Die Geschichte des Johanntun & lassen

Siebzehn Pharmazeutika oder eine Portion menschlichen Respekt

Als «austherapiert» und «pflegebedürftig» galt der 55-jährige Johann H, unter schwerer Medikation in einem Pflegeheim untergebracht. Seit Jänner 2011 lebt der Mann wieder in seinem Haus.Andrea Eschig, Jahrgang 1965, begegnete Johann seine Geschichte wird mit seinem Einverständnis nacherzählt , als sie im Rahmen der Ausbildung zur Diplomierten Lebensberaterin ein Praktikum in einem niederösterreichischen Pflegeheim absolvierte. Von der zuständigen Psychologin bekam sie den Auftrag, mit Johann Spaziergänge zu unternehmen. Aus diesen Spaziergängen entwickelte sich Schritt für Schritt ein Projekt, das sie gemeinsam mit ihrer Kollegin Martina Wagner in jeweils über 600 Stunden «geistiger und körperlicher Höchstleistung» durchführte und unter dem Titel «Lebensfreude es ist nie zu spät» dokumentiert hat. Ein Motiv, diese Ausbildung zu machen, beschreibt Andrea im Gespräch so: «Um nicht mehr eine diese hilflosen Helfer zu sein.»

Die Diagnose des Johann H, lautete «paranoide Schizophrenie», die ärztliche Einschätzung: «Der ist ja super eingestellt» mit 17 (!!!) verschiedenen Medikamenten. Andrea sieht ihn «als ein bisschen langsamer als andere», was in der dörflichen Lebenswelt zu einer Sonderstellung und Ausgrenzung geführt haben mag. Die Spaziergänge mit Johann, den Andrea Eschig als in «einem sehr schlechten geistigen und körperlichen Zustand» wahrnimmt, gestalteten sich anfangs extrem schwierig und fordernd. Ständige Satzwiederholungen, Toben und Schreien ihres Gegenübers gingen der Praktikantin an die persönliche Substanz. Als sie einmal gar nicht mehr weiter weiß, singt sie worauf Johann aufhört zu schreien. Eine erste Verbindung zwischen den beiden entsteht. Eine Verbindung, die sich vertieft, als die beiden Frauen im Pflegeheim einen Workshop anbieten, den Johann H. mit anderen HeimbewohnerInnen besucht.

Als Johann im Rahmen dieses Workshops seine Lebensgeschichte aufschreibt, nennt er darin immer wieder den Wunsch, «zu Hause, in seinem Haus» zu leben. Das Interesse der beiden Lebensberaterinnen in spe war geweckt. Das Haus, von dem Johann schrieb, war jenes Haus, in dem der Mann bis zum Tod seiner Mutter mit dieser gelebt hatte. In Gesprächen mit der zuständigen jungen Psychologin, deren Unterstützung für die Wiederhinführung Johanns in ein selbstständiges Leben immens wichtig war, und seinem Sachwalter erwirken sie die Genehmigung, das Haus zu besichtigen.

Die Freude darüber weicht rasch dem Schock über den völlig desolaten Zustand des Hauses. Dennoch machen sich Andrea und Martina daran, das Haus herzurichten. Mit der Unterstützung von Johann und anderen HeimbewohnerInnen, denen sich damit eine Alternative zum Heimalltag bietet, finanziert und ermöglicht durch Eigenmittel von Johann H. sowie Geld-, Sach- und Arbeitsspenden.

Wieder leben lernen

Während das Haus wieder bewohnbar wird, geht es daran, Johann dafür fit zu machen, tatsächlich selbstständig darin zu leben. Ihn mit einem Mobiltelephon und dessen Bedienung vertraut zu machen, mit dem PKW hinter dem Bus herzufahren, der Johann vom Heim in sein Haus bringt, ein beinahe Zweistunden-«Ritt» durchs schöne Niederösterreich. Die Familie wieder zusammenzuführen ein Bruder wohnt im Ort, ebenso die Schwester. Mit Anfang des Jahres 2011 lebt Johann H. wieder in seinem Haus, erledigt die Dinge seines Alltags selbst und arbeitet wieder im eigenen Garten eine Tätigkeit, der er vor seiner Diagnose/Krankheit beruflich nachgegangen ist. Eine Krankenschwester besucht ihn einmal wöchentlich, zweimal die Woche nimmt er Termine bei einem psychosozialen Dienst wahr. Von «paranoider Schizophrenie» derzeit keine Anzeichen, die Medikation ist entscheidend reduziert.

Mit dem Besuch eines sonntäglichen Gottesdienstes wurde Johann wieder in die dörfliche Gemeinschaft eingeführt. «Da ham a paar scho bled gschaut.» Andrea Eschig, die Johann immer noch «ein bisschen betreut», hütet sich davor, Johanns Geschichte Modellcharakter zu geben. Sie verschweigt nicht die Rückschläge, die Erschöpfung bei diesem Prozess der vielen kleinen Schritte, nicht die glücklichen Fügungen und Umstände, nicht die Unterstützung, die Johann und ihr Projekt erfahren haben. Und sie verschweigt nicht den Zorn. Ein Zorn, der sich nicht in Rundumschlägen gegen inkompetentes, liebloses Pflegepersonal oder abgestumpfte ÄrztInnen Luft macht, sondern der feststellen muss, dass in vielen Pflegeheimen einfach viel zu wenig Personal, noch dazu kaum fachlich ausgebildetes, ohnehin bis zum Burnout an die Grenzen seiner Belastungsfähigkeit geht. Wo es oft schlicht einfacher und schneller ist, BewohnerInnen zu rasieren oder zu waschen, statt sie dabei zu unterstützen, sich diese Selbstständigkeit zu bewahren. Sie in weiterer Folge «zu Tode zu pflegen», weil der Blick für die möglichen Potentiale dieser Abgeschriebenen beim Aufrechterhalten der allernotwendigsten Abläufe verloren geht, verloren gehen muss.

Immerhin wird den PflegerInnen in jenem Heim, in dem Johann untergebracht war, seit einiger Zeit Supervision angeboten. Offensichtlich keine Selbstverständlichkeit in diesem reichen Land Österreich, in dem Menschen mit speziellen Bedürfnissen und die Menschen, die sich um sie kümmern, einfach keinen nennenswerten Stellenwert genießen. Von solch trüben Gedanken oder Schlussfolgerungen sind Andrea Eschig und Martina Wagner, die ihre Ausbildung mittlerweile abgeschlossen haben, allerdings weit entfernt nur zu gerne würden sie beweisen, dass die Geschichte des Johann H. kein Einzelfall bleiben muss.