Der lange Weg von Abhängigkeit zu Autonomietun & lassen

Feministische Beratung bei Trennung und Scheidung

Für Frauen, die von ökonomischen oder psychischen Abhängigkeiten von ihrem Partner betroffen sind, ist die Entscheidung zu einer Trennung besonders schwer, selbst wenn es für sie gesünder wäre. Von der Abhängigkeit zur Autonomie ist es ein langer Weg, gepflastert mit ambivalenten Gefühlen. «Er braucht mich doch» und «Ich kann ihn ändern» sind sehr gängige Beispiele davon. Aus der Praxis der feministischen Trennungsberatung erzählt Bettina Zehetner, wie man lernen kann, sich auf den langen Weg zur Autonomie zu machen.

Illustration: Toni Körte

Das Private ist politisch: Beratung stellt einen Übergangsraum zwischen Öffentlichkeit und Privatheit her und bietet, indem sie die gesellschaftlichen Verhältnisse einbezieht, die Möglichkeit, aus der Vereinzelung und der persönlichen Schuldzuschreibung zu entkommen.

Feministische Beratung unterstützt Ratsuchende dabei, ihr Leben selbstbestimmt und eigenverantwortlich zu gestalten. Eine feministische Beraterin steht auf der Seite der Ratsuchenden. Sie berücksichtigt, was es heißt, als Frau in dieser Gesellschaft zu leben. Das ist notwendig, da sich Frauen aufgrund gesellschaftlicher Rahmenbedingungen wie Lohnungleichheit, unbezahlter Versorgungsarbeit, gläserner Decke etc. häufig in der ökonomisch schwächeren Position befinden.

Vom stellvertretenden Leben

In Beziehungen, die nach dem Mutter-Sohn-Modell gelebt werden, «muttern» die Frauen, die Männer lassen (sich und andere ver)sorgen. Hier zeigt sich oft die Ambivalenz zwischen narzisstischer Allmacht («Ich kann ihn ändern / glücklich machen / heilen.») und Ohnmachtsgefühlen («Ich bin ihm ausgeliefert. Er wird mich auch nach einer Trennung überallhin verfolgen.»). Wenn eigene Wünsche und Ziele unklar sind und kein Plan für sich abseits von «wir als Paar / wir als Familie» besteht, ist die Perspektive beständig auf den anderen gerichtet («Aber mein Mann sagt…», «Aber er will / will nicht…»). Wenn Gebrauchtwerden als höchste Sinnstiftung dient, wird sorgen, kümmern, retten zum selbstgewählten Auftrag – Depressionen, Alkoholismus, Drogen, Spielsucht, Gewalt, schlimme Kindheit -, alles eignet sich zur Entwicklung von Co-Abhängigkeit. Das Projekt «Ich ändere meinen Mann» kann zur Lebensaufgabe werden im Sinne von lebenslänglicher Selbst-Aufgabe. Alibisätze wie «Er braucht mich ja!», «Er kann ohne mich nicht leben!» benützen Frauen zur Rechtfertigung, um in einer oft (selbst-)zerstörerischen Beziehung zu bleiben, um sich nicht klarmachen zu müssen: Ich schaffe es (noch) nicht zu gehen. Die Beratung regt einen Erkenntnisprozess an mit dem Ziel, am eigenen Leben anzusetzen und das eigene Potenzial zu verwirklichen, anstatt stellvertretend zu leben.

Viele Frauen mit hohem Leidensdruck kommen auch mit der Bereitschaft, sich «freizukaufen» in die Beratung («Ich will einfach nur meine Ruhe») und zeigen sich bereit, allen Forderungen des Mannes zuzustimmen bzw. auf alle Ansprüche (z. B. Unterhalt) zu verzichten, «nur damit es endlich vorbei ist». Hier ist es existenziell notwendig, die langfristig wirksamen Konsequenzen einer solchen Vereinbarung bewusst zu machen und trotz der Erschöpfung das Durchhalte- und Konfrontationsvermögen für den Aushandlungsprozess um gute Bedingungen zu stärken. Die Beratung soll Mut zur Konfrontation und zur Konfliktaustragung machen, Mut, nein zu sagen und übergriffigem Verhalten Grenzen zu setzen mit dem Ziel, sich Neues zuzutrauen und Eigenständigkeit zu entwickeln.

Du darfst dich wehren – eine Fallgeschichte

Anna Blume, 38, Pädagogin, kommt zur Beratung, um sich Unterstützung bei der Trennung von ihrem gewalttätigen Lebensgefährten zu holen. Der Anlass, gerade jetzt eine Beratung in Anspruch zu nehmen, ist noch sichtbar: Würgemale am Hals und ein Hämatom am Kinn. «Ich weiß, dass mich diese Beziehung krank macht. Ich will mich trennen, aber ich schaff’s einfach nicht.» Sie wirkt gehetzt und angespannt. Hinter der Fassade des selbstsicheren Auftretens werden tiefe Verletztheit und Erschöpfung spürbar. Mehrmals weist Anna darauf hin, dass sie selbst im Sozialbereich tätig ist und deshalb um die Dynamik von Gewaltbeziehungen weiß: «Ich hab das ja alles in der Ausbildung gelernt – aber dieses Wissen hilft mir nicht, meine Gefühle in den Griff zu kriegen.» Was Anna in der Beziehung hält, ist die Sehnsucht nach Geborgenheit und ihre große Angst vor Einsamkeit. Sie präsentiert sich sehr reflektiert und geißelt sich mit Selbstvorwürfen: «Wie kann ich mir das antun lassen? Ich bin doch eine emanzipierte Frau, finanziell unabhängig, kann mich in meinem Job gut durchsetzen.» Die Spannung zwischen ihrer öffentlichen selbstbewussten und erfolgreichen Seite und ihrer emotionalen Bedürftigkeit im privaten Bereich macht ihr schwer zu schaffen. «Bei meinem Freund werde ich zum kleinen Mädchen – und ich schäme mich so dafür.»

