Das Unzeitgemäße am Strafentun & lassen

Ein Kommentar zur Zivilisierung des Strafrechts

«Liebe Redaktion! Ich bin zwar pensionierter Bewährungshelfer und Konfliktregler, aber dennoch an Entwicklungen im Strafrecht nach wie vor interessiert. So verfolge ich speziell alternative Ansätze im Strafrecht und habe zu diesem Thema einen Artikel verfasst. Vielleicht ist dies auch von Interesse für den Augustin», schreibt unser Leser Werner Hofmann. Vom Justizsystem erwartet er sich eine Zivilisierung des Strafrechts; die Frage ist allerdings, ob dem Staat sich leerende Gefängnisse überhaupt ins Konzept passen (siehe dazu Ausgabe 406).

Foto: Robert Sommer

Fraglos ist das staatliche Gewaltmonopol Fundament moderner Rechtsstaatlichkeit.

Die Form seiner Handhabung, die Gerichtsverhandlung mit unabhängigem Richter, Staatsanwalt, Verteidiger, Angeklagtem und Zeugen ist eine Errungenschaft der Aufklärung und anerkannte Praxis rechtsstaatlicher Legitimität. Die beeindruckende Genese dieser Verfahrensentwicklung als Ausdruck liberaler geistiger Anstrengung, das Ungleichgewicht von Individuum und Staat zu balancieren, ist hinreichend dokumentiert (vgl. dazu Bessemer). Ihre feingliedrige Mechanik ist aber nur noch Spezialisten zugänglich und hat das Recht dem Ideal der Gerechtigkeit entfremdet.

Im Schatten dieses Leuchtturms der Moderne liegt nämlich unverändert das Trümmerfeld seines mittelalterlich-archaischen Erbes. Feudale Willkür, Rechtlosigkeit bzw. Recht des Stärkeren, Untertan-Sein, agonale Verhältnisse.  In der formalen Struktur der Gerichtsverhandlung bleibt diese Agonalität aufbewahrt, Archaisches wird so der Moderne implantiert.

Schon das Äußere – das talarbewehrte Brimborium der Inszenierung – gemahnt an goldene Zeiten von Obrigkeitsstaatlichkeit, wirkt für alle Beteiligten seltsam unwirklich und vermittelt symbolisch den Eintritt in einen sakralen Raum. Aber auch das Verfahren selbst, der Wahrheitssuche «geweiht», erinnert eher an die romantische Suche nach dem Gral, als Kampf edler Ritter in Szene gesetzt, die nur aufgrund der Stärke ihrer feingeschliffenen Klingen den Kampf um  Wahrheit gewinnen oder verlieren.

Ein zeitgemäßes erkenntnistheoretisches Verständnis ist darin nicht zu finden. Schon längst werden Wahrheiten nicht mehr gefunden, sondern je nach Interessenslage von Suchenden konstruiert.

Obrigkeitsstaatliche Gebärde der Strafdrohung

Mit der obrigkeitsstaatlichen Gebärde der Strafdrohung wird es dann aber wirklich archaisch. Die Wucht der Drohung totaler Exklusion aus bürgerlicher Eingemeindung bedeutet den sozialen Tod des Übeltäters und ist eine camouflierte Hinrichtung. Dazu passt nur noch die Rhetorik von der resozialisierenden Wirkung von Strafe, die allen psychologischen Befunden widerspricht und an die eigentlich kaum noch jemand glaubt.

Der Obrigkeitsstaat ist keine politische Option mehr, und dem sollte auch in der Justiz Rechnung getragen werden.

Das staatliche Gewaltmonopol soll nicht länger Recht sprechen, sondern Gerechtigkeit ermöglichen. Es soll einen  Rahmen für eine zivilrechtliche Beteiligung eröffnen und zivilrechtliche Räume im Strafrecht auftun. Der Staat, der die Bürger ihrer Konflikte enteignet, indem er sie verstaatlicht, soll diese wieder an die Bürger zurückgeben. Nur wenn dies – aus welchen Gründen immer – unmöglich ist, soll er als Ultima Ratio selbst Recht sprechen.

Zu groß sind die Kollateralschäden obrigkeitsstaatlicher Überreste in einer bürgerlichen Gesellschaft geworden.

Die Enteignung hat nämlich Folgen und unerwünschte Nebenwirkungen. Sie führt zu Entfremdung, zwischen Individuum und Staat, zwischen Täter und Opfer, zwischen Recht und Gerechtigkeit.

