Durst stillen ohne Coca-Colatun & lassen

«Entwicklungsexpert_innen» des Nordens bestimmen, was «Standard» ist

Die Zeiten, da das Helfen noch geholfen hat, seien vorbei, ist die These der deutschen Buchautorin Marianne Gronemeyer. In der Entwicklungshilfe werde die Perversion der Hilfsidee auf die Spitze getrieben. Wir setzen die Transkription des Vortrags fort, den die Ivan-Illich-Schülerin in Wien hielt. Der erste Teil erschien in Ausgabe Nr. 409.

Foto: Claudio di Capitani 

Wer sich über Entwicklungspolitik urteilsfähiger machen möchte, muss sich auseinandersetzen mit einer Macht, die unserer Aufmerksamkeit viel eher entgeht als die Macht der Superreichen, jener 62 Reichsten der Welt, die sich nach neuesten Auskünften die Hälfte des Weltvermögens teilen. Ich meine die Macht der durchaus gut beleumundeten Experten. Ivan Illich nennt diese Macht «entmündigend», ich nenne sie «diagnostisch». Expert_innen maßen sich an – es wird ihnen aber auch mit breiter Zustimmung zugestanden –, darüber zu befinden, was in einer Gesellschaft und über sie hinaus im Weltmaßstab als normal angesehen werden muss, was also Standard ist, wie man heute sagt, oder doch zumindest Mindeststandard: Bildungsstandard zum Beispiel, Gesundheitsstandard, Lebensstandard, Sicherheitsstandard, Bequemlichkeitsstandard.

Unter dem prüfenden Blick dieser schonungslosen Diagnose wird alles, was hinter dem verordneten Standard zurückbleibt, für entwicklungsbedürftig erklärt. Wer über kein Spülklosett verfügt, ist entwicklungsbedürftig, wer seine Kochwärme nicht aus der Steckdose bezieht, ebenso. Wer etwa glaubt, dass man ohne die Schule gebildet sein kann, ohne Versicherung im Kreis von Freunden sich hinreichend sicher fühlen kann, ohne den Supermarkt satt und ohne High-Tech-Medizin leidlich gesund sein kann, wer glaubt, dass man ohne das Automobil mobil, ohne Coca-Cola durstgestillt sein kann und ohne den Sterbeberater bereit sein zu sterben, der ist überfällig für Bekehrung; für die Bekehrung zum Konsumismus, jener neuen Glaubensrichtung, die Pasolini als den neuen Faschismus brandmarkte. Der Konsumismus ist die neue Form der Gleichschaltung, unter der alle kulturellen Differenzen lautlos verschwinden. Er ist Welteinheitskultur, die Perversion der Gleichheitsforderung.

Der Konsumismus ist totalitär

Die moderne Expertenmacht ist absolut unduldsam gegenüber jeder Lebensäußerung und jeder Lebensform, die sich nicht dem Konsum von industriell produzierten Waren und warenförmigen Dienstleistungen verdankt.

* Ehe nicht einer ein Konsument und ein Mehrfachklient geworden ist, angewiesen auf die Zufuhr der Versorgungsindustrie, angewiesen auf Serviceleistungen der Dienstleistungsindustrie, kann er nicht als hinreichend loyal gelten.

* Ehe nicht der letzte Erdenbürger zum belieferungsbedürftigen Mängelwesen wurde, zum drug addict, zum Junkie, der nach den Drogen der Versorgungsindustrie japst und jammert und mit jedem Schuss abhängiger wird, hilfloser, unfähiger, sich selbst zu erhalten;

* ehe nicht diese Abhängigkeit total ist;

* ehe nicht die Kunde von dem, was als normal zu gelten hat, in den letzten Winkel gedrungen ist;

* ehe nicht jeder und jede glaubt, dass sein/ihr Mensch-Sein, seine/ihre Humanitas, seine/ihre Vollständigkeit als menschliches Wesen auf Gedeih und Verderb an den Markenartikeln, die von der Industrie ausgespuckt werden, hängt;

