Die «Bettelmafia» als Phantomtun & lassen

Die Gesellschaft muss mit den Notreisenden leben lernen

Gerald Tatzgern, Leiter der Zentralstelle zur Bekämpfung der «Schlepperkriminalität» im Innenministerium, ist vermutlich nicht der Erfinder des Begriffs «Bettlermafia», er ist aber sicher der umtriebigste Bekämpfer derselben. «Bettelei ist eine Form der Ausbeutung der Arbeitskraft durch Menschenhandel. Geben Sie nichts, weil Sie nie sicher sein können, ob das wirklich den bettelnden Personen zugute kommt» («Die Presse», 29. 10. 2011). Dass der oberste Bettelzuständige der Polizei seine Beamt_innen auf die Bekämpfung eines Phantoms einschwört, zeigt eine aktuelle Studie über «Notreisende» (Heinz Schoibl, Salzburg, Juni 2013).

Menschen aus der Mitte der Gesellschaft, die eigentlich gegen ihre Entmündigung aufschreien müssten, nehmen unwidersprochen hin, dass ihre individuelle Großzügigkeit gegenüber bettelnden Personen in die Nähe einer kriminellen Handlung gerückt wird. Dass die Imagination einer «Bettelmafia» kollektive Verhaltensänderungen wie die massenweise Auflösung von Mitgefühl- und Mitleid-Fähigkeit bewirkt hat, ist vielleicht der größte Erfolg von Tatzgerns unermüdlicher Öffentlichkeitsarbeit. Erfolge in Form von Aushebungen mafioser Bettler_innenringe kann er bislang nicht vorweisen.

Das hat einen guten Grund, meint Heinz Schoibl. Die Ergebnisse seiner Erhebung zu Notreisen und Bettelmigration aus Graz, Wien, Lausanne und Salzburg widerlegen die sehr verbreiteten Mythen und Vorurteile über Bettler_innen, vor allem widerlegen sie die Vorstellung, eine mafiose Struktur agiere im Hintergrund und verleibe sich sämtliche Geldspenden ein; in diesem Bild stellen die Bettler_innen die Sklaven von skrupellosen Exemplaren ihrer eigenen Ethnie dar. Für diese Struktur konnte die Polizeiführung bis dato keine empirischen Belege vorlegen.

Der öffentlich verbreitete Generalverdacht, wonach sich hinter Bettler_innen jeweils kriminelle Organisationen verbergen, begründet aber die weitgehende Zurückhaltung der öffentlichen Hand, mit sozial- und gesundheitspolitischen Maßnahmen auf die problematische Lebens- und Bedarfslage von Notreisenden zu reagieren. Zitat aus der Studie:

«Für den Verdacht, dass mit der Strategie des Bettelns ein Vermögen gemacht werden könnte, das nach systematischer Abschöpfung bei letztlich unbekannten Dunkel- und Hintermännern landet, ergeben sich keinerlei Bestätigungen. Im Gegenteil: Mit einem Tageserlös von kaum mehr als € 10,- ergeben sich ganz einfach keine ausreichenden Anreize für die Bildung einer kriminellen Vereinigung.

Die Vorstellung, die Notreisenden würden sich «nur» deshalb auf ihren Österreich-Trip machen, um hier von den Angeboten sozialstaatlicher Transfers und professioneller sozialer Dienste zu partizipieren, es sich also in der sozialen Hängematte und auf «unsere» Kosten gut gehen zu lassen, erweist sich vor dem Hintergrund einer weitgehenden Ausgrenzung der Notreisenden von Sozialeinrichtungen bzw. vom Bezug von finanziellen Leistungen als haltlos. Lediglich in den Wintermonaten werden von der öffentlichen Hand Notquartiere bereitgestellt und einige wenige Hilfestellungen (Hygiene und Verpflegung) gewährleistet. Eine darüber hinausgehende Inanspruchnahme von sozialen Leistungen konnte im Rahmen dieser Erhebung nicht dokumentiert werden.» (Siehe auch unseren Beitrag «Winter is coming» auf Seite 12)

Die auch strafrechtlich relevante Feststellung, wonach organisierte Bettelreisen letztlich eine Form von Menschenhandel darstellen würden, denen eine mafiaähnliche Organisationsstruktur zugrunde liegt, konnte in keinem einzigen Fall verifiziert werden, betont der Salzburger Sozialwissenschaftler.