Das passiert einerseits durch das Paradigma der Stellvertreterschaft, die mit der Enteignung einhergeht. Täter wie auch Opfer weichen als Akteure in den Hintergrund, die wahre Aktion findet zwischen Staatsanwalt, Verteidiger und Richter statt. Die wirklich Betroffenen/Beteiligten finden sich im Szenarium einer Gerichtsverhandlung als Statisten wieder.

Damit wird vom menschlichen Antlitz des ursprünglichen Konflikts abstrahiert und dieses bis zur Unkenntlichkeit verstellt. Ob dies für die Aufrechterhaltung der Autorität staatlichen Handelns nach wie vor unerlässlich ist oder nicht eher den Partikularinteressen der «Stellvertreter» dient, ist zu hinterfragen.

 

Das Phänomen des «Scheinriesen»



Zusätzlich wird die Entfremdung durch die Öffentlichkeit der Auseinandersetzung befördert, die eine Eskalation der Beziehungsdynamik zwischen den Konfliktparteien anheizt und den Gesichtsverlust zu einer unausweichlichen Größe anwachsen lässt, wodurch nur noch Sieg oder Niederlage als Konfliktlösung möglich erscheint. Ein starkes Indiz für die kontraproduktive Wirkung von Öffentlichkeit ist etwa der Umstand, dass alle bedeutsamen Entscheidungen in Wirtschaftsstreitigkeiten im diskreten Dunkel eines zivilrechtlichen Ausgleichs gesucht werden.

Schließlich kulminiert Entfremdung in den Verzerrungen von Wahrnehmung und der Einstellung der Betroffenen infolge des Machtungleichgewichtes obrigkeitsstaatlicher Anmaßung. In der kriminologischen Theoriebildung fokussiert der Labeling-Ansatz auf die Stigmatisierung des Übeltäters und thematisiert in dessen Ausschließung die Verfestigung seiner Identität als Ausgeschlossenen. Dasselbe scheint auch für Opfer zu gelten. Ein Strafprozess befördert nicht nur eine Verfestigung der Rolle des Täters, sondern auch der des Opfers.

Machtungleichgewicht,  Stellvertreterschaft und Öffentlichkeit fördern eine Dämonisierung des Konflikts und bewirken das Phänomen des «Scheinriesen». Die Wahrnehmung von Gefühlen wird infantilisiert, diese werden als überwältigend und vernichtend erlebt, was einen erwachsenen Bezug  verunmöglicht und eine furchtlose Annäherung und Betrachtung des Geschehenen verhindert, die allein den Beweis für das Schwinden des Riesen erbringen könnte. Die regressive Interpretation von Täter und Opfer verführt alle Beteiligten in ein Kinderreich von Monsterwesen und behindert eine rationale Auseinandersetzung. Die Monsteraufbereitung durch die Medien dagegen wird gewinnträchtig befördert.

Furchtlosigkeit ist aber möglich, sofern der Rechtsstaat sie will. Dafür müsste die heilige Gralssuche nach Wahrheit einer pragmatischen Orientierung an objektivierbaren Tatbeständen weichen, wie etwa in Form der Feststellung des entstandenen Schadens.

Daran anknüpfend können «Wahrheitsangebote» der Beteiligten bewertet und der Versuch, sie zur Deckung zu bringen, unternommen werden. Gelingt das,  würde die Frage der Wiedergutmachung virulent werden, die Bereitschaft des Verursachers zu einer solchen erarbeitet und in weiterer Folge an die Wiederherstellung des sozialen Friedens gedacht werden können.

Statt Wahrheitssuche stünden die Interessen des Opfers im Zentrum gerichtlicher Bemühungen.

Statt Strafe und Verurteilung stünde Verantwortung und Wiedergutmachung.

Statt Exklusion stünde Inklusion, wenn sich der Beschuldigte seiner Verantwortung stellt.

Das könnte auf allen Ebenen rechtlicher Entscheidungsfindung geschehen, sei es die der Urteilsfindung oder die der bedingten Entlassung oder was auch immer.

Die Möglichkeit, einen Raum für eine zivilrechtliche Begegnung zur Verfügung zu stellen, in dem eine Konfliktbereinigung zwischen den (un)mittelbar Beteiligten unter bestimmten rechtlichen Vorgaben und der Anleitung ausgebildeter Vermittler versucht wird, besteht. Scheitert der Versuch, sei es  des Täters oder des Opfers wegen, ist der Weg offen zur öffentlichen Gerichtsverhandlung.

Dazu müsste der Rechtsstaat aber die Kollateralgewinne von Kriminalität für Stellvertreter und Öffentlichkeit in Frage zu stellen bereit sein.