* ehe sich nicht die Überzeugung durchgesetzt hat, dass der Apparat, der Maschinenkoloss alles menschliche Tun in den Schatten stellt;

* ehe nicht der letzte Bauer, die letzte Bäuerin sich als Nahrungsmittelproduzenten verstehen und der letzte Heiler Alternativmediziner geworden ist und sich als Untercharge der modernen Medizin begreift;

* ehe nicht der letzte Weise sich dem Bildungswesen als professioneller Pädagoge subordiniert hat;

* ehe nicht jeder Mann und jede Frau begriffen hat, dass wir unsere Häuser nicht mehr selber bauen müssen, unsere Nahrung nicht mehr anbauen, unsere Kinder nicht mehr erziehen müssen, uns um unseren kranken Nachbarn nicht mehr kümmern müssen, dass wir uns nicht mehr bewegen müssen, weil wir so komfortabel bewegt werden; dass wir nichts mehr lernen müssen außer der Bedienung des Computers, dass wir nicht einmal mehr ein Gewissen ausbilden müssen, weil das Gerät, das uns lenkt und steuert und sichert und vorgibt, unser Leben von der Mühsal zu befreien, so fabelhaft gewissenhaft ist, dass wir es nicht mehr sein müssen;

* ehe all dies nicht machtvoll durchgesetzt ist, kann die moderne Macht ihrer Mächtigkeit nicht sicher sein, und wenn das alles machtvoll durchgesetzt ist, zeigt sich, dass man es nicht bezahlen kann, als Individuum nicht und nicht als Gesellschaft.

Verstehen wir es richtig: Der Konsumismus ist totalitär. Niemand darf ihm entkommen. Verrückterweise nicht einmal die Habenichtse der Welt, die hoffnungslos abgehängt sind von der Möglichkeit, als Konsumenten ihr Auskommen zu finden, die niemals als zahlungskräftige Käufer das Geschäft beleben werden. Auch sie sollen sich am Standard messen, sollen in die Konkurrenz um die Weltofferten hineingezwungen werden, Lebensmühe darauf verwenden, sich Millimeter um Millimeter ächzend vorzuarbeiten in die schöne neue Konsumentenwelt, in der der Gelderwerb absoluten Vorrang genießt vor dem Broterwerb.

Alle müssen bedürftig werden. Warum das? Nun, nur wer bedürftig ist, ist beherrschbar. Moderne Macht, Machtgebaren, das auf der Höhe der Zeit ist, ist nicht tyrannisch oder diktatorisch. Sie fuchtelt nicht mit Gewalt herum. Moderne Macht ist elegant, von souveräner Unauffälligkeit. Sie wandert in die Bedürfnisse ein, so dass die Unterworfenen wollen, was sie sollen, ihre Unterworfenheit beharrlich leugnend, befangen im Freiheitswahn.

Wer sich selbst erhalten kann, ist unbeherrschbar

«Bedürfnisse», hören wir auf das Wort. Im «Bedürfnis» steckt das «Dürfen». Wer bedürftig ist, wer Bedürfnisse geltend macht, hält sich an das, was man wollen darf. Und wollen dürfen wir nur noch, was die Konzerne, an Waren und Dienstleistungen im Angebot haben, wie verderblich und schädlich die Produkte auch immer sein mögen. Wer Bedürfnisse hat, ist vollständig erpressbar. Das Bedürfnis nach bezahlter Arbeit zum Beispiel hat eine Erpressungsmaschinerie größten Stils hervorgebracht. Keine Sorte «Wohlverhalten» und Unterwerfung, die nicht mit der Gewährung oder Vorenthaltung eines Arbeitsplatzes abgezwungen werden kann, bis hin zur «freiwilligen» Selbstgefährdung, Selbstausbeutung und Selbstschädigung. Wer sich hingegen selbst erhalten kann, wer sein täglich Brot erzeugen und sein leidliches Auskommen aus eigener Kraft in Gemeinschaft mit anderen und mit der Natur bewerkstelligen kann, der ist nicht beherrschbar, weil er nicht erpressbar ist.

