms sich teilweise außerhalb der vom FSW gesteuerten und finanzierten Wohnungslosenhilfe entwickelt, hat Vor- und Nachteile. Nachteil ist, dass die Finanzierung für die neue Arztpraxis nicht gesichert ist (weder Gebietskrankenkasse noch FSW fühlen sich dafür zuständig). Vorteil ist, dass «Nichtanspruchsberechtigte» (amtliche Bezeichnung für Notreisende aus osteuropäischen EU-Mitgliedsstaaten) aus der «neunerhaus»-Medizin nicht ausgeschlossen sind – anders als bei der FSW-Wohnungslosenhilfe, die nur in den Wintermonaten einen Teil ihres Notbettenangebots auch für Osteuropäer_innen zugänglich macht. Die Zahl der osteuropäischen Bettler_innen und Überlebenskünstler_innen ohne Krankenversicherung, die die Hilfe der «neunerhaus»-Ärzt_innen in Anspruch nehmen, wächst rapide, erzählt Markus Reiter. Meine Wertschätzung seines «Talents», private Unterstützer_innen und Sponsor_innen für die nicht vom FSW abgedeckten Teile der «neunerhaus»-Tätigkeit zu gewinnen, ist etwas getrübt, seit ich aufschnappte, dass ausgerechnet die Casinos Austria zu den Finanziers zählen – eine Chuzpe angesichts der Tatsache, dass Spielschulden eine häufige Ursache für den Verlust der eigenen Wohnung sind.

 

Im Augustin-Gespräch grenzt sich Markus Reiter sehr stark von der auf Notbetten orientierten Wohnungslosenhilfe und von nichtsubventionierten, ausschließlich auf nicht fachlich ausgebildete ehrenamtliche Tätigkeit fußenden Obdachlosenprojekte ab und nennt die Einrichtungen der Vinzenz-Gemeinschaft als Beispiel. Den Grad der «Unprofessionalität» solcher vogelfreien Projekte misst er an der Absenz von ausgebildeten Sozialarbeiter_innen. Für mich ist seine Sorge nach Qualitätssicherung nachvollziehbar, zumal ja auch der Augustin vom Bonus sozialarbeiterischer Professionalität lebt. Andrerseits stellt die Möglichkeit, Hilfsleistungen völlig unabhängig vom Reisepass oder der Herkunft der Bedürftigen anzubieten, eine Qualität der sozialen Arbeit dar, die das offizielle System der Wiener Wohnungslosenhilfe nicht gewährleistet; sozialer Aktivismus muss also, wenn er unwillig ist, die Ärmsten in «reguläre« und «irreguläre» aufzuspalten, sich unabhängig von einer Sozialbürokratie machen, die die obdachlosen Roma aus Rumänien oder der Slowakei als «Tourist_innen» einstuft, für die das soziale Ressort nicht zuständig sei.

 

Gegen das Argument Markus Reiters, die Sozialeinrichtungen wären überfordert, überließe man ihnen die Aufgabe, das «Osterweiterungs»-Dilemma zu lösen, ist kein Kraut gewachsen. «Die Wiener Wohnungslosenhilfe sollte eigentlich dazu da sein, a l l e n wohnungslosen Menschen in Wien zu helfen. Das heißt, sie sollte nicht in Anspruchsberechtigte und Nichtanspruchsberechtigte unterteilen. Das machen wir in Teilen der medizinischen Versorgung im neunerhaus bereits vor. Die nachhaltige Umsetzung dieses Anspruchs kann aber nur auf einer europäischen Ebene gelingen: Europa muss zum Thema machen, ob es weiter eine Eliten-Union bleibt oder endlich zur Sozial-Union wird», meint der Geschäftsführer des «neunerhauses». Und mir bleibt nach dem Gespräch einmal mehr die Erkenntnis, dass es auch in der Wohnungslosenhilfe zwei Varianten angewandter Gesellschaftskritik gibt: sich in bestehende staatliche oder kommunale Strukturen einzugliedern, um etwas zu erreichen, oder aus dem Bestehenden auszusteigen – mit demselben Ziel, der Bekämpfung der Armut.