Die verlorene Generationtun & lassen

Syrische Flüchtlinge in der Türkei: Ein Drittel sind Kinder

Ein Betonportal mit Schiebetüren aus Stahl trennt Krieg von Frieden. Die Menschen, die durch das Portal kommen, mussten fast alles in Syrien zurücklassen. In Koffern und Taschen haben sie gepackt, was vom alten Leben übrigblieb. Doch das Drama der Flüchtlinge endet nicht unter der roten türkischen Flagge am Parkplatz hinter der Grenze.Der Grenzübergang Cilvegözü verbindet Syrien mit der türkischen Provinz Hatay. Die Provinz ist eine der kleinsten des Landes, mit etwa 1.5 Millionen Einwohnern aber relativ dicht besiedelt. Laut UNHCR leben zurzeit 133.000 registrierte Flüchtlinge in Hatay. 15.000 sind in Camps untergebracht, 118.000 wohnen außerhalb der überfüllten Zeltlager, die meisten in den Städten Antakya und Reyhanl?. Auch sie brauchen ein Dach über dem Kopf, suchen Arbeit, müssen medizinisch versorgt werden, wollen die Schule besuchen.

Von den rund 720.000 registrierten syrischen Flüchtlingen, die sich in der Türkei aufhalten, befinden sich etwa 248.000 im Schulalter. Die Kapazitäten der türkischen Schulen reichen nicht aus, um die große Zahl an zusätzlichen Schüler_innen aufzunehmen, von denen die meisten kein Türkisch sprechen. Mit Hilfe von Spendengeldern mieten daher syrische Lehrer_innen Gebäude, wo sie Unterricht nach syrischem Lehrplan anbieten. Einer von ihnen ist Ashraf Jamos, Direktor der Al-Nour-Schule am Rand der Provinzhauptstadt Antakya. Die Klassenzimmer sind auf zwei Geschosse eines blauen Neubaus aufgeteilt. Der Direktor hat seinen Schreibtisch in der Garage aufgestellt. Es gebe einen Spender, der die Miete bezahlt. Für alles andere muss die Schule selber aufkommen. «Das Schulgeld beträgt 25 Türkische Lira im Monat», sagt Jamos, umgerechnet 8 Euro. Kinderreiche Familien sehen sich oft vor die Entscheidung gestellt, welches Kind sie in die Schule schicken und welches zuhause bleibt, weiß er.

Ein Teil der 280 Schüler_innen wird am Vormittag, der andere am Nachmittag unterrichtet. «Es fehlt an Platz», sagt der Direktor. Daher gebe es auch keine getrennten Klassenzimmer. Da bei weitem nicht alle Flüchtlingskinder regelmäßig eine Schule besuchen, befürchtet Jamos, dass eine verlorene Generation heranwächst: «Aber wir Lehrer geben unser Bestes, um das zu verhindern.»

Kinder am Arbeitsstrich

Viele Kinder müssen zum Familieneinkommen beitragen anstatt in die Schule zu gehen. So lange sie keine Aufenthaltsgenehmigung haben, dürfen Syrer_innen in der Türkei nicht arbeiten. Doch als billige Arbeitskräfte sind sie am Bau, in Fabriken und in der Landwirtschaft gefragt, mit oder ohne Aufenthaltsgenehmigung. Für die Jobs werden die Flüchtlinge tageweise bezahlt. Ist die Arbeit getan, stehen sie wieder auf der Straße, so wie Hamadi. Sechs Stunden schon hockt er im Schatten der hoch geführten Stadtautobahn am Rand von Antakya. Lärm, Autoabgase, Staub. Seine schmutzigen Füße stecken in Sandalen, der Pullover ist ihm eine Nummer zu groß. Seit zehn Tagen hofft der 18-jährige Syrer hier einen Job zu finden. Doch die Konkurrenz am Arbeitsstrich ist groß. Viele der Jugendlichen sind noch im Schulalter. «Syrische Arbeitskraft ist billig», sagt Hamadi. Etwa zehn türkische Lira, drei Euro, bekommt er für einen Tag Arbeit am Bau. «Das ist harte Arbeit», fügt er hinzu. Autos rasen vorbei, der Schatten wandert, Hamadi wartet.

In Reyhanl?, einer Grenzstadt, 40 Kilometer von Antakya entfernt, hat Murhaf einen Job in einem Kebap-Restaurant gefunden. Sein blaues Arbeitshemd trägt er zwölf Stunden am Tag. Murhaf wischt Tische ab, rückt Stühle zurecht und serviert Teller voll gebratenem Fleisch. 15 Türkische Lira, fünf Euro, bekommt er dafür pro Tag. «Türken bekommen für die gleiche Arbeit mehr bezahlt», weiß der 27-Jährige. Aber er ist froh, überhaupt einen Job zu haben und nicht am Arbeitsstrich stehen zu müssen.

Vor sieben Monaten verließ Murhaf mit seiner Familie das zerbombte Aleppo. Heute lebt er gemeinsam mit seiner Frau und seinen Eltern in Reyhanl?. An eine eigene Wohnung sei vorerst nicht zu denken. Wegen der großen Nachfrage durch die Flüchtlinge seien die Mietpreise sehr hoch. Von seinem früheren Leben vermisst er am meisten sein Studium. Business Administration hat er studiert – ein Posten in der Verwaltung, vielleicht sogar in der Politik war sein Ziel. «Jetzt bin ich Minister fürs Putzen.» Er lächelt und räumt die Teller ab.

