Die Söhne der «Kriegshelden»tun & lassen

Kids aus der Brigittenau – und die Faszination des »Kalifates»

Von seinen Schützlingen ist noch keiner aus der Brigittenau ins syrische IS- «Kalifat» ausgereist, aber mit ausgeprägter Kriegsromantik von Kids muss sich der Sozialarbeiter Fabian Reicher sehr wohl auseinandersetzen. Reicher in einem Gespräch, das Kerstin Kellermann für den Augustin mit ihm führte: «Wenn wer nur auf die islamistische Ideologie steht, heißt es nicht automatisch, dass er in den Krieg zieht.»

Foto: Florian Fusco

Muss man sich die Wiener Brigittenau jetzt ähnlich wie die Banlieue von Marseille vorstellen?

Nein, die Brigittenau ist keine Wiener Banlieue. Im Bezirk leben – bei aller sozialer Durchmischung – viele ökonomisch benachteiligte Menschen, er ist aber vom öffentlichen Raum her vielfältig, liegt zentral und hat trotzdem viele Grünflächen. Wir arbeiten hier mit ungefähr 500 Jugendlichen. Diejenigen, die mit Ideologien à la «Islamischer Staat» sympathisieren, machen hiervon eine sehr geringe Anzahl aus. Wirklich Richtung Syrien ausgereist sind hauptsächlich Menschen zwischen zwanzig und dreißig Jahren. Trotzdem wird die IS-Faszination zum Jugendthema gemacht, und das ist falsch aus meiner Sicht. Wir machen großteils aufsuchende Streetwork im Bezirk. Mit unseren Indoorangeboten haben wir ein Setting geschaffen, in dem alles gesagt werden darf, ohne dass es eine Sanktion gibt. Die einzige Sanktion ist, dass wir mit ihnen darüber reden. In diesem Raum müssen Jugendliche keine Angst haben, Themen anzusprechen. Deswegen kommen auch viele aus anderen Bezirken zu uns. Wir arbeiten mit dem Prinzip der Anonymität, und in sehr vielen Fällen kenne ich nur einen Spitznamen. Aber es gibt natürlich eine Vielzahl von Migrations-Hintergründen, es ist so ziemlich alles dabei.



Die Kids sind ja zum Teil in Österreich geboren, aber die Eltern sind Flüchtlinge. Hast du den Eindruck, dass die Eltern mit ihren Kindern über ihre Kriegserfahrungen geredet haben?

Nein, das glaube ich nicht. In Österreich ist allgemein in diesem Zusammenhang viel versäumt worden, auch wenn es Angebote gibt. Um ein Trauma zu verarbeiten, brauche ich einen gewissen Status und Stabilität – so lange das nicht passiert ist, kann ich mich damit noch nicht beschäftigen. Daraus resultiert, dass in den meisten Familien extrem wenig besprochen worden ist. Und wenn ja, dann sicher nicht reflexiv. Ich weiß von einigen Jugendlichen, dass ihre Väter gekämpft haben und teilweise «Helden» gewesen seien. Dass sie ihre Väter als Kriegshelden bezeichnen, das wissen wir von allen Hintergründen, sei es UÇK oder andere. Wenn überhaupt, dann wurde der Krieg in den Familien nur auf diese Weise reflektiert. Bring einmal einen männlichen Burschen in der Pubertät dazu, dass er freiwillig einmal die Woche zum Psychologen geht. Das ist ein Ding der Unmöglichkeit (lacht). Wichtig wäre, dass Therapie vorher passiert – man weiß ja, woher die Leute kommen, und was die erlebt haben. So früh wie möglich. Jugendliche sind damit konfrontiert, was ihre Eltern erlebt haben, zum Beispiel bei Begleitungen zu Behörden oder zu Ämtern. Wenn die Mütter in psychologischer Behandlung sind, müsen in vielen Fällen die Kinder übersetzen. Und dann übersetz du einmal, wie deine Mama vergewaltigt wurde. Aber solche Erlebnisse haben sehr viele.



Wirkt bei diesen Jugendlichen, die für den «Islamischen Staat» schwärmen – ich nenne sie Kriegs-Romantiker – etwas Unverarbeitetes von den Eltern nach?