Stattdessen ergaben sich aus den Interviews und Beobachtungen hinreichende Belege für eine existenzbedrohende Marginalisierung – in den Herkunftsregionen, aber auch am Zielort der Notreisen. Tätigkeiten wie Betteln, prekäre Gelegenheitsarbeit sowie Straßenmusik stellen eine tagesfüllende und körperlich, physisch sowie gesundheitlich belastende Arbeit unter widrigsten Rahmenbedingungen dar.

Oft nur eine Wurstsemmel am Tag

Die Schoibl-Studie dokumentiert den Alltag der Armutspendler_innen aus dem Osten, der in den Berichten der Massenmedien über das «Bettlerunwesen» völlig ausgespart bleibt. Der Tagesablauf der meisten Befragten besteht letztlich aus einem prekären Zyklus und ist charakterisiert durch frühes Aufstehen, stundenlange Verrichtung der Kerntätigkeiten von Betteln bis Musizieren, karge Verköstigung (oft nicht mehr als eine Wurstsemmel am Tag) und abendliche Erschöpfung und Übernachtung unter widrigsten Rahmenbedingungen, um dann am nächsten Tag wieder von vorne zu beginnen. Das (Über-)Leben auf der Straße, die Übernachtung in einem Hauseingang oder zu viert im Pkw ist durch einen völligen Mangel an Privatsphäre, durch fehlenden Zugang zu einer Infrastruktur für Hygiene und Körperpflege sowie – last but not least – durch den völligen Mangel von Voraussetzungen zur Wahrung der geistigen und körperlichen Gesundheit gekennzeichnet.

Nicht groß angelegte, in Österreich operierende Organisationen mit dem Ziel der finanziellen Abschöpfung verarmter Personen stehen hinter den Bettelnden, sagt Heinz Schoibl, sondern Formen der Organisation und Kooperation, gegen die sich nichts Negatives sagen lässt. Die Befragung der Betroffenen habe überwiegend familiär angelegte Strukturen des Zusammenhaltens und Aufeinander-Schauens offen gelegt.

Der Strom der Notreisenden wird nicht abreißen

Von Oberpolizisten wie Tatzgern instruiert, klagen die Boulevardblätter den «Sozialtourismus» an – eine doppelt manipulierende Metapher. Erstens suggeriert sie, dass die Betroffenen Zugang zu den österreichischen Sozialtöpfen hätten, zweitens schwingt die Vorstellung mit, den Nottourist_innen stünden alternative Überlebensformen offen.

Letztes Zitat aus der Studie von Heinz Schoibl: «Notreisende machen sich auf den Weg in die Wohlstandsregionen im nordwestlichen Europa, weil sie letztlich keine andere Alternative haben. Um in der Herkunftsregion überleben zu können, müssen Mitglieder der örtlichen Gemeinschaften (häufig wechseln sie sich dabei ab, sodass nach Möglichkeit immer ein Mitglied des Familienverbands mit der Akquisition von Überlebensmitteln befasst ist) die Mühe der Notreise auf sich nehmen, um sicherzustellen, dass ihre Familien in der Heimat überleben können.» Es gibt keinerlei ökonomische Anzeichen dafür, dass das Armutsgefälle zwischen Österreich und Rumänien geringer wird. Daraus folgt: Der Strom von Notreisenden wird über die nähere Zukunft hinaus nicht abreißen.

Schoibl: «Die einzige Alternative zu den Notreisen, die insbesondere jene trifft, die aus unterschiedlichen Gründen nicht in der Lage sind, sich an einer Notreise zu beteiligen bzw. sich auf eine zu begeben, besteht letztlich darin, zuzusehen und abzuwarten, wie die tägliche Not noch größer wird.» Eines der vielen Betroffenen-Statements aus der Studie: «Es gibt nichts, wovon wir leben könnten, hier werden uns ein bis zwei Euros gegeben, daheim aber gar nichts.»

Info:

Heinz Schoibl, Studie über Notreisende und Bettel-Migrant_innen, Juni 2013

Die ganze Studie im Internet:

www.helixaustria.com/uploads/media/Not-Reisen_und_Bettel-Migration_Bericht_131001.pdf