Deswegen ist der Krieg gegen die Subsistenz der vorrangige Zweck aller Entwicklungspolitik, denn täuschen wir uns nicht: Entwicklungshilfe ist immer Selbsthilfe der Reichen. Subsistenzorientierte Gemeinschaften leben hauptsächlich von ihrer Eigenarbeit und der eigenen Herstellung von Gebrauchsgütern, nach Maßgabe der Gegebenheiten, in denen sie sich vorfinden, Gegebenheiten der Natur, der Region und der jahrhundertealten kulturellen Traditionen, die ihnen ihre Daseinsmächtigkeit sicherten. Entwicklungshilfe hatte es von Anfang an darauf abgesehen, diese traditionellen und bewährten Formen der Unterhaltswirtschaft durch geldabhängige Warenwirtschaft zu zerstören. Ivan Illich sagt dazu: «Eigenarbeit sagt ‹Danke,nein!› Sie blickt über die warenintensive Gesellschaft hinaus: nach vorn, nicht zurück. Entwicklung hieß seit einigen Jahrzehnten Ersatz von Unterhaltswirtschaft durch Ware. Eigenarbeit ist der Ersatz von Ware durch eigene Tätigkeit.»

Entwicklung diene in erster Linie der Herstellung einer Monokultur des Denkens, sagt Vandana Shiva, die unermüdlich für die Verfügung der Menschen über ihre Nahrungsgrundlagen kämpft: den Boden, das Wasser und das Saatgut. Monokulturen und Monopole, so Vandana Shiva, bedingen sich gegenseitig. Es sind mächtige Monopole, die dafür Sorge tragen, dass die Monokultur des Denkens weltbeherrschend wird. Es sind jene treibenden Kräfte, die den Fortschritt garantieren: die Naturwissenschaft, die Ökonomie, die Technik und die Bürokratie. In seinem Geltungsanspruch ist dieses Quartett so gebieterisch wie einst die apokalyptischen Reiter, die allerdings ganz andere Namen trugen und die mittelalterlichen Menschen in Angst und Schrecken versetzten: der Hunger, die Pestilenz, der Krieg und der allgewaltige Tod. Dieser Vergleich scheint unerhört und völlig entgleist, denn die modernen Mächte gelten als die tragenden Säulen der Menschheitszukunft und haben mit den fratzenhaften Schreckensgestalten, die wir auf alten Bildern verderbenbringend und verwüstend über den Erdkreis jagen sehen, offensichtlich nichts gemein.

Und tatsächlich muss man wohl zugestehen, dass ihnen an und für sich nichts Verderbliches anhaftet. Es ist im Gegenteil doch aller Mühen wert, die Natur zu erforschen, die Vorräte zu bewirtschaften, die Arbeit zu erleichtern und das Gemeinwesen zu ordnen. Und dennoch bilden die glorreichen Vier eine unheilige Allianz, die wie einst ihre archaischen Vorgänger einen großen Teil der heute lebenden Menschen mit Hunger, Krieg, Krankheit und Tod bedrohen. Ihre zerstörerischen Kräfte entfalten sie erst dadurch, dass sie in ihrem jeweiligen Geltungsbereich eine Monopolstellung behaupten. Die Naturwissenschaft beansprucht das Monopol der Weltdeutung, die Ökonomie das der Weltverteilung, die Technik das der Weltgestaltung und schließlich die Bürokratie das Monopol, die Welt zu regeln.

Zusammengeschlossen und miteinander vernetzt bilden sie eine Supermacht, die ihren Anspruch auf Weltherrschaft weitgehend durchgesetzt hat. Sie tendiert dazu, sich alles anzuverwandeln und alles in sich einzuschließen. Sie duldet keine anderen Götter neben sich.

Der dritte und letzte Teil des Vortrags erscheint in Ausgabe Nr. 413.