Ich glaube, dass die Faszination Krieg in sehr vielen männlichen Biografien drinnen ist. Zusätzlich zu Traumatisierungen oder Sekundärtraumatisisierungen. Ein Faktor ist, dass wir dank Internet und sozialen Medien auch Konflikte, die ganz weit weg sind, in unserem Wohnzimmer haben. Es gibt sogar Live-Streams von Kriegsgebieten. Propaganda kann ganz schnell verbreitet werden, und man kann sich den Krieg sehr schnell hereinholen. Es sind gerade sehr viele Kriege, Nigeria, Sudan, Uganda, Jemen, Libyen, Irak – es sind sehr viele Länder beteiligt. Viele Jugendliche identifizieren sich mit den Opfern und empfinden Ohnmacht. Sie suchen dann natürlich einen Feind und einen Schuldigen. Die Hauptthematik zum Syrien-Krieg bis vor einem Jahr war: Der Westen schaut zu. Assad vergewaltigt unsere Schwestern, tötet unsere Brüder, es passiert unfassbares Leid und keiner tut etwas. Es muss es doch irgendjemanden geben, der denen hilft. Man kann die Bilder jeden Tag sehen, nämlich unfassbare Grauslichkeiten, und keiner tut was. So arbeitet auch die Propaganda: «Den Muslimen geht es auf der ganzen Welt schlecht, darum brauchen sie einen eigenen Staat, deswegen komm zu uns, denn nur dort geht es den Muslimen gut. Euch geht es deswegen schlecht, weil ihr Muslime seid und der Westen Muslime hasst.» Kombiniert mit den Ausgrenzungserfahrungen, die die Jugendlichen bei uns erleben, die seit «Nine Eleven» verstärkt passieren.

Wie gehst du konkret vor, wenn einer zu dir kommt und sagt, er möchte jetzt gerne nach Syrien und sich dort engagieren?

Wenn ein Jugendlicher zu mir sagt, Fabian, ich will nach Syrien, dann ist das für mich so, als wenn er sagt, Fabian, ich will nicht mehr leben, ich will mich umbringen. Im Endeffekt ist es nämlich nichts anderes, es ist eine Form des Selbstmordes, wenn ich mich bewusst in ein Gebiet begebe, in dem die Wahrscheinlichkeit, dass ich sterbe, sehr hoch ist. Das ist so ähnlich wie wenn ich mit 180 Sachen auf der Autobahn als Geisterfahrer unterwegs bin. Eine Form des erweiterten Selbstmordes. Und damit nimmt man dem Thema die Faszination. Dann schaue ich, ob das jetzt wie sehr oft eine jugendadäquate Provokation ist …

Wie stellst du das fest?

Indem ich sage, bleib bitte da, ich will nicht, dass dir etwas passiert. Um den Jugendlichen zu zeigen, mir ist es nicht wurscht, wenn dir etwas passiert. Im übertragenen Sinn, wenn sich ein Jugendlicher umbringen will, dann schaut man, dass man ihm zeigt, dass man ihn wertschätzt, gerne hat, und dann kommt man meistens eh schnell drauf, was der Jugendliche mit der Aussage eigentlich ausdrücken wollte.



Und wenn du das Gefühl hast, das ist keine Provokation, sondern der ist auf Destruktion bzw. Selbstdestruktion aus?

Dann schaue ich natürlich, dass ich ihn davon abhalte. Wie? Sehr unterschiedlich. Ich schaue, welche Bedürfnisse dahinter stecken und wie die anders erfüllt werden können. Ein Jugendlicher wurde hingelockt mit der Vorstellung, er könne Kranke versorgen, sich um die Kinder kümmern usw. – und als sehr sozialer Mensch wollte er anderen Menschen helfen. Ich sagte dann, was müssen wir jetzt machen, dass du hier bleibst. Was gibt es denn für Möglichkeiten, wie du in Österreich Menschen helfen kannst. Jedenfalls arbeiteten wir dann gemeinsam den Plan aus, wie er Flüchtlingen Nachhilfe geben könnte.

Anstelle eines großen Friedenszentrums, das man mit den Kids besuchen könnte und das eure sozialarbeiterische Arbeit unterstützen könnte, steht in Wien sozusagen nur das Gegenteil davon zur Verfügung – das Kriegsmuseum im Arsenal, das vom Verteidigungsministerum geführt wird. Wie müsste so ein Zentrum aussehen, das deine Jugendlichen unterstützen könnte?

Ein Museum setzt schon einen großen Grad an Selbstreflexion voraus. Es müsste auf jeden Fall zum Osmanischen Reich nicht nur die Geschichte der Sieger geben, sondern auch die von einfachen Soldaten, Bauern, Arbeitern. Nicht nur die glorreichen Schlachten. Es kämpften damals Söldner auf beiden Seiten, wie jetzt in Syrien auch. Man müsste zeigen, wie Propaganda funktioniert. Die Generation kurz vor «Nine Eleven» hat den US-Drohnenkrieg als Rache wahrgenommen. Politische Aussagen, vor allem Kriegführen aus humanitären Gründen, sind klassische Lügen für die, deswegen ist der Begriff «Demokratie» für viele «verbrannt». Es macht mehr Sinn, über den Begriff «Gerechtigkeit» und «Wie wollen wir gemeinsam leben» zu reden. Eigentlich bräuchte man ein aktuelles Anti-Kriegsmuseum, in dem auch zeitgenössische Kriege in anderen Ländern behandelt werden.

Info:

Unser Gesprächspartner vertritt «Back Bone – mobile Jugendarbeit 20» – eine Einrichtung der offenen Wiener Kinder- und Jugendarbeit, die über Streetwork mit den Jugendlichen in Beziehung tritt. Ziel ist es, die Lebenssituation der Jugendlichen nachhaltig zu verbessern.