Kostenlose Medizin

Selbst wenn Flüchtlinge eine Arbeit haben, können sich die meisten von ihnen eine Behandlung im Krankenhaus oder teure Medikamente nicht leisten. In Reyhanl? gibt es zwei syrische Kliniken, in denen sie kostenlos behandelt werden: das Krankenhaus für Kriegsversehrte am Stadtrand und die Poliklinik im Zentrum der Stadt.

Die Syrerin Zahra AlBettar leitet seit 2012 die Dr. Naggar Poliklinik. Wenn sie spricht, spielen ihre Finger mit dem Kugelschreiber. «Viele schwangere Frauen leiden unter Mangelernährung», sagt die Gynäkologin. Die Vitamin-Präparate, die sie verschreibt, sind kostenlos. Auch bei der Familienplanung unterstützt sie ihre Patientinnen. Jede Frau, die möchte, erhält die Antibabypille.

200 bis 300 syrische Flüchtlinge kommen jeden Tag in die Klinik, wo sich sieben Fachärzt_innen um sie kümmern. Schwere Fälle überweisen sie ins türkische Krankenhaus. Auch dort werden die Flüchtlinge kostenlos behandelt. Die Klinik wird durch Spenden unterstützt. «Dennoch fehlt es uns an Medikamenten», sagt AlBettar.

Viele Patient_innen leiden unter posttraumatischen Störungen. Vor allem Kinder haben Angst vor Flugzeugen und Lärm. «Jeder von uns, der ein Bombardement in Aleppo, Homs oder woanders miterlebt hat, kennt das», sagt die Ärztin. Dann lässt sie den Kugelschreiber in der Tasche ihres Kittels verschwinden. Ihre Patientinnen warten.

Von Reyhanl? bis zum Grenzübergang Cilvegözü sind es acht Kilometer. Alnjras Ayad kommt mehrmals die Woche hierher. Der 43-jährige Syrer mit dem Dreitagesbart arbeitet für eine österreichische Hilfsorganisation. Da die Grenze für den Warenverkehr gesperrt ist, müssen die Hilfsgüter auf einen syrischen LKW umgeladen werden. Die Mehlsäcke, Decken und Medikamente sind für Flüchtlingslager in der Umgebung von Qatmah im Nordwesten Syriens bestimmt. Das Gebiet dort sei sicher, sagt er. Zurzeit steht es unter Kontrolle der Freien Syrischen Armee.

Ayad kommt aus Deir ez-Zor, einer Stadt im Osten Syriens. Dort besitzt er ein Stück Land mit Pfirsichbäumen am Ufer des Euphrat. 500 Kilometer sind es von der Grenze bis dorthin, dazwischen liegt der Krieg. Wenn alles vorbei ist, will er zurück nach Syrien. «Vor dem Krieg war ich Seifenhändler», sagt er. Das will er auch nach dem Krieg wieder sein.

Markus Schauta

Die Peinlichkeit namens Mikl-Leitner

Mit neun Millionen Vertriebenen hat der Bürgerkrieg in Syrien das größte aktuelle Flüchtlingsdrama der Welt verursacht. Seit dem Ausbruch des Konflikts vor drei Jahren flohen nach UN-Angaben mehr als 2,6 Millionen Syrer_innen ins Ausland; weitere 6,5 Millionen seien zu Vertriebenen im eigenen Land geworden. Die allermeisten der ins Ausland Geflohenen leben in Flüchtlingslagern der Nachbarstaaten. Nur 80.000 hat das reiche Europa aufgenommen. Insgesamt sind bereits mehr als 40 Prozent der Bevölkerung Syriens im offiziellen und informellen Flüchtlingsstatus. Menschenrechtsaktivist_innen nannten es einen schlechten Witz, als das Innenministerium im Vorjahr großartig ankündigte, 500 Flüchtlinge aus Syrien nach Österreich zu lassen. Kürzlich ist die Aufnahme von weiteren 500 zugesagt worden. Applaus für die Innenministerin Mikl-Leitner ist aus drei Gründen fehl am Platz: Erstens ist die erste 500er-Zusage noch nicht annähernd realisiert (weil die Latte zu hoch liegt: Österreich will u. a., dass die Flüchtlingen christlich sind und dass sie einen Österreich-Bezug nachweisen können). Zweitens: Das reiche Österreich lässt sich diese «großzügige» Aufnahmepolitik aus EU-Subventionstöpfen bezahlen, laut Angaben von Mikl-Leitner. Drittens sind tausende syrische Flüchtlinge seit Ausbruch der Kämpfe zurückgeschoben worden, vor allem Richtung Italien, weil sie den Kriterien der Innenministerin nicht entsprachen. Zum Vergleich: Ein Vertreter der schwedischen Einwanderungsbehörde hat kürzlich erklärt, das Land Schweden schicke niemanden, der aus Syrien kommt, zurück. In Schweden herrscht für die Flüchtlinge freie Ortswahl. Man schätzt, dass sich in dem skandinavischen Land mehr als 20.000 Flüchtlinge aus Syrien aufhalten.