Die Geschichte deines Überlebenstun & lassen

Briefe an den Vater

Hallo Vater!

Wie geht es dir? Ich hoffe, gut. Ich bin immer noch in Wien. Gestern war ich im Café Leopold. Ich stand an der Bar. Eine Touristengruppe von fünfzehn Leuten stürmte herein. Das Lokal war voll. Nachdem die Touristen weggegangen waren, schrie eine Frau durchs ganze Lokal; „Wie geht es dem Vater?“ Ich verstand sie nicht. Sie schrie noch lauter: „Wie geht’s dem Vater?“ Darauf antwortete ich: „Gut.“ Sie hatte unsere Geschichte in einer Zeitschrift gelesen. Mir ging es in diesem Moment nicht so gut, dass ich mich drauf gefreut hätte.Als Kind, während du in der Fremde warst, bin ich immer bei meiner Großmutter gewesen. Ich habe für sie des Öfteren die Ziegen und Schafe auf die Berge zum Weiden geführt. Dafür habe ich von ihr reichlich Butter aufs Brot geschmiert bekommen, Yoghurt und Ayran habe ich auch gekriegt. Was du aber von ihr nicht bekamst, ist die Geschichte deines Überlebens. Sie erzählte ihre und deine Geschichte nicht nur mir, sondern auch vielen anderen. Du warst damals, 1937, etwa fünf Jahre alt und mein Onkel um die sieben Jahre. Es war an einem Sommertag, erzählte sie mir. Die Soldaten sind ins Dorf gekommen. Die Leute hat man auch von den Feldern geholt. Unter dem Vorwand, dass der Kommandant für die Menschen des Dorfes eine Rede halten werde. Die meisten konnten sowieso nicht türkisch sprechen. Aber trotzdem will der Kommandant eine Rede für die Menschen halten. Manche laufen weg. Sie verstecken sich vor den Soldaten.

Mein Großvater, also dein Vater, kommt auch mit den Soldaten zum Dorfplatz. Er denkt sich nichts dabei, weil er dem türkischen Militär sowieso drei Jahre gedient hat. Mit einigen Fragen im Kopf, aber nicht an Schlimmeres denkend, marschieren die Leute mit.

Als sie außerhalb des Dorfes sind, machen sie sich Sorgen um ihre Tiere, die zum Weiden auf den Bergen blieben. Weil um die Mittagszeit die Tiere gemolken werden müssen. Die Menschen werden außerhalb des Dorfes auf einem Platz zusammengepfercht. Man sieht, dass man auch von den Nachbardörfern die Bauern hierher gebracht hat. Die Soldaten fangen an, die Männer von den Frauen und den Kindern zu trennen. Die Menschen fangen an, nervös zu werden. Die Männer werden weit weg von den Frauen irgendwohin gebracht. Unter den Soldaten fangen manche zum Weinen an.

Das Maschinengewehr ist auf dem Dreibeinstativ postiert. Manche der weinenden Soldaten sagen den Frauen: Wenn geschossen wird, sollen sie sich auf den Boden schmeißen. Das tun die Frauen auch. Meine Großmutter hält ihre beiden Söhne an den Händen. Sie sagt ihnen in ihrer Muttersprache: „Egal, was passiert, ihr dürft nicht schreien, nicht sprechen.“ Das hast du dir mit deinen fünf Jahren sehr gut gemerkt. Die Frauen werfen sich zwar auf euch, aber das nützt euch auch nichts. Nachdem man alle niedergemetzelt hat, haben die Soldaten angefangen, mit den Bajonetten auf die Frauen und Kinder zu stechen. Es geht alles sehr schnell. Meine Großmutter wirft sich auf dich und auf meinen Onkel. Ihr beide seid sehr leise. Du und mein Onkel gebt von euch keinen Ton ab. Es wird dunkel. Die Soldaten haben ihr Lager woanders aufgeschlagen. Meine Großmutter wacht durch die Schmerzensschreie der anderen auf.

Sie sieht dich und meinen Onkel bei ihr sitzend. Sie versucht Luft zu holen. Aber es gelingt ihr nicht. Sie greift ihren Körper an, dort, wo die Lunge ist. An zwei Stellen hat sie Bajonettstiche. Sie greift nach ihrem Kopftuch. Stopft die Bajonettstiche mit dem Tuch zu. Nur schwer kann sie atmen. Sie nimmt euch mit und verschwindet durch die Dunkelheit. Sie kennt ihre Heimat auch in der Nacht. Sie bringt euch unterhalb des Dorfes an den Fluss. Es sind auch viele andere dort. Zum Teil Verletzte, zum Teil Geflohene. Ihr esst einen Monat lang nur Weinblätter aus den von den Armeniern übrig gebliebenen Weingärten. Du bist heute noch sehr leise für mich. Ich bin genau so leise wie du. Genau so verzweifelt, wie du gewesen bist. Hierher nach Wien hast du mich gebracht. Mit dem Versprechen der Rosengärten. Aber gelandet bin ich in deiner Wirklichkeit. Nicht in den Palästen, vor denen du posiert hast, sondern in deinem Barackenzimmer. Hier habe ich mit einem fremden Dritten, mit dir und deinem Kollegen gewohnt. In diesem Zimmer hatte jeder von uns nur einen Hocker zum Sitzen, im Lichte der langen Neonröhren.

Bis bald,

Dein Sohn Mehmet