Die Ausgangssituation zwischen Anna und ihrem Lebensgefährten ist eine nicht-traditionelle Machtkonstellation: Anna verfügt aufgrund ihrer besseren Ausbildung über ein deutlich höheres Einkommen als ihr Partner. Dieser arbeitet aufgrund depressiver Episoden nur sporadisch und lässt sich weitgehend von ihr versorgen. Anna macht ihren Partner zu ihrem «Projekt», bemuttert ihn, will ihm das bieten, was sie selbst vermisst hat: Geborgenheit und Sich-aufgehoben-Fühlen, will ihn durch ihre Liebe und Fürsorge von seinen Depressionen befreien. Anna versucht ihr Bedürfnis nach harmonischer Einheit mit einem Partner zu erfüllen, der ihr gerade das nicht geben kann, den sie aber dahingehend verändern will. Der andere wird für sie zum Beschäftigungsprogramm, zum Rettungsprojekt und zum Ersatz für eigenes Leben. «Ich kann nicht allein sein, Alleinsein macht mir schreckliche Angst.»

«Er hat mir gesagt: Ich bin deine Familie.» Dieser Satz hat für sie extrem starke Verführungskraft – trotz der Erfahrung des Beschimpft- und Verletztwerdens. Anna leidet an ihrem inneren Idealbild von Familie und Partnerschaft. Die überhöhten, mit dem tonnenschweren Gewicht der Perfektion erdrückenden Ansprüche an sich selbst und den anderen, die Einheit und Harmonie der Beziehung, können nur an der Realität zerbrechen, Enttäuschung und Scheitern bewirken. Anna fühlt sich taub und abgestumpft. Aufgrund der Scham über das Zulassen der Beschimpfungen und Demütigungen zieht sie sich von ihrem Freundeskreis zurück. Ihre beste Freundin, der sie als Einziger von der Gewalt in ihrer Beziehung erzählt, hält dieses Wissen nicht mehr aus: «Erzähl mir erst wieder etwas, wenn du dich getrennt hast.» Diese Enttäuschung erhöht den Leidensdruck zusätzlich.

An einem besonders schlimmen Abend holt die Nachbarin die Polizei, und diese weist den Lebensgefährten aus Annas Wohnung. «Ich habe mich gegen den Angriff meines Lebensgefährten gewehrt und deswegen große Schuldgefühle.» Ihre Frage: «Darf ich mich wehren?» berührt ihre stark angstbesetzten eigenen Aggressionen. Sie erlebte als Kind die Wutausbrüche ihres cholerischen Vaters als extrem destruktiv und beschreibt ihre emotionale Reaktion als «eine Art Erstarrungsreflex, unfähig, dem Gewitter etwas entgegenzusetzen». In einer solchen Situation des Angegriffenwerdens ist sie ausschließlich bemüht, den Angreifer zu beruhigen, anstatt sich selbst wahrzunehmen und den eigenen Zorn zum Ausdruck zu bringen. Um den Preis des eigenen Selbstwerts und der Gesundheit erträgt sie Demütigungen und Angriffe, nur um die Nähe der Beziehung nicht zu gefährden.

Sie kennt ihre Rechte im Rahmen des Gewaltschutzgesetzes, kann diese jedoch noch nicht für sich in Anspruch nehmen. Sie übernimmt die Verantwortung für die Tat ihres Partners sowie für sein ganzes Leben («Wegweisung? Ich will ihm doch nicht schaden. Wo soll er denn wohnen? Er schafft’s nicht ohne mich.»). Als er droht, sich etwas anzutun und zum wiederholten Male verspricht, sich zu ändern, nimmt sie ihn wieder in ihrer Wohnung auf, schämt sich jedoch für ihren Rückzieher. Nach zwei Wochen Ruhe schlägt er sie im Streit wieder. Langsam beginnt sie, neben ihrer Trauer auch ihre Wut zu spüren, die sie nach wie vor als sehr bedrohlich erlebt. Im dritten Anlauf schafft Anna die räumliche Trennung und übernimmt Verantwortung für ihr Leben, nicht mehr für seins. In einem schmerzhaften Prozess gelingt es ihr, die Unrealisierbarkeit ihrer «Realitäts-Killer-Ideale», wie sie sie nennt, anzuerkennen und diese in weniger überfordernde, lebbare Ziele zu verwandeln. Als Beraterin trage ich ihre Ent-Täuschung mit, halte für sie das langfristig befreiende Potenzial dieser schmerzhaften Erfahrung präsent und unterstütze ihr Sich-wieder-Öffnen für neue Beziehungen, die Entwicklung eines nicht mehr blinden, sondern erfahrungsbasierten Vertrauens als Grundlage neuer Kompetenzen der Beziehungsgestaltung.

Bettina Zehetner bietet im Verein «Frauen beraten Frauen» Beratung bei Trennung und Scheidung, Gewalt im sozialen Nahraum sowie beruflicher (Neu-)Orientierung an. Ebenso anonyme und kostenlose Onlineberatung auf www.frauenberatenfrauen.at